Bedoin, die 3000-Seelen-Gemeinde auf gerade mal 300 Metern über dem Meeresspiegel, ist der Kilometer Null auf dem Königsweg zum Gipfel des Mont Ventoux. Dem Kreisverkehr am Ortseingang folgt die kleine Hauptstrasse mit dem Wochenmarkt, der von den dicht stehenden, grau-beige gemaserten Platanen auch ohne Blätter fast erdrückt wird. Das „Café du Ventoux“ hat im November noch Dutzende Tische im Freien stehen. Kleine Gruppen von Gästen sitzen gut verhüllt und warten auf die Sonne.
Weisser Schotter
Die Zahl der Marktstände ist im Verhältnis zur Grösse des Ortes gigantisch. Traut und gemächlich geht es zu, alles wirkt ein wenig verschlafen, um nicht zu sagen leblos in dieser spätherbstlichen, provenzalischen Postkartenidylle am Fusse des Mont Ventoux - des windigen Bergs. Wobei die Bezeichnung Ventoux auch von den Kelten kommen könnte, deren heiliger Berg er war, Ven - Top, der weisse Berg, was mindestens ebenso zutreffend erscheint.
Denn die langgezogene Kuppe des „Riesen der Provence“ mit seinen 1912 Metern ist im Grunde eine enorme Schotterhalde, die unter der Sonne - ob im Winter oder im Sommer – weiss ins Land leuchtet.
Die Markstände in Bedoin quellen über, doch die Kunden sind rar. Entsprechend sind die Mienen der Marktleute eher finster. Das Durchschnittsalter der Kundschaft liegt deutlich über 60. Darunter zahlreiche Paare, bei denen der eine den anderen stützt und für die der Gang mit der Einkaufstasche zum kleinen, oft ebenfalls betagten Auto sehr weit erscheint.
Eldorado der Radsportler
Schon der Kreisverkehr am Ortseingang gibt den Ton an. Vor einer Hauswand, auf der noch eine verblasste, blaue Werbung aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts für einen Wermut mit dem legendären Slogan „ Dubo Dubon Dubonnet“ durchschimmert, steht eine ganze Reihe Hinweis- und Gedenktafeln.
Eine wendet sich an die „ amis cyclistes“, die Radsportfreunde, und signalisiert, dass ihnen am anderen Ortsende ein spezieller Parkplatz zur Verfügung steht.
Die andere Tafel zeigt einen stilisierten Mont Ventoux, auf den ein Radfahrer hochkraxelt zu der Ziffer 1912 m – darunter die Zahlen, Bedoin 309 Meter Meereshöhe, 22 km. 2,3 Prozent auf einen Kilometer. Jeder, der von hier mit dem Rad losfährt, weiss, was danach kommt – nämlich ganz andere Zahlen als die 2,3 Prozent für den ersten Kilometer.
An der fensterlosen Giebelwand ist dann noch eine reichlich skurrile Gedenktafel fixiert. In goldenen Lettern auf schwarzem Marmor steht geschrieben: „In Erinnerung an den vermissten Radchampion Tom Simpson unter der Oberhoheit der Krankenzusatzversicherung der Marseiller Sportpresse. Eine Gruppe französischer Sportsleute.“
Um diesen Text ist sicher im Hinterzimmer eines Bistrots lange gerungen worden, so lange, bis am Ende niemand mehr fähig war, an der Endfassung etwas auszusetzen zu haben.
Verborgene Strapaze
Eben hier in Bedoin soll sich Tom Simpson damals, an einem heissen Julitag 1967, mindestens einen Cognac genehmigt haben, nebst ein paar Pillen – knapp 17 Kilometer weiter und 1400 Meter höher, nicht mal vier Kilometer vor dem Gipfel, schwankte er, fuhr Serpentinen, stürzte ein erstes Mal, wurde wieder aufs Rad gesetzt, um ein paar Meter weiter endgültig in den steinigen Strassengraben zu kippen. Wenige Minuten später war er tot.
Um die Ecke am selben Haus hängt eine andere Gedenktafel über der Tür für denjenigen, der 1949 das Amateurradrennen auf den Ventoux ins Leben gerufen hat. Auf der anderen Strassenseite ist eine zu dieser Jahreszeit geschlossene riesige Halle, die an den Bau einer landwirtschaftlichen Genossenschaft erinnert, aber offensichtlich einen Mega-Fahrradverleih beherbergt. Überhaupt ist Bedoin ein Ort mit mehr Fahrradgeschäften als Bäckereien.
Zur Gemeinde gehört der gesamte Wald, der sich über rund 1000 Höhenmeter auf der südlichen Schokoladenseite des Ventoux den Hang hinaufzieht, mit einer Fauna, so heisst es, in der sich Arten wiederfinden, die vom Mittelmeer bis nach Lappland reichen. Doch es ist ein höllischer Wald, denn er täuscht. Er wirkt lieblich und verspricht in der heissen Sommerzeit Erfrischung. Dabei verbirgt er die schlimmsten und gemeinsten Passagen für jährlich Zehntausende Freizeitradler auf dem 22 Kilometer langen Anstieg – 10 bis 10,5 Prozent sind es hier über mehrere Kilometer.
Trügerisch ist auch der Blick hinauf zum Ventoux. Wer sich vorher nicht wirklich vergegenwärtigt, dass zwischen dem Ort Bedoin und dem Gipfel des Ventoux ein Höhenunterschied von 1600 Metern besteht und nur seinem Blick vertraut, wird seine Überraschung erleben – so täuschend nahe scheint die Kuppe des kahlen Bergs.
Malaucene
Malaucene, das andere Städtchen am Fuss des Ventoux, ist in Radfahrerkreisen nur 2. Wahl. Die Strasse von hier hinauf ist kaum weniger steil, doch der Asphalt in besserem Zustand, sagen die Experten. Allerdings verläuft sie auf der Nordseite und bietet nicht den unvergleichlich majestätischen 180 Grad-Blick, den man von der Südseite hat: hinauf Richtung Lyon, hinüber zur Rhone, hinunter zum Mittelmeer bis Aigues Mortes, manchmal gar bis zu den Pyrenäen und hinein in die Südalpen.
Ein geschlossenes Restaurant in Malaucene mit dem wortspielerischen Namen „Mon Ventoux“ bietet ein Radfahrermenu für 12 Euro mit Nudeln als Hauptgang – die Menütafel ist geziert von einem Schwarz-Weiss-Photo eines völlig ausgelaugten, durchnässten und verzweifelt kämpfenden Eddy Merckx. „Die Leiden am Ventoux“ würde als Restaurantname besser zum Photo passen.
Die vier Restaurants, die nicht geschlossen haben, sind am langgezogenen Hauptplatz wie an der Schnur aufgereiht und bieten Menüs, die sich in kaum etwas voneinander unterscheiden – auch nicht im Preis. Man fürchtet Schlimmes und so ist es dann auch: beliebig, uninteressant, tiefgekühlt, derselbe Klacks von provenzalischem Gemüse aus der Dose zu jedem Gericht, egal welches Fleisch oder welcher Fisch.
Abschreckende Gastronomie
Wie kann es sein, dass an einem weithin bekannten, geradezu mythischen Ort der Provence keines dieser 4 Restaurants auch nur ein einziges originelles Gericht zu bieten hat, etwas Anständiges, Aufrichtiges und Echtes kocht, das etwas mit der Jahreszeit oder mit der Region zu tun hätte? Das ewige Krisengejammere der französischen Restaurateursgattung geht einem plötzlich auf die Nerven. Wenn in einem renommierten, malerischen Städtchen wie Malaucene gleich vier Restaurants auf einmal einen derartigen Einheitsbrei bieten, braucht sich niemand zu wundern, wenn am Ende immer weniger Leute Lust haben, Geld auszugeben dafür, dass einen der Magen drei Stunden später noch an die schlechten Pommes-Frites erinnert oder an die latschige Zucchini-Vorspeise. Unschlüssig steht immer wieder eines der wenigen, verlorenen Touristenpaare, die im Städtchen sind, vor den Menütafeln und geht zwangsläufig in die Falle.
Im alten Stadtkern, in dem Dutzende Häuser zum Verkauf stehen, hat man die kleine Kapelle des Heiligen Alexis aus dem 16. Jahrhundert einem zeitgenössischen Maler überlassen. Michael Bastrow – ein in Australien aufgewachsener, heute 70jähriger Brite, mittlerweile im Süden Frankreichs arbeitend, hat Innenwände und Decke mit Fresken zum Ruhm des Weiblichen und der Fruchtbarkeit bedeckt – zeitgenössische Aktmalerei, die ein wenig an Klimt erinnert, an einem sakralen Ort.
Petrarca
Von Malaucene aus ist Francesco Petrarca, der damals in Avignon lebte, an einem Apriltag im Jahr 1336 auf den Ventoux gestiegen und tat damit etwas, was zu seiner Zeit niemand tat, nämlich freiwillig, sozusagen zum Vergnügen, eine körperliche Anstrengung zu machen, sich zu mühen und zu verausgaben, ohne dass diese Anstrengung einen direkten und praktischen Nutzen hätte. In einem Brief an seinen väterlichen Freund Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro schreibt er: „Den höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen. Jener Berg, weit und breit sichtbar, stund mir fast allzeit vor Augen, allmählich ward mein Verlangen ungestüm und ich schritt zur Ausführung. Zuerst vom ungewohntem Zug der Luft und dem freien Schauspiel ergriffen, stand ich wie ein Staunender. Ich schau zurück: Da lagerten die Wolken zu meinen Füssen. Schon erschien mir minder fabelhaft der Athos und Olympus. Wie ich nun dies im Einzelnen bewunderte und bald mich nach irdischen Dingen erkundigte, bald nach Vorbild des Leibes auch den Geist in höhere Sphären versetzen wollte, kam mir zu Sinn, das Buch der Bekenntnisse des Augustinus aufzuschlagen, um zu lesen, was mir entgegentreten würde."
1600 Meter ist er mit seinem Bruder in einem Tag angeblich hinauf- und wieder hinuntergestiegen und am Gipfel hatte er nichts Besseres zu tun, als Augustinus zu lesen, von dem allerdings der Satz stammt, der für Petrarca vielleicht das Motiv für seine Ersteigung des Ventoux war: „Hebt Eure Augen auf zu den Bergen, von denen Euch Hilfe kommt." Wie auch immer – die Nachwelt hat Petrarca auf Grund seiner Beschreibung der Ersteigung des Ventoux zum Pionier des Alpinismus gemacht. Manche sahen in dieser Besteigung gar ein Schlüsselmoment auf der Schwelle vom Mittelalter in die Neuzeit.
Trüffel - auf Leben und Tod
Unten am Mont Ventoux gedeihen an einzelnen Stellen die begehrten Trüffel – auch wenn die berühmtesten Orte der umworbenen, schwarzen Knolle – Grignan, Richerenches – 30 Kilometer weiter nördlich liegen. Manche kleine Parzelle eines Eichenhains am Ventoux – so erzählt ein von Wetter gegerbter, fast 80-Jähriger aus der Umgebung von Grignan – dient als legaler Deckmantel für das organisierte Verbrechen rund um die kostbare Trüffel.
Denn in diesen Novembertagen beginnt wieder die Zeit, da in den Trüffelregionen eine Art Belagerungs- und Kriegszustand herrscht, die Luft zwischen den Menschen aufgeladen ist und knistert, jeder jedem misstraut, die kleinen Strassen und Wege der Region nachts von vierradgetriebenen Geländewagen bevölkert, die Nächte der Trüffelbauern unruhig und oft kurz sind und so mancher von ihnen nicht mehr weiss, wie er mit seiner Wut umgehen soll.
Der 80-Jährige, der sonst die Güte und Freundlichkeit selbst ist, scheint, als er zu erzählen beginnt, plötzlich wie verändert, ballt beide Fäuste in den weiten Taschen seiner Parka und rüttelt heftig mit ihnen. Was ihn sprichwörtlich zum Beben bringt, ist die Tatsache, dass der nächtliche Trüffel-Diebstahl in den sorgsam gepflegten Eichenhainen Jahr für Jahr schlimmer wird. Es ist nicht mehr nur eine Plage, sondern eine Katastrophe, und ein ganzer Landstrich ist verbittert, schreit nach Selbstjustiz, ja praktiziert sie sogar.
Wildwest und Goldgräberei
„Vor zwei Jahren hat es hier kurz vor Weihnachten einen Toten gegeben, und es wird noch weitere Tote geben“, presst der alte Mann zwischen den Zähnen hervor. Ein 40-jähriger Familienvater, dem zum x-ten Mal eines seiner Terrains geplündert worden war, hatte eines Nachts sein Gewehr geholt und sich auf die Lauer gelegt – und am Ende einen anderen Familienvater aus der Stadt erschossen.
„Der Arme wohnt 150 Meter von mir entfernt“, sagt der 80 Jährige, “er ist jetzt unter Auflagen auf freiem Fuss, der Prozess hat immer noch nicht stattgefunden.“ Nachdem die Tragödie passiert war, hatte es damals zwei Schweigemärsche gegeben - einen für das Opfer, einen anderen aus Solidarität mit dem Täter. Beim zweiten waren deutlich mehr Menschen zugegen.
„Es sind organisierte Banden“, zetert der Betagte, der Mitte November seine ersten Trüffel für 300 Euro das Kilo verkauft. In der Hochsaison, vor Weihnachten und Neujahr, kosten sie das Vierfache. „Von diesen Banden braucht nur eines der Mitglieder da unten am Ventoux ein Stück Trüffelhain pachten, das reicht aus, um die gestohlenen Trüffel dann auch noch öffentlich verkaufen zu können, ohne dass er Probleme bekommt.“
Dass dies möglich ist - und das sagt der freundliche alte Herr allerdings nicht – liegt daran, dass die Produktion und der schwungvolle Handel mit den wertvollen Trüffeln bis heute eine absolut undurchsichtige Sache geblieben ist, Buchhaltung, Abgaben oder Steuern – Fehlanzeige. Und bezahlt wird bis heute, auch bei Kilopreisen von 1200 Euro, ausschliesslich mit Bündeln von Euroscheinen.
Die „Tuber Melanosporum“ jedenfalls, dieser wenige Zentimeter unter der Erde, im Umfeld von Eichen wachsende Pilz, auf den die Schweine wie versessen sind und der gleichzeitig von der Sterneköchen hofiert wird, sorgt in der trauten provenzalischen Landschaft zur Jahreswende mittlerweile für eine Atmosphäre, die an Wildwest und Goldgräberei erinnert.