Woche für Woche wird es schwieriger, Frankreich wieder zu erkennen. Man reibt sich die Augen und will es nicht so recht wahrhaben, dass das Land so verängstigt, verbiestert und verunsichert geworden ist. Der Hauch von Freiheit, Frechheit, Offenheit und selbstverständlicher Solidarität, der noch in den 70-er und 80-er Jahren durch dieses Land wehte, ist wohl endgültig und für geraume Zeit Schnee von gestern.
Und es ist als habe die allgemeine Verunsicherung, die in Frankreich heute herrscht und die sich zudem noch in einem in Europa einzigartigen Pessimismus niederschlägt, inzwischen auch das gesellschaftlich- politische Gefüge gründlich durcheinander gebracht.
«Mutterland der Menschenrechte»
Wer es heute noch wagt, z.B. an die traditionellen Werte des Mutterlandes der Revolution und der Menschenrechte zu erinnern, erntet nur noch ein müdes Lächeln. Gebraucht ein Politiker diesen Begriff «Mutterland der Menschenrechte», weiss jeder sofort, es ist nicht mehr als eine Worthülse. Die Krise sitzt tief, und die Werte sind den meisten wurscht. Und die Krise ist bei weitem nicht nur ökonomischer Natur, sondern hat sich auch zu einer moralischen, zu einer Vertrauenskrise ausgeweitet.
Hilfsorganisationen, Menschenrechtsverbände, einige davon seit über 100 Jahren fester Bestandteil der politischen Landschaft Frankreichs, finden immer weniger Gehör und haben immer weniger Gewicht - so als wären all die Probleme, deren sie sich annehmen, und die Werte, für die sie kämpfen, in Krisenzeiten nur noch der pure Luxus und nicht sonderlich ernst zu nehmen.
Sich einigeln, Barrieren bauen, das Fremde fernhalten, scheint die Devise im Jahr 2013 zu sein. Von wegen «den französischen Traum neu beleben» - Worte, die eben nicht mehr waren als eine schöne Wahlkampfparole, mit der François Hollande den Bürgern ein wenig Hoffnung einimpfen wollte und die so wenig konkret waren, wie einst De Gaulles berühmter Satz, wonach er «eine gewisse Idee von Frankreich» habe. 18 Monate später sitzt Hollande im Elyséepalast und schweigt, wirkt, als hätte er angesichts der Krise seinen Landsleuten absolut nichts mehr zu sagen, und vermittelt zunehmend den Eindruck, dass an der Spitze des französischen Staates ein gutes Mass an Orientierungslosigkeit herrscht.
Präsident hat den Franzosen nichts zu sagen
François Hollande kann ja schliesslich nicht zum zehnten Mal wiederholen, dass das Wachstum schon kommen und die Arbeitslosigkeit wieder sinken wird, und bedauern, dass ausgerechnet er jetzt den schmutzigen Job machen und versuchen muss, die Staatsschulden abzubauen und Sparhaushalte zu verordnen.
Für die, die ihn gewählt haben, auch wenn sie sich von Anfang an keine grosse Illusionen gemacht haben, greift das ein wenig zu kurz und für einen Traum oder das Erträumte während der Zeit, da ein sozialistischer Präsidenten an der Macht ist, reicht das allein schon gar nicht. Mit Ausnahme der Homo-Ehe hat Frankreichs neue Regierung seit eineinhalb Jahren keine einzige gesellschaftliche Reform in Angriff genommen – etwa das seit nun 32 Jahren versprochene und von Hollande erneut in Aussicht gestellte kommunale Wahlrecht für Nicht-Europäer, die seit mehr als 5 Jahren im Land leben.
Nationale Front im Hinterkopf
Doch leider ist es so, ist das Klima im Land derartig angespannt, dass François Hollande ein solches Projekt derzeit tatsächlich nicht angehen kann – es wäre, wenn er es täte, politischer Selbstmord - ob das seinen linken Wählern gefällt oder nicht.
Denn de facto sitzt der französische Präsident zur Zeit in seinem Elyséepalast und zittert vor … dem Front National. Alle Indizien aus dem tiefen, verzweifelten, langsam verarmenden und perspektivlosen Frankreich, wo es im Gebälk kracht, es unter den gering Verdienenden rumort und an den Stammtischen gärt, sagen dem Präsidenten, dass die Kommunalwahlen im März und vor allem die Europawahlen im Mai 2014 für Frankreichs Rechtsextreme ein Triumph werden könnten. Die Möglichkeit, dass Marine Le Pens Partei bei den Europawahlen – wo die französischen Wähler, zumindest die knapp 50 Prozent, die hingehen, gerne ihren Frust ablassen - die Nase erstmals vorne haben könnte, ist nicht auszuschliessen. Es wäre ein gewaltiges Symbol: die Nationale Front – erste Partei Frankreichs! Immerhin sah eine Umfrage letzte Woche – was immer sie auch wert ist - die Sozialisten bei 19 Prozent, die konservative UMP bei 21 und die rechtsextreme Nationale Front bei 24 Prozent!
Verzweiflung der Armen
Währenddessen häufen sich im ganzen Land die Verzweiflungstaten. Ein mit seinem behinderten Sohn allein lebender Vater, der in Paris seit fast zwei Jahrzehnten auf eine Sozialwohnung wartet, bewaffnet sich und nimmt in einer Bank mehrere Stunden lang vier Geiseln, um auf seine Lage aufmerksam zu machen. Entlassene Arbeiter einer Kartonfabrik in Nordfrankreich besetzen seit Wochen ihre Fabrik und niemand schenkt ihnen Gehör. Jetzt haben sie Dutzende zündfähige Gasflaschen am Fabrikgebäude angebracht, dabei fordern sie eigentlich nur, dass die Geschäftsführung endlich mal mit ihnen über die Entlassungsprämien diskutiert. Zwei von ihnen sind im Hungerstreik, einer davon hat zehn Kinder und erklärt, er sei bereit zu sterben.
Der Fall Leonarda
Wie anfällig, orientierungslos und de facto gespalten die sozialistische Regierung und ihr Präsident in Frankreich derzeit sind, verdeutlicht die Episode um Leonarda - ein 15-jähriges Roma-Mädchen, von der letzte Woche bekannt geworden war, dass man sie am 9. Oktober im ostfranzösischen Pontarlier auf einem Schulausflug abgefangen und mit ihrer Mutter und 5 Geschwistern in den Kosovo abgeschoben hatte, der Vater war schon am Tag davor ausgewiesen worden. Innerhalb von 5 Tagen entspannte sich rund um diese Abschiebung eine an Hysterie kaum zu überbietende Debatte, in die sich am Ende auch noch einige Tausend demonstrierende Schüler einschalteten, die lautstark die Rückkehr des Mädchens forderten, das seit 4 ½ Jahren in Frankreich gelebt und die Schule besucht hatte.
Der Innenminister, der Hardliner der Regierung, Manuel Valls, geriet nach dieser Ausweisung auch in den eigenen Reihen unter Beschuss, musste sogar eine Reise auf den französischen Antillen vorzeitig abbrechen, die Schüler auf der Strasse und die Linkspartei forderten seinen Rücktritt, sein Kabinettskollege, der Erziehungsminister kritisierte das Vorgehen der Polizei und verlangte, die Schule müsse ein unantastbarer Raum bleiben, der Generalsekretär der Sozialisten und die stellvertretende sozialistische Bürgermeisterin von Paris machten sich für die Rückkehr der Familie stark und der Parlamentspräsident twitterte, die Sozialisten dürften ihre Seele nicht verkaufen.
Abschiebungen haben ein Gesicht
Über Nacht war eine ganz alltägliche Abschiebung, von denen es in Frankreich jährlich über 30‘000 gibt, zu einer Staatsaffäre geworden - weil ein Roma-Mädchen, das seit vier Jahren eingeschult war, von der Polizei in ihrem schulischen Umfeld abgefangen worden war und dies ausgerechnet wenige Wochen, nachdem Innenminister Valls mit seiner Äusserung für Empörung gesorgt hatte, wonach die Mehrheit der in Frankreich lebenden Roma nicht Willens wären, sich in die Gesellschaft zu integrieren.
Das abertausendfach gelebte Drama der Abschiebungen hatte mit Leonarda plötzlich ein Gesicht bekommen – die drei konkurrierenden französischen Informationssender, die im Handumdrehen Teams und Übertragungswagen ins kosovarische Mitrovica entsandt haben, hatten daran keinen geringen Anteil – Leonarda und ihr Vater standen fast permanent vor den Kameras und Mikrophonen, ein Stück Reality-TV wurde gegeben, die Emotionen schwappten hoch, und Regierung wie Staatschef sassen plötzlich in der Zwickmühle.
Die andere Seite
Daran änderte dann auch die Tatsache nichts mehr, dass ein Untersuchungsbericht der Behörden, der am Samstag vorgelegt wurde, über Leonarda und ihre Familie bei weitem nicht nur Positives zu Tage förderte. Die Familie war nach wiederholter Ablehnung des Asylantrags und Ausschöpfung aller Rechtsmittel nach 4 ½ Jahren am 9. Oktober abgeschoben worden. Zuvor hatte der Vater von Anfang an, beim Stellen des Asylantrags, die Behörden belogen und erklärt, seine ganze Familie stamme aus dem Kosovo. De facto hat nur er als kleiner Junge einige Jahre dort gelebt, seine Frau in Italien kennen gelernt, wo auch die Kinder der Familie geboren wurden.
Die Folge davon: Ausser ihm spricht niemand in der Familie Albanisch, um sich an ihrem Abschiebeort in Mitrovica verständigen zu können. Der Vater hatte ausserdem einen gefälschten Trauschein vorgelegt, hatte den Asylbehörden gedroht, er werde Gasflaschen zur Explosion bringen, sollte seinem Antrag nicht stattgegeben werden, und war wegen eines Einbruchs und Gewalttätigkeiten gegenüber zweien seiner Töchter in Polizeigewahrsam gewesen. Dieser Mann steht nun radebrechend vor den Kameras der französischen Fernsehsender im Kosovo und erklärt, wenn man ihn und seine Familie nicht freiwillig nach Frankreich zurücklasse, werde er es mit Gewalt versuchen. Die 15-jährige Leonarda schliesslich war zwar eingeschult, hatte aber allein in diesem Schuljahr schon an 66 Halbtagen gefehlt, war also de facto so gut wie nie in der Schule gewesen, was das Image der perfekt integrierten, guten Schülerin, das man ihr verpasst hatte, doch ein wenig ankratzte. Jetzt spricht sie in Mitrovica in Kameras und Mikrophone und sagt, wenn man sie nicht nach Frankreich zurücklasse, sei das Rassismus.
Angesichts dessen lassen inzwischen sogar Hilfsorganisationen in Ostfrankreich, die mit dem Fall befasst waren, durchblicken, es handle sich nicht gerade um die idealste Familie, um gegen die Asyl- und Abschiebepolitik der Regierung zu protestieren. Und ohnehin halten sich – nüchtern betrachtet - bei den Franzosen die Empörung über den Fall Leonarda und die heftigen Proteste, von denen jetzt in in- und ausländischen Medien seit Tagen die Rede ist, ziemlich in Grenzen: 75 Prozent der Franzosen stehen hinter dem Innenminister, halten die Abschiebung für gerechtfertigt und sind gegen eine Rückkehr der Familie nach Frankreich.
Das Desaster
Spätestens seit Samstagnachmittag ist der Fall Leonarda für Frankreichs Präsidenten und seine Regierung aber endgültig zum Desaster geworden. François Hollande meinte offensichtlich, zur Überraschung vieler, die Angelegenheit zur Chefsache machen zu müssen, stellte sich wie bei wichtigen Anlässen, etwa bei Kriegseinsätzen, eingerahmt von der Tricolore und der Europafahne staatstragend vor die Kameras im Elyséepalast und verlas eine Erklärung. Darin tat er etwas, das er fast immer tut und das ihm zunehmend als Schwäche ausgelegt wird: Er versuchte es jedem recht zu machen und wieder mal einen absolut unwahrscheinlichen Kompromiss zu finden. Die Abschiebung, so der Präsident, war rechtmässig, auch wenn es die Polizei an Augenmass und Fingerspitzengefühl habe fehlen lassen. Angesichts der Besonderheit des Falls und aus humanitären Gründen könne Leonarda jedoch ihre Schulausbildung in Frankreich beenden, allerdings alleine, ohne ihre Familie.
Es hagelt Proteste
Wie kaum anders zu erwarten, hagelte es dafür fast ausschliesslich Kritik, ja der Präsident muss sich sagen lassen, dass er mit diesem Kompromissvorschlag nur eine zweite Welle von Debatten und Protesten im Fall Leonarda ausgelöst hat. Unmenschlich, ja infam sei das, hiess es aus den eigenen Reihen, das 15-jährigte Mädchen zwischen Frankreich und ihrer Familie wählen zu lassen, ein Schlag gegen die Autorität des Staates, kritisierte die Opposition, ganz abgesehen davon, dass dieser Vorschlag auch mit internationalen Bestimmungen zum Schutz der Kinder nicht vereinbar ist.
Profitabel für die Nationale Front
Angesichts der düsteren Grundstimmung im Land konnte Präsident Hollande Innenminister Valls, den beliebtesten Politiker im Land überhaupt, keinesfalls desavouieren und der gesamten Familie die Rückkehr zugestehen. Und er kann es sich, nach diesem verunglückten Fernsehauftritt vom Samstag, auch keinesfalls weiter leisten, sich und damit den französischen Staat via Medien aus Mitrovica provozieren, ja beschimpfen zu lassen. Der Vater von Leonarda hatte nach Hollandes Statement etwa gefragt, ob denn der Herr Präsident plötzlich die Vaterschaft für seine Tochter übernehmen wolle.
Denn jeder in der Regierung, im Präsidentenpalast und weit darüber hinaus spürt, ja weiss: diese Episode der letzten Woche um den Fall Leonarda und das medienträchtige, empörte Geschrei von einigen Sozialisten, der Linkspartei und von Menschenrechtsorganisationen und der von der Linkspartei manipulierten Schülern, hat der Nationalen Front schon wieder einen ordentlichen Packen Stimmen gebracht für die anstehenden Wahlen. Das mag trist sein und schockierend, doch so ist es, leider, in Frankreich, im Herbst 2013.