Gewiss , dieser 11. Januar , dieser Sonntag nach den Attentaten, bei denen 17 Menschen ihr Leben verloren hatten, war umwerfend, atemberaubend, historisch. Frankreich war aufgestanden, hatte sich erhoben gegen Terror und religiösen Fanatismus , für Meinungsfreiheit, die Republik und letztlich für die Demokratie. Was bisher so selbstverständlich schien, galt es plötzlich zu verteidigen. Es war, als hätten die Kalaschnikows der drei Terroristen über Nacht ein Volk wach gerüttelt. Seit der Befreiung von den Nationalsozialisten Ende August 1944 hatte Paris keine derartige Menschenmenge mehr in seinen Strassen gesehen .
So etwas wie nationale Einheit
Die überraschend zahlreichen französischen Fahnen, die von Herr und Frau Jedermann geschwenkt wurden, hatten an diesem Tag nichts Nationalistisches, die, die sie trugen , wurden selbst von Altlinken nicht schief angesehen, und ihre Trikoloren wehten neben marokkanischen, türkischen oder algerischen Fahnen. Es herrschte in der Tat so etwas wie nationale Einheit. Man weiss von über 60-jährigen Franzosen, die an diesem Tag in ihrem Leben überhaupt zum ersten Mal demonstriert haben, man sah, was man in den letzten Jahrzehnten mit Sicherheit nie gesehen hatte: Demonstranten spendeten den Polizisten Applaus und man hörte von Freunden im Ausland, dass ihnen beim Anblick der Fernsehbilder von dieser ungeheuren Menschenmenge in den Strassen von Paris die Tränen gekommen sind.
Ein Teil der Franzosen blieb zu Hause
Aber als die Euphorie über das spontane und überzeugende Aufbäumen des Landes sich nach ein paar Tagen etwas gelegt hatte, drangen nach und nach immer mehr besonnene Stimmen an die Öffentlichkeit, die hervorhoben, was sie bei den immensen Demonstrationen im ganzen Land an jenem Sonntag eben auch wahrgenommen hatten: die Franzosen nord- und schwarzafrikanischer Provenienz waren an diesem historischen Tag ganz überwiegend zu Hause geblieben und eben nicht auf die Strasse gegangen!
Diese historische Demonstration war ihre Sache nicht und dieser 11. Januar kein Tag für die Bewohner der Vorstadtghettos und kein Anlass, den Gürtel um Paris herum zu überqueren und ins Zentrum der Stadt zu kommen. Und an diesen Feststellungen gibt es leider nichts zu beschönigen.
«Ich bin nicht Charlie»
Vielmehr melden sich seit dem 11. Januar aus Frankreichs Bannmeilen immer mehr Stimmen immer lauter zu Wort, die da sagen: «Ich bin nicht Charlie»!
Nach dem Tag der Staatstrauer am 8. Januar hatte man offiziell nur knapp 200 Vorfälle registriert, bei denen sich Schüler hier und dort geweigert hatten , an der Schweigeminute für die Terroropfer teilzunehmen. Mittlerweile ist klar, dass es sicherlich tausende Vorkommnisse dieser Art gab, über die erst nach und nach gesprochen wird. Selbst aus Schulen in sozial gemischten, eher bürgerlichen Vororten war zu hören, dass zum Teil die Hälfte einer Klasse von 15-Jährigen sich nicht als Charlie fühlen wollte und dies auch deutlich bekundete.
Und gebetsmühlenhaft wiederholten dort und anderswo die jungen Franzosen nord- und schwarzafrikanischer Abstammung, was bis heute offensichtlich in ihrer Umgebung und zu Hause das geflügelte Wort ist: «Wir fühlen uns verletzt». Verletzt, getroffen, schockiert, selbst von der Titelseite der 7- Millionenausgabe von «Charlie Hebdo» nach dem Massaker, mit dem weinenden Propheten, der ein Schild in der Hand hält mit den Worten: «Ich bin Charlie», das Ganze unter der Überschrift: «Alles ist verziehen».
Hunderttausende, ja Millionen Franzosen argumentieren letztlich nach dem Strickmuster: die Freigeister von Charlie Hebdo hätten nicht tun sollen, was sie getan haben, ja sie durften es ja eigentlich nicht, weil sie gegen „unsere Gesetze“ verstossen. Natürlich ist es nicht in Ordnung, sagen sie, dass man Charb, Cabu, Tignous und die anderen so hingemetzelt hat, aber irgendwo sind sie letztlich doch selbst daran Schuld.
Die Schule soll‘s richten
Nun, da Frankreich - nach Mohamed Merah in Toulouse vor fast drei Jahren - erneut feststellen musste, dass die drei Attentäter von Paris im eigenen Land herangezogen wurden, Kinder Frankreichs sind, in die ständig beschworene «Schule der Republik“ gegangen und trotzdem radikalislamistische Terroristen geworden waren, ist das Wehklagen gross. Allüberall werden Fragen gestellt, wie es dazu kommen konnte, was man falsch gemacht und versäumt hat - so als wäre die Herausbildung einer Parallelgesellschaft in Frankreichs Vorstädten etwas ganz Neues.
Premierminister Valls, der selbst immerhin länger als 10 Jahre Bürgermeister einer Problemvorstadt im Süden von Paris war, sprach nun sogar von Apartheid, um die Situation der französischen Bannmeilen möglichst drastisch zu beschreiben. Er erntete für dieses Wort laute Proteste - doch bereits vor 16 Jahren hatte kein geringerer als der damalige sozialistische Innenminister Chevènement eben dieses Wort Apartheid in den Mund genommen, um vor einer gefährlichen Entwicklung in Frankreichs Vorstädten zu warnen - dabei spielte das religiöse Element damals bei den sich abzeichnenden Spannungen noch eine absolut untergeordnete Rolle. Die Zeiten sind vorbei.
Jetzt, nach dem Schock, wirkt es so, als verlange man in erster Linie von der Schule, dass sie die Probleme einer weiteren Generation der Nachfahren von Einwanderern in den Vorstadtghettos löst und die Jugendlichen dort auf den Weg zur Republik zurückführt. Doch das völlig herunter gewirtschaftete, grenzenlos unbewegliche französische Schulwesen, das seit Jahren nur noch flickschustert und letztlich für Ungleichheit sorgt, wie kaum ein anderes in Europa , wird das nicht leisten können.
Und die Eltern?
Gleichzeitig wird man aber auch nicht weiter so tun können, als hätten die Eltern überhaupt keine Verantwortung mehr für die Entwicklung ihrer Kinder. Kinder, die ab dem Alter von 10 sich selbst überlassen sind, die Abende alleine auf der Strasse verbringen, Eltern, die bei Schul- oder Disziplinarproblemen ihrer Kinder so gut wie nie erscheinen, wenn der Klassenlehrer oder der Schuldirektor sie zum Gespräch bittet – das ist Alltag in Frankreichs Problemvierteln.
Man erinnert sich an einen Vater aus Mali, der zwei Frauen und zehn Kinder hatte und in den 90-er Jahren auf 45 Quadratmetern in der Pariser "Goutte d'Or" lebte. Auch er ging nie zu einem Lehrer und wagte damals, als sich ein wohlwollender Nachbar um die Schulprobleme seiner Kinder kümmerte, zu sagen, es sei nicht so wichtig, dass sein 8 jähriger Sohn gut französisch lerne. Niemand hat damals gewagt, diesem Mann zu erwidern, dass er wohl ein Idiot ist und völlig unverantwortlich handelt.
Antisemitismus der Vorstädte
Man wird in Frankreich nun, nach diesen Attentaten, vielleicht auch gewisse Dinge und Gegebenheiten besser beim Namen nennen, selbst wenn sie politisch unkorrekt klingen. Es wird nach diesen Tagen im Januar 2015 z.B. niemand mehr abstreiten können, dass es in Frankreich einen neuen Antisemitismus gibt, den Antisemitismus der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Vorstädte. Ein Antisemitismus, der seit über einem Jahrzehnt gefördert wird durch Salafisten und andere radikale Prediger in dubiosen Gebetsräumen der Vorstädte, gefördert auch durch den Palästinakonflikt, das Unwissen und die soziale Misere in den Bannmeilen.
Seit über zehn Jahren schon klagten Stimmen aus der jüdischen Gemeinde Frankreichs über diese Entwicklung – offiziell eingestehen wollte man sich das in diesem Land bis vor kurzem aber noch nicht. Die Situation wurde schön geredet, selbst wenn zum Beispiel Lehrer in den Vorstädten schon seit Jahren klagten, es sei ihnen praktisch unmöglich, im Geschichtsunterricht die Shoah zu behandeln. Jetzt defilieren plötzlich schwer bewaffnete Soldaten sogar im Inneren von jüdischen Schulen.
Kein Aufschrei der Muslime
Noch überwiegen in den französischen Medien und im linken Parteienspektrum die Stimmen der Wohlgesonnenen, die sagen, man könne von Frankreichs Muslimen nicht erwarten, dass sie sich sozusagen für die Greueltaten einiger Radikalislamisten entschuldigen und sich von diesen Terroristen öffentlich distanzieren.
Aber ist es, zumal in einer so dramatischen Situation wie nach den Attentaten vom 7., 8. und 9. Januar, nicht allzu verständlich, wenn Frankreich und seine überwiegend agnostischen, aber auch katholischen, protestantischen, hinduistischen und buddhistischen Bürger jetzt sehen möchten, dass ihre Mitbürger muslimischen Glaubens massenhaft und klar zum Ausdruck bringen: ich bin in erster Linie Franzose, Teil und Bürger dieser Republik, bekenne mich zu deren Werten und Grundsätzen und bin erst in zweiter Linie Muslim, verurteile als solcher und als französischer Bürger diese paar tausend Muslime in unserem Land, die zu radikalen Islamisten geworden sind, Hass und Gewalt predigen und sich ganz offen und klar zum Ziel gesetzt haben, diese in Jahrhunderten gewachsene Republik , deren Teil ich selbst bin, zu zerstören?
Das aber hat die ganz überwiegende Mehrheit der Franzosen muslimischen Glaubens bisher nicht getan! Es wäre befreiend gewesen in dieser angespannten Situation nach den Attentaten und hätte dem Zusammenleben in der Republik gut getan. Allzu viele in Frankreichs Vorstädten fühlen sich offensichtlich nicht wirklich zugehörig zu dieser Republik.
48,5 Prozent für die Kandidatin des Front National
Am Sonntag hat in einem ostfranzösischen Wahlkreis im Departement Doubs, eine Nachwahl für einen Sitz in der Pariser Nationalversammlung stattgefunden. Im traditionell linken, ländlich-proletarischen Wahlkreis des früheren Wirtschaftsministers und heutigen EU- Kommissars, Pierre Moscovici. Rund ein Drittel der Wähler hängt dort von der Automobilindustrie, von Peugeot und den Zulieferern ab. In der Stichwahl konnte der sozialistische Kandidat nur hauchdünn mit 51,5 Prozent gewinnen. Die Kandidatin der rechtsextremen Nationalen Front scheiterte mit 48,5 Prozent nur denkbar knapp. Zwischen dem ersten Durchgang und der Stichwahl hatte sie sogar 16 Prozent zugelegt, was bedeutet, dass die konservativen Wähler der UMP, deren Kandidat nach dem ersten Durchgang ausgeschieden war, in der Stichwahl zu einem Gutteil für die Extreme Rechte gestimmt haben und damit erneut bestätigten, was sich seit einigen Jahren abzeichnet: die Durchlässigkeit zwischen den Wählerschaften der UMP und des FN wird immer grösser.
Die Kandidatin der Nationalen Front hatte zudem eigentlich keinen Wahlkampf gemacht, keine einzige Veranstaltung abgehalten und sich im Wahlkreis kaum sehen lassen, es sei denn, um ab und an einige Stunden lang Wurfzettel in Briefkästen zu stecken.
Aber sie hat gewarnt vor der Islamisierung Frankreichs. Das allein reichte für 48,5 Prozent!
Nur den Teufel an die Wand malen hilft nicht
Wäre es nicht angesichts des jetzt seit Jahren hilflos verteufelten, aber bislang unaufhaltbaren Stimmengewinns der extremen Rechten im Land auch an der Zeit zu fragen, was die muslimischen Bürger Frankreichs dagegen zu tun gedenken?
Nur hysterisch schreien und den Teufel an die Wand malen, der da vielleicht tatsächlich bald kommt, auf jeden Fall aber schon sehr weit kommt, hilft nicht mehr. Der Islam in Frankreich muss sich unumwunden engagieren – für die Republik, sollte dringenst eine Religion werden, wie alle anderen auch in diesem Land, eine Religion, die niemandem etwas aufzwingen oder vorschreiben will und die endlich versteht: es herrscht Religionsfreiheit in Frankreich, aber Religion ist nun mal Privatsache. Es könnte dazu beitragen, den Demagogen der extremen Rechten zuminderst ein wenig Wind aus den Segeln zu nehmen.