Der amtierende Staatspräsident lässt sich noch Zeit und spielt derweil - reichlich schlecht - den Vater der Nation, der bis zum äussersten Ende seiner Amtszeit arbeitet, arbeitet und arbeitet, um seine Mitbürger vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu schützen, die Ärmel aufgekrempelt behält und mit seinem unbeugsamen Willen für das Wohl des Landes sorgt. So zumindest haben das die Kommunikationsstrategen des Präsidenten ausgeklügelt. Sarkozy, Kandidat für seine eigene Nachfolge? Wo denken Sie hin, der Präsident hat wichtigeres zu tun! Heuchelt man im Elysée.
Inoffizieller Wahlkampf
Nicolas Sarkozy wird in der Tat, so spät wie möglich, vielleicht erst Anfang März, seine Kandidatur offiziell bekanntgeben. Warum sollte er es auch früher tun - bis dahin kann er, mit dem gesamten Staatsapparat und allen Geheim-, Polizei- und anderen Diensten im Rücken, als amtierender Präsident auch so schon fröhlich - manche sagen schamlos - Wahlkampf betreiben und jede Art von Meinungsumfragen auf Staatskosten in Auftrag geben.
Seit Oktober letzten Jahres bereits tingelt Nicolas Sarkozy jetzt nicht nur ein Mal, sondern zweimal wöchentlich durch Frankreichs Provinz, stattet den Menschen dort seine immer gleichen, knapp dreistündigen, auf die Minute und den Milimeter geregelten Besuche ab, zeigt seine besorgte Mine in Schulklassen, in noch funktionierenden Industriebetrieben, bewegt sich in sorgfältig geputztem, leichtem Schuhwerk unbeholfen durch einen Bauernhof oder schaut sich mit zuckenden Schultern die Misere der ärztlichen Versorgung auf dem flachen Land aus nächster Nähe an.
Wie seit Jahren schon sorgen hunderte Sicherheitskräfte bei jeder dieser Visiten dafür, dass auf den sauberen Fernsehbildern nicht die Spur von Protesten zu sehen und keine Misstöne zu hören sind. Das freundlich grinsende Publikum auf den Bildausschnitten ist handverlesen und 100 %-Sarkozy-kompatibel, will heissen: besteht ausschliesslich aus Mitgliedern seiner konservativen UMP-Partei. Staatsfernsehen aus Brejnevs Zeiten, gegen das es inzwischen schon kaum mehr Kritik gibt. Und der Präsident tut dabei so, als heisse er Hase und wisse von wegen Wahlkampf rein gar nichts.
François Hollande - der linke Herausforderer
Doch die heisse Phase dieses Wahlkampfs hat seit Ende der Weihnachts- und Neujahrsferien bereits begonnen.
François Hollande, der sozialistische Kandidat mit dem Image eines Weichlings, dem man gerne mangelndes Entscheidungsvermögen und fehlende Erfahrung in Ministerämtern vorhält, hat letzte Woche in einem Vorort von Bordeaux seine erste Wahlveranstaltung abgehalten, den Rhythmus seiner öffentlichen Auftritte beschleunigt, am Wochenende in seiner politischen Hochburg, im zentralfranzösischen Departement Correze, ein Bad in der Menge nach dem anderen genommen und sich am Sonntag, am 16. Todestag von François Mitterrand, am Grab des ehemaligen Präsidenten verneigt. François Mitterrand wird bei den Sozialisten jetzt seit Wochen schon an allen Ecken und Enden beschworen, schliesslich war er der einzige auf der Linken, der es in über einem halben Jahrhundert fünfter Republik bis nach ganz oben geschafft hat - 31 Jahre sei das her, der nächste 6. Mai werde dem Mai 81 ähneln, paukt Hollande seinen Anhängern ein und klingt dabei, als müsse er sich selbst Mut machen.
Inhalte sind bislang weitgehend Fehlanzeige - eine grosse Steuerreform für mehr Steuergerechtigkeit nennt der ökomisch als sehr kompetent geltende sozialistische Kandidat als eine seiner Prioritäten, eine grundlegend bessere Bildungs- und Jugendpolitik als andere - so etwas wie ein Programm soll dem Wähler bis Ende Januar vorliegen, mit der Handschrift desjenigen, der nach seinen eigenen Worten ein " normaler Präsident" werden will.
Sarkozys Lager
Auch im konservativen Lager ist bisher von einem Programm kaum die Rede, obwohl ein solches formal von der Präsidentenpartei UMP abgesegnet wurde - für den künftigen Präsidentschaftskandidaten Sarkozy ist es allerdings alles andere als verbindlich, er könne sich wahlweise daraus bedienen - heisst es.
Für eines aber hat der Noch-nicht-Kandidat Sarkozy bereits bis in alle Einzelheiten gesorgt: Viele seiner offiziellen Berater sind schon in das inoffizielle Kostüm der Wahlkampfhelfer geschlüpft, scharren in den Startlöchern oder haben sie schon verlassen, die Register für die anstehende Schlacht sind gezogen und eine kleine Meute von Parlamentariern und Ministern ist abbestellt, um tagtäglich im Namen des Präsidenten zu kläffen, so grobschlächtig wie möglich den Sozialisten Paroli zu bieten.
Nadine Morano, mit permanent blonder Dauerwelle, Ministerin für irgendwas - kaum ein Franzose ist in der Lage zu sagen wofür, nämlich für berufliche Bildung - doch fast jeder kennt sie als derzeit prominenteste Kläfferin gegen die Linke. Beim vulgären Phrasendreschen und der Verbreitung immer neuer Platitüden kann ihr sonst in der Tat kaum jemand das Wasser reichen und kein anderer ist beim Daherbeten der sogenannten "Sprachelemente", die der Elysee regelmässig zu bestimmten Themenkreisen oder aktuellen Ereignissen an Minister und Parlamentarier verteilt, so eifrig, wie die blonde, marktschreierische Nadine, die ihren Präsidenten, Nicolas Sarkozy, mit Haut und Haaren verteidigt und beim Stiefellecken eine bislang kaum gekannte Virtuosität entwickelt hat.
Schlammschlacht am Horizont
Dem Präsidenten gefällt's und für einen Wahlkampf, der - dies wird schon seit Monaten deutlich - ganz tief unten in der Gosse stattfinden wird, ist Nadine Morano die perfekte Besetzung. Im Vergleich zu diesem sich abzeichnenden Wahlkampf wäre eine Schlammschlacht noch ein fast appetitliches Vergnügen.
Nur zwei Beispiele: 48 Stunden lang haben vergangene Woche die politische Klasse und die Medienlandschaft damit verbracht, darüber zu diskutieren, ob der Sozialist Hollande in einem Hintergrundgespräch mit sechs Journalisten Präsident Sarkozy nun als "sale mec" - als Dreckskerl bezeichnet hat oder nicht. Das Gespräch war, wie solche Gespräche üblicherweise "off", ein Dreckskerl von Journalist hat dieses " off" durchbrochen und der Sturm brach los, bis dann irgendwann klar war: Hollande hatte sich in die Rolle Sarkozys versetzt, getan, als würde Sarkozy sagen: "Ok, ich habe fünf Jahre lang eine ganze Reihe ungerechter Reformen gemacht, ich bin ein Dreckskerl, ich trete aber trotzdem nochmals zu den Wahlen an."
Wie gesagt: 48 Stunden war dies das Wahlkampfthema. Dass in dem Land 8,5 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, das Schulsystem jährlich stärker ruiniert wird, die Krankenhäuser auf dem Zahnfleisch gehen, allein in den letzten drei Jahren 100'000 Industriearbeitsplätze weggebrochen sind und man - laut offiziellem Bericht der Atomaufsichtsbehörde - die 58 französischen Atommeiler kostenaufwendig nachrüsten muss und vielleicht die Wirtschaftlichkeit der gesamten französischen Atomindustrie in Frage steht - davon so gut wie kein Wort.
Zweites Beispiel: Bereits seit letzten November sind die Orts- und Kreisverbände der konservativen UMP Partei mobilisiert. Gut eine Million Handzettel hat die Parteiführung unter dem ganz besonders zynischen, ehrgeizigen und aalglatten Parteichef, Jean François Coppé, im Land verteilen lassen, die vor unverschämten Lügen geradezu triefen - nach dem Motto: Je unverfrorener die Lüge, desto besser geht sie durch. Flugblätter, auf denen Frankreichs Sozialisten fast als Kinder fressende Ungeheuer dargestellt werden und geballter Schwachsinn zu lesen steht, wie etwa der Satz: "Wenn die Sozialisten an die Macht kommen, wird es möglich sein, dass ein illegaler Einwanderer ohne Papiere in ihrer Gemeinde Bürgermeister wird." Ein Satz, der jeder Grundlage entbehrt.
Eingeständnis der Hilflosigkeit
Wie noch nie in der Geschichte der 5. Republik bilden eine ökonomische und mehr und mehr auch soziale Krise in diesem Wahlkampf einen geradezu beängstigenden Hintergrund, vor dem die Kandidaten - der amtierende Präsident eingeschlossen - zu kaum mehr in der Lage sind, als ihre ganze Hilflosigkeit in ungewöhnlich grellem Licht erscheinen zu lassen. Grosse, hehre Worte gegen die Verantwortungslosigkeit und das schamlose Gebaren der sich sinnlos bereichernden internationalen Finanzwelt, aber so gut wie keine Vorschläge oder Taten, um daran etwas zu ändern.
Angesichts der nicht mehr zur verbergenden Entmachtung der politischen Macht durch die ökonomisch-finanzielle ist es nicht überraschend - im Vergleich zu vorhergehenden Präsidentschaftswahlkämpfen jedoch sehr auffallend -, dass sowohl Sarkozys Lager als auch der sozialistische Kandidat und François Bayrou, der zum dritten Mal für das politische Zentrum antritt, bislang nichts vorgelegt haben, was die Bezeichnung "Programm" verdienen würde.
Frankreich hat Wahlkampf, eine wirtschaftliche und soziale Krise von historischem Ausmass, doch praktisch kein Kandidat sagt, was er denn konkret zu verbessern gedenkt. Vage Parolen - von Massnahmenkatalogen, wie man sie noch bei der letzten Wahl 2007 serviert bekam, bislang keine Spur. Damals hatte der Kandidat Nicolas Sarkozy Anfang Januar bereits sein Programm klipp und klar vorgestellt gehabt. Angeblich inspirieren sich die Strategen der verschiedenen Lager diesmal an Spanien und am Wahlkampf des neuen konservativen Regierungschefs Rajoy, der im Grunde mit einer einzigen Versprechung an die Macht gekommen war, die da lautete: Ich werde tun, was nötig ist.
Extreme Rechte in Lauerstellung - ein Hauch von 2002
Gut drei Monate vor dem ersten Durchgang am 22. April sagen letzte Meinungsumfragen dem sozialistischen Kandidaten rund 28 % der Stimmen im ersten Wahlgang voraus, Präsident Sarkozy hat ein wenig aufgeholt und liegt demnach jetzt bei 26 % - das wären immer noch 5 % weniger, als sein Ergebnis vor 5 Jahren. Marine Le Pen, Kandidatin der rechtsextremen Nationalen Front bringt es auf 19 % - was für diesen frühen Zeitpunkt enorm ist. Niemals hatte ihr Vater Jean-Marie, auch als er 2002 in die entscheidende Stichwahl kam, in Meinungsumfragen zuvor derartige Werte erreicht.
2007 hatte es Nicolas Sarkozy geschafft, über eine Million Wähler der Nationalen Front auf seine Seite zu ziehen - Jean Marie Le Pen musste sich mit 11 % begnügen. Diesmal wird dies mit Sicherheit nicht erneut der Fall sein - zu viele der sogenannten kleinen Leute sind von Sarkozy masslos enttäuscht, ja sind sogar massenhaft aktive Mitglieder bei der extremen Rechten geworden.
Erstmals in ihrer Geschichte zählt die Nationale Front mehr als 50'000 Mitglieder - nach der Wahl 2007 waren ihr ganze 8'000 verblieben.
Frankreich, dieses alte demokratische, manchmal revolutionäre Land, befindet sich am Vorabend dieser Präsidentschaftswahlen in einem zerrütteten Zustand, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein Zustand, der nicht nur durch die ökonomische, sondern vor allem auch durch eine moralische Krise gekennzeichnet ist, für die Präsident Sarkozy und seine Parteifreunde einen gehörigen Teil Verantwortung tragen: Günstlingswirtschaft, ein fast endloser Rattenschwanz von Finanzaffären, eine bislang nie erreichte Arroganz in der Ausübung der Macht.
Dazu kommen ein abgrundtiefer Pessimismus in weiten Teilen der Bevölkerung, potenzierte Zukunftsängste und eine Skepsis, ja Verachtung gegenüber dem politischen Personal des Landes, die sich gewaschen hat.
Frankreich kommt einem in diesen Tagen vor wie ein Land voller Wutbürger mit dumpfer Wut, die noch nicht zum Ausbruch gekommen ist. Angesichts dessen wird einem etwas mulmig, dass ausgerechnet in dieser Situation jetzt die fast alles entscheidenden Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Frankreichs extreme Rechte mit ihrer Kandidatin, Marine Le Pen, hat in diesem Klima der tiefgreifenden Verunsicherung, in dem die niedersten Instinkte wieder ganz offen fröhliche Urstände feiern dürfen, am 22. April mindestens 50 % Chancen zu erreichen, was ihr Vater, Jean-Marie - damals noch sehr überraschend – im Jahre 2002 bereits einmal geschafft hatte: den Einzug in die entscheidende Stichwahl am 6. Mai.
Was soll man sich und dem Land, das einem nach fast drei Jahrzehnten das eigene geworden ist, angesichts dessen zum neuen Jahr 2012 eigentlich wünschen?
Man bleibt bescheiden und hofft, dass es vielleicht nicht ganz so schlimm kommt. Mehr nicht!