«Le ras-le-bol fiscal» - der Steuerüberdruss ist in diesen Tagen einer der meist gebrauchten Begriffe in Frankreich. Und die Revolte gegen zusätzliche Abgaben und Steuern, aber auch gegen die soziale Krise, gärt ganz besonders heftig in einer Region, wo es kaum jemand erwartet hätte: in der Bretagne.
Eigentlich gelten die Bretonen nicht als besonders hitzig. Aber sie sind dafür bekannt, ausgesprochen dickköpfig zu sein. Wenn die Dickköpfe nun, wie an den zwei letzten Wochenenden zu sehen war, sich in Hitzköpfe verwandeln, dann läuten in den Machtzentren der Kapitale Paris unweigerlich die Alarmglocken, und zwar gewaltig.
Rote Mützen
An den letzten zwei Samstagen hat die Bretagne Demonstrationen von einer Vehemenz erlebt, wie man sie in dieser Region schon seit langem nicht mehr gesehen hatte. Zunächst gingen am 26. Oktober einige Tausend, dann, am letzten Samstag, rund 20.000 in der 65.000 Einwohnerstadt Quimper auf die Strasse. Sie hatten sich rote Mützen aufgesetzt, Wurfgeschosse, Schlagstöcke und ähnliches mitgebracht und sich mit den Ordnungskräften heftigste Auseinandersetzungen geliefert.
Die roten Mützen - vom bretonischen Textilfabrikanten Armor Lux tausendfach zur Verfügung gestellt – hatten dabei als Symbol einen durchschlagenden Erfolg, erinnerten sie doch an die Revolte der Bretonen im Jahr 1675 gegen eine weitere Steuer, die ihnen damals vom Sonnenkönig, Ludwig XIV, auferlegt worden war. Auch zu jener Zeit trugen die revoltierenden, bretonischen Vorfahren rote Kopfbedeckung.
Öko – Maut – der Tropfen zuviel
Auslöser für die bretonische Wut in den letzten zehn Tagen war die im Grunde längst überfällige Öko-Maut für Lastwagen, die von der Vorgängerregierung unter Präsident Sarkozy konzipiert worden war und nun - mit über zehnjähriger Verspätung gegenüber europäischen Nachbarstaaten – ab 1. Januar 2014 hätte eingeführt werden sollen.
Doch die im Grunde gar nicht so widerspenstigen Bretonen – auch wenn sie bei Asterix anders daherkommen - empfanden die Öko-Maut für Lastwagen, diese weitere, zusätzliche Steuer, als den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Denn die Bretagne ist geographisch gesehen in Frankreich weit ab vom Schuss. Brest liegt fast 600 Kilometer westlich von Paris, Rennes, die Metropole der Bretagne am östlichen Rand der Region, ist immer noch 350 Kilometer entfernt.
Folglich befanden Unternehmer, Landwirte, Transportunternehmer und unzählige andere Berufsgruppen dieser Region, die fast 70 Prozent der Oberfläche der Schweiz ausmacht, dass sie durch diese Öko-Maut ganz besonders hart und zusätzlich bestraft würden und die Abgabenlast nun endgültig nicht mehr tragbar sei. Zumal diese zusätzliche Steuer in einem Moment daher kommt, da die Bretagne in ihrer schwersten wirtschaftlich – sozialen Krise seit über 40 Jahren steckt.
Das bretonische Modell
Jahrzehntelang war in Frankreich vom bretonischen Modell die Rede gewesen. Das war die Fähigkeit dieser ursprünglich armen und fast ausschliesslich landwirtschaftlichen Region, eine Mischung aus High-Tech und Nahrungsmittelindustrie mit mittelständischen Betrieben anzusiedeln und gleichmässig über die Region zu vertreilen. Daher stand die Bretagne bis noch vor wenigen Jahren in Frankreich als eine Art Musterschüler da und hatte eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten aufzuweisen. Gleichzeitig verfügte diese Region über massgebliche Politiker, die, ob links oder rechts, in erster Linie pragmatisch dachten und handelten und ein wenig weniger links oder weniger rechts waren, als ihre Kollegen im restlichen Frankreich.
Und der alt hergebrachte, immer noch stark verwurzelte, sozial engagierte Katholizismus in der Bretagne sorgte dafür, dass diese Region auch den Bretonen Jean Marie und Marine Le Pen regelmässig landesweit die schlechtesten Wahlergebnisse bescherte, sich für die plump rechtsextremen, populistischen Thesen des Front National in ganz Frankreich am wenigsten anfällig zeigte.
Der Einbruch
Diese rosigen Zeiten sind seit ein, zwei Jahren jedoch endgültig vorbei. Erst kriselte die High-Tech-Industrie gewaltig, dann kündigte Peugeot an, sein Werk in Rennes auf die Hälfte zu reduzieren, bevor dann der ganz grosse Schlag mit dem Holzhammer kam: Innerhalb nur weniger Monate brachen in der so wichtigen bretonischen Lebensmittelindustrie, besonders in der fleischverarbeitenden Branche, rund 9.000 Arbeitsplätze weg, allesamt in ländlichen Regionen angesiedelt, wo es für die betroffenen Arbeitnehmer so gut wie keine Alternative gibt. Allein beim Hähnchenriesen DOUX haben die Globalisierung und die Konkurrenz aus Brasilien 3.000 Arbeitsplätze gekostet.
Beim Schlachtunternehmen GAD hat das in deutschen Grosschlachtereien betriebene Sozialdumping mit Hungerlöhnen von 5 Euro für rumänische und bulgarische Arbeitnehmer zum Wegfall von rund 1.000 Arbeitsplätzen geführt. . GAD schliesst sein Werk in Lampaul, im Herzen der Bretagne, vollständig, ein anderes in der Südbretagne arbeitet weiter. Wie gross die Verzweiflung der Betroffenen in Lampaul war, mag man daraus ersehen, dass sie vor die weiter produzierende Fabrik in der Südbretagne zogen, versuchten, diese zu blockieren und sich letztlich mit den Arbeitern dieser Fabrik gar Schlägereien lieferten. Ein eben so seltener, wie niederschmetternder Vorfall.
Ein Rückzieher nach dem anderen
Just in diese ohnehin aufgeheizte soziale Stimmung hinein kam dann die Ankündigung der Ökomaut für LKW. Und obwohl die Regierung sehr schnell zu Sonderregelungen für die Bretagne bereit war, wurde sie von den aufgebrachten Bretonen einfach nicht mehr gehört. Am vorletzten Samstag kam es zu stundenlangen, äusserst gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten mit den roten Mützen und den Ordnungskräften, bei denen sehr schnell klar wurde, dass es um weit mehr geht, als nur um die umstrittene Öko-Maut. Da waren auch pure Verzweiflung, gewaltige Zukunftsängste und schlichte Hilflosigkeit der Krisengeschädigten mit im Spiel. Keine 48 Stunden nach der Demonstration setzte die Regierung Ayrault nach einer eilig einberufenen Krisensitzung die Ökomaut auf unbestimmte Zeit aus.
Für Regierung und Präsident Hollande war dieser dritte Rückzieher innerhalb von nur zwei Wochen ein weiteres Eingeständnis ihrer Macht- und Orientierungslosigkeit.
Wenige Tage davor hatte das Parlament mitten in der Nacht einem Gesetzesvorschlag zugestimmt, der eine zusätzliche Abgabe auf Spareinlagen rückwirkend bis 1997 vorsah. Ein Gesetz, das den Eindruck vermittelte, der Staat wolle sich jetzt skrupellos auch bei den klassischen Spareinlagen des Mittelstandes bedienen, die da sind: Bausparverträge, Aktiensparpläne und Lebensversicherungen. 2 Tage später verkündete der Premierminister, dass man von diesem Vorhaben Abstand nehme und gab erneut dem Eindruck Nahrung, dass in dieser Regierung und bei der sozialistischen Mehrheit die linke Hand nicht weiss, was die rechte tut oder umgekehrt und der Wankelmut gross ist. Denn wenige Tage davor hatte die Regierung nach Protesten auch schon auf eine neue Steuer für Unternehmer verzichtet.
Merkwürdige Koalitionen
Und dann auch noch dieser letzte Samstag im bretonischen Quimper. Seit Dienstag letzter Woche war die Öko-Maut nach den ersten Protesten vom Premierminister schnellstens auf Eis gelegt worden. Doch den verzweifelten Bretonen reicht das offensichtlich bei weitem nicht. Die angekündigte Demonstration der Rotmützen in Quimper an diesem Samstag wurde trotz dem Nachgeben der Regierung aufrecht erhalten und es kamen mehr Menschen , als erwartet - mindestens 20.000. Am Tag nach Allerheiligen legten sie in Quimper zunächts einen Berg von Krysanthemen, mit denen in Frankreich zu jener Jahreszeit traditionell die Gräber geschmückt werden, vor die Präfektur, die Vertretung des Zentralstaates, zum Gedenken an eine Region, die dahin stirbt. Auch da flogen wieder Holzpaletten, Blumentöpfe, Steine und Glasflaschen, während gleichzeitig auf dem flachen Land entlang der wichtigen Bundesstrassen die dritte automatische Kontrolleinrichtung zum Eintreiben der Ökomaut zerstört wurde - zum Preis von immerhin 500 000 Euro pro Stück. Mit ein paar Dutzend brennender Reifen wurden die High-Tech- Anlagen zum Schmelzen gebracht.
Besonders beunruhigend war für die Pariser Regierung die extrem heterogene Zusammensetzung dieser Demonstration: Da marschierten Unternehmer, Arbeiter, Links- und Rechtsradikale, katholische Integristen, bretonische Separatisten, Globalisierungskritiker von Attac, Handwerker, Küstenfischer und Bauern Seite an Seite, mit Parolen gegen den Zentralstaat und die Hauptstadt Paris, sowie der Forderung, wir wollen hier entscheiden, arbeiten und leben.
Nach dem Rückzieher bei der Öko–Maut und der Demonstration der Bretonen an diesem Wochenende bleibt der fatale Eindruck: Was immer der französische Präsident und seine Regierung zur Zeit auch anfassen, es wirkt amateurhaft, wie Stückwerk ohne jedes Konzept und geht auf jeden Fall schief. Und es bleibt die schiere Gewissheit, dass François Hollande & Co tatsächlich fürchten müssen, der Unmut gegen zunehmenden Abgaben und Steuern könnte sich auch in anderen Regionen des Landes Ausdruck verschaffen.
Hollande - was tun ?
Immer häufiger wird in diesen Tagen bereits die Frage gestellt, ob Präsident Hollande unter den gegebenen Bedingungen noch 3 ½ Jahre im Elysee durchhalten kann. Schon suggerieren erste Kommentatoren, er möge sich doch an Papst Benedikt XVI ein Vorbild nehmen. In der Verfassung der 5. Republik ist nichts vorgesehen, was ihn zum Rücktritt zwingen könnte. Um zu verdeutlichen, dass er den Groll der Bevölkerung wahrnimmt, bleiben dem französischen Präsidenten im Grunde nur zwei Möglichkeiten: die Regierung umzubilden und einen neuen Premierminister zu berufen - was die für ihn unproblematischere Lösung wäre, aber wahrscheinlich nur für einige Wochen Beruhigung sorgen würde und als symbolische Geste bereits fast zu schwach erscheint.
Die andere Möglichkeit wäre die Auflösung der Nationalversammlung und die Ausschreibung von Neuwahlen zum Parlament. In dem Fall hätte Frankreich mit Sicherheit wieder eine seiner berühmten Kohabitationen, mit einer konservativen Mehrheit in der Nationalversammlung, einem rechten Premierminister und einem linken Präsidenten, von dem sich immer mehr seiner Anhänger fragen, inwiefern er noch Sozialist ist. Und, nicht zu vergessen: Die Nationale Front würde zu den bislang drei Abgeordneten trotz Mehrheitswahlrecht wohl eine Handvoll weitere ins Parlament entsenden können.