Doch Frankreich geht am Zahnfleisch, ist im Ausnahmezustand und soll jetzt auch noch den Weltklimagipfel über die Bühne bringen.
Im Ehrenhof des Pariser Invalidendoms stehen bei nationalen Gedenkzeremonien normalerweise mehrere Särge nebeneinander, jeder mit einer grossen Trikolore bedeckt. Der Präsident legt einen Orden auf jeden Sarg, posthum erklärt er die Toten zu Rittern der Ehrenlegion, es erklingt Militärmusik und natürlich die Marseillaise, und die anwesenden Gäste lauschen einer kurzen Ansprache des Staatsoberhaupts. So verfährt Frankreich an diesem Ort seit Jahrzehnten in der Regel mit seinen gefallenen Soldaten - zumeist nach Einsätzen in Afrika oder im Nahen Osten. Oder aber man ehrt an dieser Stelle einen ehemaligen Widerstandskämpfer, wie vor wenigen Jahren Stéphane Hessel.
Militärische Ehren für zivile Opfer
Letzten Freitag war alles anders. Noch nie wurden in diesem majestätischen Rahmen eines ehemaligen Militärhospiz zivile Opfer per Staatsakt geehrt. Diesmal standen auch keine Särge auf Podesten. Dafür eine Riesentribüne für 2000 Gäste an der Längsseite des Ehrenhofs. Die Fernsehbilder, die in alle Welt gingen, lieferte die französische Armee. Damit war gewährleistet, dass die mehr als 1000 Angehörigen der Todesopfer und Verletzten der Terroranschläge vom 13. November und viele, die verletzt überlebt hatten und die Emotionen und Trauer all dieser Menschen nicht gefilmt wurden.
Statt den Särgen standen gegenüber der grossen Tribüne Sanitäter, Angehörige des Zivilschutzes, Ärzte, Polizisten, Mitglieder von Eliteeinheiten - all die, die in der Nacht des Horrors und der Panik alles gegeben hatten, um zu retten, was noch zu retten war. Und da steht, vor einem einsamen Stuhl, ein Staatspräsident, der trotz der vielen Menschen so allein wirkt, wie Frankreich sich heute fühlt im Kampf gegen den Terror - trotz aller verbalen Solidaritätsbekundungen der Europäer und Amerikaner.
Ein Chanson und drei Frauen
Ein militärischer Trauermarsch erklingt, als François Hollande als letzter den gigantischen Ehrenhof des Invalidendoms betritt. Darauf folgt natürlich die Marseillaise, aber dann, unerwartet, atemberaubend, erschütternd, erklingt ein Chanson!
Und was für ein Chanson. "Quand on n'a que l'amour" (Wenn einem nur die Liebe bleibt). Jacques Brels Ode an die Liebe.
Quand on a que l'amour
A s'offrir en partage
A jour du grand voyage
Qu'est notre grand amour
Quand on a que l'amour
Mon amour toi et moi
Pour qu'éclatent de joie
Chaque heure et chaque jour
Quand on a que l'amour
Pour vivre nos promesses
Sans nulle autre richesse
Que d'y croire toujours
Quand on a que l'amour
Pour meubler de merveilles
Et couvrir de soleil
La laideur des faubourgs
Quand on a que l'amour
Pour unique raison
Pour unique chanson
Et unique secours
Quand on a que l'amour
Pour habiller matin
Pauvres et malandrins
De manteaux de velours
Quand on a que l'amour
A offrir en prière
Pour les maux de la terre
En simple troubadour
Quand on a que l'amour
A offrir à ceux là
Dont l'unique combat
Est de chercher le jour
Quand on a que l'amour
Pour tracer un chemin
Et forcer le destin
A chaque carrefour
Quand on a que l'amour
Pour parler aux canons
Et rien qu'une chanson
Pour convaincre un tambour
Alors sans avoir rien
Que la force d'aimer
Nous aurons dans nos mains
Amis le monde entier
Gesungen von drei Frauen von umwerfender Schönheit und Stärke. Frauen, deren Durchschnittsalter ungefähr dem der 130 Massakrierten entspricht: 35 Jahre!
Eine Gitarre und drei Stimmen - die von Yaelle Naim, Nolwenn Leroy und Camelia Joradana Riad-Aliouane. Allein ihre Namen erzählen ein Frankreich in seiner ganzen Vielfalt, so wie es ist und so wie es war, auf den Bistroterassen und im Konzertsaal Bataclan an jenem Freitagabend des 13. November.
Belgien
Frankreich hat zwei Wochen danach, in der militärischen Atmosphäre des Invalidendoms, mit einem Chanson auf den Terror geantwortet - ein Land, das der Terrormiliz IS den Krieg erklärt hat und sich selbst im Ausnahmezustand befindet. Realpolitiker und professionelle Zyniker mögen darüber lächeln und doch hat man an diesem grauen, frostigen Vormittag den Eindruck, oder hofft zumindest, dass dieser Moment der Poesie und Grazie, dieser Text und die drei Stimmen im weiten Rund der alten, strengen Steinfassaden eine schallende Ohrfeige sein könnten für die Bande von mordenden Fanatikern und ihre Helfershelfer.
Zumal bei der Wahl dieses Chansons noch ein kleiner, zusätzlicher Fingerzeig dabei ist: Jacques Brel und seine Chansons sind den Franzosen aus Belgien dahergekommen - wie, fast vierzig Jahre später, die unsägliche Truppe, die in den drei gemieteten Autos im Zehnminutenabstand von Brüssel aus über Frankreichs Nordautobahn an die Orte ihrer Horrortaten gebrettert ist. Ob sie wohl gesungen haben auf der Fahrt? Und wenn, was? Oder haben sie irgendeinen Unsinn gebetet zu ihrem Gott, den sie pervertiert haben?
Örtlichkeiten
Die Wahl der Orte der Terroranschläge zeigt jedenfalls eines ganz klar: die französischen und belgischen Terroristen wussten nur zu genau, wo sie zuschlagen mussten, um Frankreich im Herzen zu treffen.
Zunächst vor dem Fussballstadion "Stade de France", wo Frankreich 1998 Weltmeister geworden war und wo man anschliessend - fälschlicherweise - die "Equipe de France" hatte hochleben lassen als Integrationsmodell, weil sie so schön vielfarbig war - "black, blanc, beurre" eben. Die Attentäter hatten auch die Arena gewählt, in der nächstes Jahr das Endspiel der Fussballeuropameisterschaft stattfinden wird. Just in dem Moment, als sich die Mannschaften aus Frankreich und Deutschland bei einem Freundschaftsspiel gegenüber standen, der französische Präsident und der deutsche Aussenminister nebeneinander auf der Tribüne sassen, sprengten sich vor dem Stadion drei von ihnen in die Luft - in Sichtweite zur Basilika von Saint-Denis, wo ein Teil der französischen Könige begraben liegt.
Bistros
Und wenig später, ja fast gleichzeitig, ging es dann mitten in Paris weiter - in Stadtvierteln, in denen das Leben pulsiert, wo viele junge Menschen ausgehen, wo gerade am Freitagabend auch ordentlich getrunken wird. Es sind Viertel, die auch noch in unmittelbarer Nähe zu den ehemaligen Redaktionsräumen von Charlie Hebdo liegen und zu einem der Symbole Frankreichs schlechthin - der Statue der Republik auf dem Platz der Republik – wo Bewohner und Touristen Wochen und Monate lang um die Opfer der Anschläge vom letzten Januar getrauert hatten.
Musik
Und schliesslich die traditionsreichste Konzerthalle von Paris, Le Bataclan, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts existiert. Ein Ort, wo man seit Jahrzehnten vom frechsten Chanson, über World Music bis hin zum härtesten Rock alle erdenklichen Arten von Musik hören konnte – Musik, die in den Augen der mordenden Fanatiker schlicht verwerflich ist, nicht rein und von irgendeinem Propheten, den sie sich in ihren Hirnen zusammengezimmert haben, angeblich nicht gutgeheissen wird.
Einer, den sie umgemäht haben, war ein nicht mal 30-jähriger Algerier. Seit einem Jahr war er zum Musikstudium in Paris. Seine Leidenschaft: die vom Aussterben bedrohte, in Nordafrika gewachsene, Jahrhunderte alte jüdisch-arabisch andalusische Musik. Er hatte seinen Geigenkasten dabei, als ihn auf einem der Bürgersteige eine Kugel traf.
Die Herren Abbaoud und Co. haben mit ihren Kalaschnikows und Sprengstoffgürteln einen ganzen Lebensstil auf Korn genommen, ein trotz aller Schwierigkeiten buntes, gemischtes, multikulturelles und weltoffenes Frankreich. Sie haben eine gewisse Sorglosigkeit einer ganzen Generation niedergeschossen und letztlich schlicht und einfach die Freiheit zu leben, wie es einem gefällt.
Seitdem sagt täglich hier und dort jemand, man müsse weiterleben, wie bisher. Alles andere wäre ein weiterer Sieg dieser islamistischen Terroristen. Leider wirkt das inzwischen oft wie ein Lippenbekenntnis. Denn irgendetwas, noch nicht zu Definierendes, ist zerbrochen. Während der Direktübertragung der offiziellen Trauerfeier im Invalidendom zwei Wochen nach den Massakern, sagte eine 30-jährige als Gast im Studio des Informations-TVs BFM immer wieder: "Für uns, für unsere Generation, wird nichts mehr so sein wie zuvor".
Wahlen
Es klang, als wollte sie sagen, dass sich eine ganze Generation von jungen Franzosen über Nacht bewusstgeworden ist, dass die Demokratie und die Republik etwas Zerbrechliches und Kostbares sind und es wert sind, dass man aufsteht und sie verteidigt. In welcher Form das geschehen könnte, steht in den Sternen.
Im Prinzip könnte diese ganze Generation schon am nächsten und übernächsten Wochenende einfach massiv zur Wahl gehen und in den zwei Durchgängen der Regionalwahlen zumindest eines verhindern: dass ab dem 14. Dezember zwei grosse Regionen Frankreichs eine Präsidentin haben werden, die den Namen Le Pen trägt.
Doch man ist nicht sehr optimistisch, dass dieses Aufbäumen zustande kommen wird. Angesichts der zutiefst pessimistischen Grundstimmung seit Jahren und dessen, was Frankreich in den letzten zwei Wochen erlebt hat, brauchen sich die Tochter Marine und die Enkelin Marion des Altfaschisten, Folterers im Algerienkrieg und notorischen Antisemiten, Jean-Marie Le Pen, nur zurücklehnen und abwarten. Die Ereignisse der letzten zwei Wochen arbeiten ihnen von ganz allein in die Hände.