Fragt man die Franzosen , welche Begriffe ihren derzeitigen Gemütszustand am besten beschreiben würe, so sprechen 32% von Überdruss, 28% von Misstrauen und ebenso viele von Verdriesslichkeit - Werte, die innerhalb nur eines Jahres um 8% gestiegen sind.
Gut zwei Drittel der Bevölkerung sind sich sicher, dass Frankreich nicht vor 2012 die Krise überwunden haben wird. „Die Franzosen“, so der Direktor des politischen Forschungszentrums von Science Po (CEVIPOF), Pascal Perrineau, „sehen sich in einem Tunnel festsitzen und wissen, dass sie für lange Zeit drin stecken bleiben."
Das Misstrauen gegen Politiker und die Institutionen des Landes ist in allen Bereichen beträchtlich angestiegen: sechs von zehn Franzosen sagen heute, sie würden weder der Linken noch der Rechten vertrauen, wenn es darum geht, ihr Alltagsleben zu verbessern, nur 13 % sehen in einer Partei eine Institution, der sie vertrauen würden.
Die Franzosen sind inzwischen Lichtjahre davon entfernt zu denken, die Politik könnte das Leben verändern. „ Changer La Vie“ war der Slogan Mitterrands, mit dem er 1981 die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte.
30 Jahre später wollen wie Franzosen, wenn überhaupt, von der Politik in erster Linie eines: dass sie sie schützt! Sie fordern Schutz vor der Globalisierung, vor dem Ausland und den Ausländern.
40% sagen, und das sind zehn Prozent mehr als vor einem Jahr, Frankreich müsse sich mehr und besser vor der Welt schützen. Vor allem aber meinen 59% der Franzosen heute - auch da sind es 10% mehr als Ende 2009 - dass zu viele Ausländer im Land leben.
Ganz besonders beunruhigend: Diese Meinung hat inzwischen auch unter den 18 bis 25Jährigen und in der Kategorie der Franzosen mit Hochschulabschluss eine Mehrheit! Dies sind aber Bevölkerungsgruppen, die das wichtigste Wählerpotential für die französische Linke darstellen. Man sagt sich, vor allem die sozialistische Partei dürfte da, mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2012 ein ernstes Problem haben.
Misstrauen selbst gegten Bürgermeister
Das erschütterndste Detail dieser Umfrage ist die Tatsache, dass die Franzosen auch den von ihnen so geliebten Bürgermeistern immer weniger trauen. Die Gemeindeoberhäupter wurden von ihnen bislang so sehr geschätzt, dass es niemand gewagt hat, eine Kommunal- oder Kreisreform in Angriff zu nehmen, um dieser schier unglaublichen französischen Besonderheit ein Ende zu bereiten. Diese besteht darin, dass das Land über 36 000 Gemeinden und damit über ebenso viele Bürgermeister verfügt.
Diese haben unter Frankreichs politischem Personal zwar immer noch den höchsten Prozentsatz an positiven Meinungen, allerdings ist der in nur einem Jahr um 13 % zurückgegangen! "Bei Problemen", sagt Pascal Perrineau, "waren die Lokalpolitiker in den Augen der Bürger bisher eine Art Schutzschild. Die Franzosen scheinen sich bewusst zu werden, dass auch dieses Sicherheitsnetz Löcher bekommt."
Angst vor einem zweiten 21. April 2002
Bei so viel Verdriesslichkeit, mangelndem Optimismus und rapide sinkendem Vertrauen in die Politik wundert es nicht, dass mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 das Gespenst von einem neuen 21. April 2002 bereits wieder die Runde macht. Damals hatte der Kandidat der Sozialisten, Lionel Jospin, im ersten Wahldurchgang weniger Stimmen bekommen als der Rechtsextreme Jean Marie Le Pen. Jospin hatte es nicht in die Stichwahl geschafft. Le Pens Tochter Marine als neue Parteichefin und Kandidatin hat heute schon bessere Umfragewerte, als ihr Vater sie je hatte und kümmert sehr bewusst und gezielt um die Opfer der sozialen Misere im Land. Sie weiss, dass die Nationale Front schon bei den Wahlen 2002 die erste Partei der Arbeiter und der Arbeitslosen war.
Kinder gegen Pessimismus
Angesichts so viel Pessimismus haben sich die Franzosen in den letzten Wochen zumindest mit einer Zahl trösten könne: sie waren auch im letzten Jahr wieder Europameister, was die Geburtenrate angeht - im Schnitt deutlich über 2 Kinder pro Frau, mehr als 800 000 Geburten im letzten Jahr. Eigentlich ein Paradox. Oder eben Leben nach dem Motto: Kinder machen gegen den Pessimismus oder trotz des Pessimismus, sich angesichts der Bedrohungen einer globalisierten Welt zurückziehen auf die traditionellen Werte der Familie. Es gab Zeiten, da hat in diesem Land in der Tat schon ein wenig mehr Aufbruchsstimmung geherrscht.
Polizei und Richter auf den Barrikaden
Gleichzeitig aber nehmen die Revolten von einzelnen Berufs- und Interessensgruppen im Land kein Ende. Selbst Frankreichs Bereitschaftspolizisten haben dieser Tage für ungewohntes Aufsehen gesorgt. Die befehlsgewohnten, Knüppel schwingenden CRS, die seit dem Mai 68 auch über Frankreichs Landesgrenzen hinaus bekannt sind, traten in den Ausstand, haben Dienst nach Vorschrift gemacht. An einigen Ort griffen sie sogar zum Mittel des Hungerstreiks oder liessen sich reihenweise krank schreiben. Der Grund? Im Zuge von Sparmassnahmen und der Reduzierung der Anzahl von Staatsbeamten hatte Innenminister Hortefeux angekündigt, zwei CRS-Kompanien in Lyon und Marseille aufzulösen.
Es dauerte keine 72 Stunden und der Innenminister musste zu Kreuze kriechen, seine Entscheidung rückgängig machen - die Sicherheit für Ministertreffen während der französischen G-8- und G-20-Präsidentschaft war nicht mehr zu gewährleisten. Bei einer der wöchentlichen Eskapaden des Präsidenten in die französische Provinz drohte die Situation, dass nicht genügend CRS zur Verfügung stehen, damit sich der Präsident sicher fühlt. Sarkozy braucht aber mindestens 1000 Ordnungskräfte, darunter gut 400 Bereitschaftspolizisten.
Also hat die Politik vor meuternden Polizisten einen Rückzieher gemacht - ein nicht ganz unproblematischer Vorgang in einem Rechtsstaat und für Staatspräsident Sarkozy eine wahre Ohrfeige.
Hatte er sich doch seit 2002 als der grosse Freund der Polizisten präsentiert, der bei jeder Gelegenheit die schützende Hand über sie hielt. Selbst diese Berufsgruppe, die ihm jahrelang regelrecht zu Füssen lag, hat jetzt das Vertrauen in diesen Staatspräsidenten verloren. "Nicolas Sarkozy" , so ein Leitartikler, "ist für die Polizisten heute zum dem geworden, was Frank Ribéry für die Fans der französischen Fussballnationalmannschaft ist." Mit anderen Worten: der Buhmann.
Doch damit nicht genug. Kaum war dieses Problem geregelt, legte sich der Präsident mit Richtern und Staatsanwälten an.
Nach einem grausamen Mord an einer 18Jährigen, mit grosser Wahrscheinlichkeit verübt von einem mehrfach vorbestraften Wiederholungstäter, stellte sich der Präsident hin und sagte, einen solchen Menschen ohne Überwachung und Begleitmassnahmen in die Freiheit zu entlassen, sei ein Vergehen und für ein solches Vergehen werde es Sanktionen geben.
Nur drei Stunden später hatte am zuständigen Gericht in Nantes das gesamte Justizpersonal die Arbeit niedergelegt und nach einer spontanen Vollversammlung erklärt, man werde eine Woche lang keine Gerichtsverhandlungen mehr abhalten. Dies ist in der französischen Justizgeschichte ein einmaliger Vorgang und wächst sich inzwischen zu einem Flächenbrand aus: nach dem Wochenende sind es bereits 15 Gerichte im ganzen Land, die ähnliche Aktionen angekündigt haben.
Präsident Sarkozy, ausgebildeter Jurist, der jahrelang als Rechtsanwalt gearbeitet hat, hat mit Richtern und Staatsanwälten - die er einst sogar einmal als Erbsen bezeichnet hatte - ganz offensichtlich ein Problem, und ein noch viel grösseres mit dem Prinzip der Gewaltenteilung.
Man geht nicht so weit zu sagen, Präsident Sarkozy ist zu dem geworden, was man gemeinhin einen Watschenmann nennt, aber Ohrfeigen hat er dieser Tage reichlich abbekommen - der konservative Senat hat ihm jetzt auch noch sein Vorhaben abgeschmettert, Franzosen ausländischer Herkunft die Staatsbürgerschaft aberkennen zu wollen, wenn sie einem Repräsentanten der öffentlichen Ordnung nach dem Leben getrachtet haben.
Abgesehen davon, dass dies im Alltag de facto in 10 Jahren drei Mal vorkommen dürfte, erinnert die Initiative des Staatspräsidenten vor allem an die dunklen Zeiten des Vichy-Regimes, als Frankreich den seit 1927 eingebürgerten Immigranten, ganz überwiegend Juden aus Deutschland, Österreich und Osteuropa, die Staatsbürgerschaft wieder aberkannt hatte. Immerhin: der Senat wollte da nicht mitmachen.
Letzlich, sagt man sich, sind die Franzosen vielleicht doch nicht so pessimistsich und deprimiert, wie manche Untersuchung dies vermuten lässt