Das Land kommt nicht weg von seinen Kernkraftwerken, die immer noch gut 70 Prozent des französischen Stroms produzieren. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe erlebt die Atomlobby im Land gar eine Renaissance.
Man schrieb das Jahr 2012, der Sozialist François Hollande hatte gegen den Amtsinhaber Nicolas Sarkozy die Präsidentschaftswahlen gewonnen. In seinem Programm fand sich der im europäischen Ausland viel beachtete Absatz, wonach Frankreich einen neuen Energiemix anstrebe. Bis 2035 solle der Anteil der Kernkraft an der Stromproduktion des Landes von 75 auf 50 Prozent reduziert werden.
Kaum Konsequenzen
Die Ansage war beachtlich und wäre, sofern in den Jahren danach in Frankreich wirklich etwas in Gang gekommen wäre, mit dem deutschen Atomausstieg nach Fukushima zu vergleichen gewesen – hing die Stromproduktion des östlichen Nachbarn zum selben Zeitpunkt doch nur zu 25 Prozent vom Atom ab.
Doch passiert ist in Frankreich in Sachen Reduzierung des Stroms aus Atomkraft seit 2012 eben denkbar wenig. Im Sommer 2020, acht Jahre nach Präsident Hollandes Ankündigung, wurden immerhin die zwei ältesten Atommeiler im elsässischen Fessenheim – seit 1978 in Betrieb – endgültig abgestellt.
Doch das war es dann auch. Dabei hatten von Anfang an alle Experten klargestellt, dass eine Reduzierung des Atomanteils an der französischen Stromproduktion von 75 auf 50 Prozent bis 2035 die Abschaltung von rund zwölf Atommeilern nötig machen würde.
Doch ausser Fessenheim ist bisher kein einziger anderer Standort für das Herunterfahren von Atommeilern auch nur ernsthaft ins Auge gefasst worden. Mit anderen Worten: schon heute ist gewiss, dass von Präsident Hollandes Versprechungen von vor fast zehn Jahren so gut wie gar nichts übrig bleiben wird.
Staat im Staat
Denn im Zusammenhang mit der Atomenergie ist die Kraft des Faktischen einfach stärker und die weitgehend verborgene Macht der Atomlobby grösser als so manche politische Absichtserklärung. In diesem Land, in dem die Atomindustrie, von vorneherein eng verbunden mit dem militärischen Sektor, seit den fünfziger Jahren eine Art Staat im Staat verkörpert, wo nach wie vor alle Entscheidungen in einem kleinen Zirkel aus Abgängern zweier Elitehochschulen und Beratern im Élyséepalast gefällt werden.
So war es auch zu den Zeiten der Erdölkrise, Mitte der siebziger Jahre, brachte Staatspräsident Giscard d’Estaing ohne grosse öffentliche Diskussion dieses gigantische Atomkraftwerkprogramm auf den Weg. Es beschert Frankreich heute, fast ein halbes Jahrhundert später, 58 inzwischen weitgehend in die Jahre gekommene Atommeiler. Ein AKW-Programm, das damals von dem inzwischen reichlich belächelten Motto begleitet worden war: «In Frankreich haben wir kein Erdöl, aber wir haben Ideen».
Desaster des EPR
Seit 2002 aber ist im Land kein einziges neues AKW mehr ans Netz gegangen. Gleichzeitig müssten normalerweise elf der 56 noch funktionierenden Reaktoren, die mittlerweile zwischen 40 und 45 Jahre alt sind, abgestellt werden – wie Fessenheim im Elsass.
Doch um Zeit zu gewinnen, betont ihr Betreiber, Frankreichs Stromriese EDF, in letzter Zeit immer wieder, all diese Anlagen könnten ohne allzu grossen Aufwand durchaus 60 Jahre lang in Betrieb bleiben.
Anfang der Nullerjahre hatte Frankreichs Atomindustrie – gemeinsam mit dem deutschen Siemenskonzern, der sich dann sehr schnell aus der Zusammenarbeit verabschieden sollte – einen neuen Reaktortyp entworfen, den so genannten Europäischen Druckwasserreaktor EPR. Dieser mit grossem Pomp und viel Vorschusslorbeeren lancierte Reaktortyp der dritten Generation sollte mit einer Leistung von 1650 Megawatt die Zukunft der Atomkraft verkörpern.
2005 begann man im finnischen Olkiluoto mit dem Bau eines ersten Exemplars, welches eigentlich 2009 hätte in Betrieb gehen sollen.
Wenn alles gut geht, wird dieser Krisenreaktor jetzt im Januar 2022 ans Netz angeschlossen werden – mit elfjähriger Verspätung und mit Kosten, die von ursprünglich drei auf über zehn Milliarden Euro geklettert sind. Für die Pannenserie und die enormen Verzögerungen muss der inzwischen in Orano umbenannte französische Atomkonzern Areva über eine Milliarde Euro Strafe bezahlen, wozu er angesichts seiner desaströsen ökonomischen Situation nicht in der Lage ist. Letztlich wird der französische Steuerzahler dafür aufkommen – 400 Millionen hat der französische Staat bereits überwiesen, 650 weitere werden folgen.
Doch es sollte noch schlimmer kommen, und zwar im eigenen Land. In Flammanville in der Normandie, wo seit den achtziger Jahren bereits ein klassisches Kernkraftwerk funktioniert und die weltweit grösste atomare Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague in Sichtweite ist, hatte man Ende 2007 mit dem Bau eines zweiten EPR begonnen. Und die Katastrophe sollte sich wiederholen. Auch hier waren vier Jahre Bauzeit und drei Milliarden Euro Kosten vorgesehen. Nun wird der Reaktor statt 2011 im Jahr 2022 hochgefahren, und die Kosten, so der französische Rechnungshof, sind gar auf 19 Milliarden Euro geklettert.
Krise der französischen Atomindustrie
Mit diesen geradezu katastrophalen Verzögerungen beim Bau der ersten europäischen Druckwasserreaktoren (EPR) sowie durch die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 und deren internationale Auswirkungen wurde Frankreichs gesamte Atomindustrie im Lauf des letzten Jahrzehnts in eine abgrundtiefe Krise gestürzt. Denn plötzlich wollte auf der ganzen Welt fast niemand mehr den französischen Katastrophenreaktor haben.
Die Folge: Das einst hochgepriesene Vorzeigeunternehmen Areva, eine Art französischer Nationalstolz, welches als einzige Firma weltweit den gesamten Atomzyklus vom Uranabbau bis zur Wiederaufarbeitung verbrauchter Brennelemente beherrrschte, musste zwei Jahre lang restrukturiert und vom französischen Staat mit fünf Milliarden Euro am Leben erhalten werden. Zudem wurden 6’000 Mitarbeiter entlassen. Als wolle man das Desaster vergessen machen, hat die Firma dabei sogar ihren einst klingenden Namen Areva eingebüsst; sie heisst heute Orano.
Die letzten zwei Jahrzehnte lang hat Frankreich dann, was die Zukunft seiner Atomkraftwerke und der Energieversorgung angeht, auf Abwarten gesetzt und alle Diskussionen und Entscheidungen über die Zukunft dieser Sparte hinausgeschoben. Da Dutzende von Atommeilern nun mal da waren, da sie ausserdem genügend und zudem noch – zumindest auf den ersten Blick – preiswerten Strom lieferten und sie irgendwie schon lange genug halten würden, hat Frankreich ganz nebenbei den Anschluss an die Entwicklung aller erneuerbaren Energien in den letzten zwanzig Jahren geradezu phänomenal verpasst.
Das Land mit 5’800 km Küste, den Grossteil davon am windumwehten Atlantik, hat beim Ausbau der Windkraft lange Zeit auf beiden Ohren geschlafen. Hierzulande drehen sich aktuell vier Mal weniger Windräder als beim deutschen Nachbarn, und auf offener See gibt es so gut wie gar keine. Wo sie geplant sind, gehen Fischer oder Anwohner auf die Barrikaden. Insgesamt liegt der Anteil der erneubaren Energie beim Strommix in Frankreich bei 18 Prozent; in Deutschland liegt dieser Wert bei 33 Prozent.
Der Wind dreht sich
Bei erneuerbaren Energien hinkt man hinterher, die eigene Atomindustrie steckt seit einem Jahrzehnt in einer nie dagewesenen Krise. Da kommt aus französischer Sicht, wenn man zynisch sein will, die Klimakrise gerade recht.
Gleich mehrmals hat Präsident Macron in den letzten Wochen anklingen lassen, dass die Zeichen in Frankreich weiter auf Atomenergie stehen und das Land in naher Zukunft erneut ganz entscheidend auf die Atomkraft setzen wird. «Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft», betont der französische Staatschef gerne mit Blick auf die CO2-Emissionen. In diesem Zusammenhang sprach er jüngst auch davon, die Forschung über neuartige Kleinreaktoren, «Small Modular Reactors» (SMR), an denen weltweit gearbeitet wird, in Frankreich vorantreiben zu wollen – 300-Megawatt-Reaktoren, die zudem sicherer und kostengünstiger sein sollen als die bisherigen Meiler.
Wie schon gesagt: Frankreichs Atompark ist in die Jahre gekommen, und es wird für das Land – nach rund zwei Jahrzehnten Pause bei den Investitionen – mehr als überfällig, konkrete Entscheidungen zu treffen, um die künftige Energieversorgung des Landes zu sichern. Weil dafür aber gigantische Investitionen nötig sind und der AKW-Betreiber EDF gleichzeitig mit über 42 Milliarden Euro verschuldet ist, versucht Frankreich derzeit mit fast allen Mitteln, in Brüssel die Atomkraft als «grüne Investition» anerkennen zu lassen. Frankreich hat dafür innerhalb der EU jüngst sogar eine etwas dubiose Koalition geschmiedet. Finanzminister LeMaire und weitere Minister aus Rumänien, Tschechien, Finnland, der Slowakei, Kroatien, Slowenien, Bulgarien, Polen und Ungarn forderten in einem Appell, der in zahlreichen europäischen Zeitungen veröffentlicht wurde, ein klares Bekenntnis der EU zur Atomkraft als saubere Energiequelle. Sie schrieben unter anderem: «Kernenergie muss wie alle anderen kohlenstoffarmen Energiequellen behandelt werden.»
Paris fordert und hofft, dass die Einstufung der Kernenergie als mögliche «grüne Investition» in Brüssel bis Ende des Jahres erfolgt, mit der Konsequenz, dass Frankreichs künftige Atomkraftwerke dann auch mit EU-Geldern gefördert werden könnten.
Klarheit bis Jahresende
Frankreichs Präsident, so heisst es, werde noch vor Jahresende offiziell erklären, wie Frankreichs Energieversorgung der Zukunft aussehen solle. Die Rede ist davon, dass er, trotz aller katastrophalen Erfahrungen bisher, den Bau von sechs weiteren EPR-Reaktoren im Land ankündigen könnte.
Zwei AKW-Standorte mit alten Atommeilern – Tricastin im Rhônetal und Gravelines an der Ärmelkanalküste – haben bereits ihre Kandidatur für den Bau auf ihrem Gelände in den Ring geworfen.
Da es derzeit in Frankreich zudem auch so gut wie keine Opposition mehr gegen die Kernkraft gibt, ja selbst die Grünen nicht mehr wirklich einen Ausstieg fordern, deutet so ziemlich alles darauf hin, dass das Land weiter strikt auf Atomkurs bleibt. Der Versuch, den Atomanteil an der Stromproduktion von über 70 zumindest auf 50 Prozent zu reduzieren, dürfte gescheitert sein.