Ein halbes Jahrhundert lang war Frankreichs Atomenergie etwas, zu dem das Volk nichts zu sagen hatte, eine geheime, undurchsichtige Angelegenheit. Die massgeblichen Schritte für den Ausbau der französischen Atomindustrie wurden nicht etwa erst geraume Zeit lang öffentlich diskutiert und dann vom französischen Parlament beschlossen, sondern - wie es in einer republikanischen Monarchie eben möglich ist - per Dekret verordnet.
Nun aber scheint, erstmals überhaupt in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie in Frankreich, eine echte Energiedebatte unausweichlich – schliesslich sind in 10 Monaten Präsidentschaftswahlen, und es ist nach Fukushima und den Ausstiegsbeschlüssen in den Nachbarländern Deutschland, Schweiz und Italien schlicht nicht vorstellbar, dass die Atomenergie im französischen Wahlkampf nicht eines der beherrschenden Themen sein wird.
Sarkozy: Augen zu und durch
Staatspräsident Sarkozy kommt dies alles andere als gelegen. Wenige Wochen nach der Katastrophe von Fukushima war er zu Frankreichs grösstem Atomkraftwerk, nach Gravelines an der Kanalküste geeilt, um sich dort demonstrativ hinter die französische Atomindustrie zu stellen und zu verkünden, ein Atomausstieg Frankreichs käme einem Rückschritt ins Mittelalter gleich. Und noch letzte Woche, bei einem Besuch in der Region Burgund, wo in zwei Atomanlagen über 2 000 Menschen beschäftigt sind, hatte man den Eindrück, der Präsident musste bei Fragen zum Thema Ausstieg aus der Atomenergie an sich halten, um die Beherrschung nicht zu verlieren.
Die Katatstrophe von Fukushima sei schliesslich nicht durch ein Erdbeben, sondern durch den Tsunami enstanden, so der Präsident. „Wenn ich mir aber die Region Burgund anschaue“, so giftete er, „ist ein Tsunamirisiko hier nicht wirklich offensichtlich. Wir werden doch nicht die Atomproduktion stoppen in einer Region, die nun wahrlich nichts von einer grossen Küstenlandschaft hat.
Generationen von Ingenieuren haben schliesslich für die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs im Nuklearsektor gearbeitet und jetzt führen Aufgeregtheit, mangelnde Kaltblütigkeit und die unmittelbare Mediendebatte dazu, dass Entscheidungen getroffen werden, die schlicht unglaublich sind. Wir sind doch, was die Atomenergie betrifft, Erben einer Geschichte, und man kann doch nicht, weil es in Japan einen Tsunami gegeben hat, der Meinung sein, dass man dieselben Regeln auch in Regionen anwenden muss, die weit vom Meer entfernt liegen.“ „Natürlich", so räumte der Präsident ein, „gibt es die Entscheidung der Deutschen. Ich kritisiere diese Entscheidung nicht. Das ist deren Wahl, die im übrigen aber auch dort sehr umstritten ist. Die Deutschen schalten ihre Reaktoren ab, sie werden sie aber durch etwas ersetzen müssen. Frankreich ist natürlich Kandidat, um ihnen Strom zu verkaufen. Und das verschafft uns eher eine vorteilhafte Wettbewerbssituation.“
Energie – Elektrizität
Auch der Vorsitzende von Präsident Sarkozys UMP-Partei, Jean Francois Coppé, wies, wie ein treuer Soldat, jeden Ausstiegsgedanken weit von sich, unter anderem mit dem seit Jahrzehnten bemühten und doch falschen Argument, die Atomkraft beschere Frankreich Unabhängigkeit bei der Energieversorgung. Frankreich beziehe fast 80% seiner Energie aus der Atomkraft. Ein kleiner, von Frankreichs Atomlobby bewusst eingesetzter semantischer Fehler, der in die Irre führt: es sind fast 80% der Elektrizität, aber nur 15% der im Land verbrauchten Energie, die aus der Atomkraft kommen. Und selbst was Frankreichs Unabhängigkeit für die Versorgung mit Elektrizität angeht, liegen die Dinge nicht so einfach. Seit Jahren schon bezieht die Atomindustrie das Uran aus dem Ausland, zum Beispiel aus dem Niger, einer geopolitisch höchst unstabilen Region - mehrere Mitarbeiter der dortigen Uranmine des französischen Atomkonzerns Areva sind seit Monaten Geiseln von Al Khaida im Maghreb.
Nationaler Atomkonsens bekommt Risse
Auch wenn es sehr zum Missfallen des französischen Präsidenten ist, der sich seit seinem Amtsantritt im Ausland regelmässig als Handelsvertreter für französische Atomtechnologie betätigt hat: in Frankreich selbst ist, wenn auch sehr zögerlich, in diesen Wochen eine ernsthafte Diskussion über das Für und Wider der Atomenergie in Gang gekommen. Der weitreichende Atomkonsens, von der kommunistischen Partei bis zur rechtsextremen Nationalen Front und fast allen Gewerkschaften, scheint erste Risse zu bekommen.
So gerät etwa die Zustimmung der sozialistischen Partei zu Frankreichs Atomenergiepolitik zumindest ein wenig ins Wanken. Einzelne Abgeordnete, die seit langem ökologische Themen in der Partei stärker zur Geltung bringen möchten, finden langsam mehr Gehör. Die für Energiefragen zuständige Abgeordnete, Aurelie Filipetti, sagt offen, sie wünsche sich, dass ihre Partei aus dem, was in Fukushima passiert ist, klare Konsequenzen ziehe und sie persönlich hoffe, jetzt Dinge in Bewegung bringen zu können.
Nicht zu Unrecht verweist sie darauf, dass der sozialistische Fraktionsvorsitzende im Parlament nach Fukushima immerhin drei Dinge sehr deutlich gefordert hatte: in Frankreich keine neuen Reaktoren mehr zu bauen, die Laufzeitverlängerungen für alte Reaktoren auszusetzen und dass man die Politik des französischen Nuklearexports in Frage stellt. Das sei doch schon ein erster, konkreter Effekt, so Filipetti.
Im gerade verabschiedeten Programm der französischen Sozialisten für die Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr steht allerdings nichts zum Atomausstieg. Jedoch, sagte Martine Aubry, Parteichefin und mögliche Präsidentschaftskandidatin, bei der Vorstellung dieses Programms, persönlich hätte sie sich gewünscht, den Atomausstieg darin aufzunehmen, die Postionen in der Partei seien aber noch zu kontrovers.
Und auch ihr Kontrahent im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur, der ehemalige PS-Vorsitzende, François Hollande, plädiert dafür, sich von der Atomkraft zu emanzipieren und wird relativ konkret. „In Deutschland“, so Hollande, „kommt der Strom bisher zu 22% aus Atomkraftwerken, in Frankreich zu 75%. Man kann diesen Anteil hierzulande, wenn man grosse Anstrengungen macht, bis 2025 auf 50% zurückfahren und das hiesse, wir würden dieselben Anstrengungen machen, wie die Deutschen“.
Ausserdem, und das ist beachtlich, spricht sich François Hollande dafür aus, angesichts der bereits getätigten Investitionen den ersten EPR-Reaktor in Flamanville zwar zu Ende zu bauen, jedoch die Technologie dieses europäischen Druckwasserreaktors nicht weiter zu verfolgen.
Druck der Grünen
Frankreichs Sozialisten, so viel ist heute schon sicher, werden an dem Thema Atomausstieg im kommenden Jahr nicht vorbeikommen. Denn wollen sie die Präsidentschaftswahlen und die darauf folgenden Parlamentswahlen gewinnen, bedarf es gewisser Absprachen mit den anderen Kräften der Linken, besonders mit den Grünen. Und die setzen jetzt schon Frankreichs Sozialisten gewaltig unter Druck.
Der Abgeordnete Noel Mamere sagt ganz klar, Frankreichs Grüne und alle Umweltschützer würden nicht akzeptieren, dass die Sozialisten einer Atomdebatte mit ihnen aus dem Weg gehen und man keinen Kompromiss findet. Es sei nicht vorstellbar, dass die Grünen Wahlabsprachen mit den Sozialisten hinsichtlich der Parlamentswahlen treffen, wenn über den schrittweisen Atomausstieg in den nächsten Monaten keine Einigung zustande kommt. Es müsse jetzt endlich eine echte Energiedebatte in der französischen Gesellschaft geführt werden, die bisher nie stattgefunden hat, weil man in Frankreich die gesamte Atombranche ohne jede öffentliche Diskussion und per Dekret dem Land einfach verordnet hat.
Selbst Konservative bekommen Zweifel
Inzwischen haben aber sogar 40 Abgeordnete der konservativen UMP-Partei ein Gesetzesvorhaben eingebracht mit dem Ziel, im Land eine echte Energiedebatte zu führen, und im Strassburger Stadtparlament haben die Konservativen jüngst mit Sozialisten und Grünen für die Abschaltung des AKW Fessenheim gestimmt.
Die ehemalige Umweltministerin unter Präsident Chirac, Corinne Lepage, stellt schliesslich in einem gerade erschienen Buch die Atomenergie in Frankreich noch aus einem ganz anderen Blickwinkel in Frage, nämlich unter finanziellen und industriestrategischen Gesichtspunkten. „Ich bin nicht sicher“, sagt Corinne Lepage, „dass die Atomenergie ökonomisch gesehen eine gute Wahl ist. Man braucht sich nur Unternehmen wie Siemens oder General Electric anzuschauen, die sagen: Wir stecken heute kein Geld mehr in die Atomenergie, das ist nicht mehr die Energie der Zukunft. Sie setzen auf Solar- oder Windenergie. Angesichts dessen frage ich mich, ob die industrielle Strategie Frankreichs nicht selbstmörderisch ist".
Denn die Atomindustrie macht die Entwicklung von „grünen Energien“, von Arbeitsplätzen und Spitzenunternehmen in diesem Bereich, schlicht unmöglich. Es ist ökonomisch eben nicht möglich, eine Atomindustrie in einem Ausmass zu haben, wie Frankreich sie hat, und gleichzeitig einen grossen industriellen Sektor der erneuerbaren Energien zu entwickeln.
Corinne Lepages Buch heisst "Die Wahrheit über die Kernenergie". Darin räumt sie auch mit einer ganzen Reihe von Legenden auf, etwa mit der, wonach die Atomenergie den Franzosen einen Strompreis beschert, der um 40% unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Formal stimmt dies zwar, aber, so Corinne Lepage: „Im Strompreis, den wir zahlen, sind nicht die gesamten Kosten enthalten. Denn die Stilllegung und die Abrüstung der Atomreaktoren wird man irgendwann ja auch bezahlen müssen. EDF hat dafür 14 oder 15 Milliarden Euros zur Seite gelegt. Wenn man aber englischen oder schwedischen Berechnungen glaubt, so müsste man für die Abrüstung der AKW in Frankreich nicht 15, sondern 150 bis 200 Milliarden provisionieren. Wenn man die Abrüstung der AKW und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle nicht mit einkalkuliert, kann man natürlich einen sehr niedrigen Strompreis anbieten“.
Themen über Themen
Der Strompreis wäre nur eines von vielen konkreten Themen, über das die Franzosen diskutieren könnten, wenn in den nächsten Monaten eine Atomenergiediskussion wirklich in Gang käme. Ein anderes Thema, das seit Jahrzehnten unter den Teppich gekehrt wird, wäre die Wirtschaftlichkeit und der Sinn der atomaren Wiederaufarbeitung.
Wenn im Rahmen einer echten Energiedebatte alle Karten auf dem Tisch liegen würden, dann würde nämlich auch eine breite Öffentlichkeit erfahren, dass die berühmte Wiederaufarbeitungsanlage im nordwestfranzösischen La Hague mittlerweile so gut wie keine Aufträge aus dem Ausland mehr bekommt und dass in den 58 Reaktoren Frankreichs nur knapp 15% des wiederaufgearbeiteten Urans auch wirklich eingesetzt werden, der Rest wird gelagert - auf dem Gelände der Urananreicherungsanlage von Tricastin im Rhonetal und in … russischen Atomanlagen. Der Grund: Der AKW-Betreiber EDF bevorzugt Brennelemente mit frisch angereichertem Uran.
Und schliesslich – aber man wagt es ja fast nicht zu hoffen - könnte man dann auch über das Plutonium sprechen, das bei der Wiederaufarbeitung in La Hague anfällt und mit dem Frankreich nicht mehr weiss, wo hin - so viele Atombomben, für die man das Plutonium braucht, kann man gar nicht bauen, damit die angesammelten Reserven - wie viele genau ist natürlich striktes militärisches Geheimnis – zumindest geringer werden. Also haben Frankreichs Atomingenieure, um den Plutoniumberg abzubauen – vor rund 25 Jahren einen neuen Brennstoff für AKW entwickelt, das so genannte MOX - welches zwischen 5 und 7 % Plutonium enthält.
Diesen Brennstoff hat Frankreichs Atomkonzern AREVA auch für den Reaktor No. 3 in Fukushima geliefert, dessen Kern bekanntermassen geschmolzen ist, bzw. weiter vor sich hin schmilzt - mit anderen Worten: Französisches Plutonium, der hochgiftigste Stoff überhaupt, ist in Japans Atmosphäre gelangt. Doch darüber spricht man in Frankreich bislang nur ganz selten …
Nervosität
Im Regierungslager und in der Umgebung des Staatspräsidenten wird beim Thema Atomenergie jedenfalls eine gewisse Nervosität fast täglich spürbarer. Industrieminister Besson, der sich bis letztes Jahr um das Ressort der Einwanderung, der Ausweisungen und der Nationale Identität gekümmert hatte, sorgte letzte Woche bei der Aufzeichnung einer Fernsehsendung zum Thema Atomsicherheit für einen Eklat. Weil ihm die Fragen nicht gefielen und ein aufgezeichneter Beitrag eingespielt wurde, in dem einer von 20 000 Leiharbeitern, die in Frankreichs AKW die Wartungsarbeiten verrichten, über unzulängliche Sicherheit sprach, riss der Minister sein Mikrophon vom Revers, knallte es auf den Tisch und verliess das Studio mit den Worten: „Es reicht mir jetzt, ich hau ab, .. fait chier.“
Dass gerade bei Monsieur Eric Besson die Nerven blank liegen, hat allerdings seinen Grund. Der Industrieminister ist – schon wieder einer, der die Ämter häuft - gleichzeitig auch noch Bürgermeister einer kleinen Stadt, Donzerre, im Rhonetal. Die liegt nur einen Steinwurf von Frankreichs grösstem Atomkonglomerat entfernt, vom Atomkraftwerk und der Urananreicherungsanlage Tricastin …