Das deutsche Parlament hat heute Morgen mit grosser Mehrheit die Armenien-Resolution verabschiedet. Darin werden die Vertreibung und die Massaker an Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915/1916 als Genozid erklärt.
„Wir sitzen hier nicht zu Gericht“, sagte der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan. „Das ist keine Anklageschrift, sondern eine Verneigung vor den Opfern.“
29 Länder mit ähnlichen Beschlüssen
Schon dieser Satz zeigt, dass da hinter dem forschen Diskurs einige Zweifel nisten. Man mag noch so heftig beteuern, es gehe nicht um ein Urteil. Eine Resolution, in der es schon in der Überschrift heisst „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern“ ist ein Urteil über ein historisches Ereignis, nicht mehr und nicht weniger.
Gestützt auf derartige Beschlüsse - bislang haben 29 Länder der Welt einen Völkermord an den Armeniern anerkannt - könnten die Nachkommen der betroffenen armenischen Familien und anderer christlicher Minderheiten möglicherweise die Forderung nach Entschädigung erheben. Wieviel Jahrhunderte rückwärts ist ein Staat zur Entschädigung verpflichtet? Welche Rolle spielte das Deutsche Reich bei der Vertreibung der Armenier?
Völkerrechtliches Glatteis
Allein diese Fragen geben eine Vorstellung von dem völkerrechtlichen Glatteis, welches man da betritt. Daher ist es nur allzu verständlich, dass man sich im deutschen Bundestag nach Kräften bemühte, von einem „reinen Akt des Gedenkens“ zu reden.
Das ist formal in Ordnung, denn selbstverständlich ist ein Parlament kein Gericht, welches Urteile zu fällen hätte. Aber selbst wenn ein Parlament Justizaufgaben hätte, gilt die Regel: Gerichte haben die Wahrheit über konkrete Straftaten zu suchen, nicht aber die Wahrheit über historische Ereignisse, die 100 Jahre zurück liegen. Letzteres ist Sache der Historikerinnen und Historiker.
Historische Einschätzung ist nie abgeschlossen
Dabei gilt grundsätzlich, dass historische Forschung nie abgeschlossen ist. Sie ist ein Diskussionsprozess, der über Generationen weitergeführt wird. Jede Generation hat ihre eigene ideologische Optik beim Betrachten des Vergangenen. In diesem Diskussionsprozess muss stets von neuem der letzte Stand des quellenkundlich Begründbaren verhandelt werden. Die Bewertung eines bestimmten historischen Geschehens hat sich oft innerhalb von wenigen Jahrzehnten ins Gegenteil verkehrt.
Daher ist es absurd, eine „historische Wahrheit“ per Beschluss festlegen zu wollen. Man wolle „nicht den moralischen Zeigefinger erheben, sondern Geschichte aufarbeiten“, betonte Cem Özdemir, Chef von Bündnis90/Die Grünen, in seiner Rede vor dem Bundestag. Und genau da unterliegt er einem grossen Irrtum. Es ist nicht Aufgabe und liegt nicht in der Kompetenz des deutschen Parlamentes, Geschichte aufzuarbeiten und Urteile über historische Ereignisse zu fällen. Ob 1915 ein Völkermord stattgefunden hat oder nicht, möchte ich jedenfalls nicht vom deutschen Bundestag erfahren, sondern von der historischen Forschung.
Erdogans erster kleiner Schritt
Solche grundsätzlichen Überlegungen sind aber in den deutschsprachigen Medien – soweit ich sie momentan überblicke – keiner Rede wert. Statt dessen wird ausgiebig darüber spekuliert, ob es politisch vernünftig ist, die Resolution in einem Moment zu verfassen, da die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei wegen der Flüchtlingskrise extrem angespannt sind.
Immerhin hat Recep Tayyip Erdogan 2014 als erster türkischer Staatspräsident dem armenischen Volk sein Beileid für „das Leiden“ ausgesprochen und damit einen ersten kleinen Schritt getan in Richtung auf eine schwierige Aufarbeitung der Vergangenheit. Ob der deutsche Bundestag mit seinem Beschluss, „Fakten zu schaffen“, dieser Aufarbeitung förderlich ist, darf in Frage gestellt werden.