Premierminister Michel Barnier steht eine erniedrigende Schlappe bevor. Der Regierungschef hat gestern mangels eigener Mehrheit den Haushalt für die Sozialversicherung per Sonderregelung durchs Parlament gedrückt. Diese Sonderregelung zieht allerdings einen Misstrauensantrag nach sich. Der ist deponiert und könnte an diesem Mittwoch die Regierung zu Fall bringen.
Als vor gut drei Monaten niemand verstand, warum Präsident Macron nach dem Desaster der von ihm ausgelösten Neuwahl zur Nationalversammlung nach langem Zögern ausgerechnet den altkonservativen Michel Barnier zum Premierminister ernannte, konnte man dem Brexit-Verhandler, Ex-EU-Komissar und in Frankreich seit den 1970er Jahren zigfachem Minister wenigstens zu Gute halten, dass er Erfahrung im politischen Alltagsgeschäft mitbringt.
Über den Tisch gezogen
Doch diese Erfahrung scheint Barnier in der aktuellen Situation auf der ganzen Linie abhanden gekommen zu sein. Denn er hat sich im Vorfeld der Haushaltsdebatte in der Nationalversammlung von Marine Le Pen und der extremen Rechten regelrecht erpressen und über den Tisch ziehen lassen, ohne das gewünschte Ziel zu erreichen, und sitzt jetzt vor einem Scherbenhaufen.
Barnier musste angesichts der enormen Verschuldung Frankreichs – 112% des Brutosozialprodukts – für das Jahr 2025 ein Sparbudget vorlegen. 60 Milliarden Euro an Einsparungen oder Steuererhöhungen mussten irgendwie her, um die Neuverschuldung von 6% im Jahr 2024 zumindest auf 5% im Jahr 2025 zu senken. Also legte Michel Barnier einen Sparhaushalt vor , der auch das gestern diskutierte Budget für die Sozialversicherung beinhaltete.
Marine Le Pen forderte angesichts dieses Haushaltsentwurfs im Verlauf der letzten Wochen ein Zugeständnis nach dem anderen, und Premierminister Barnier gab nach und ging ihr in die Fänge.
Barnier diskutierte mit der extremen Rechten, während mit dem Bündnis der Linken, der stärksten Fraktion in der Nationalversammlung, von Seiten des Regierungschefs keinerlei Austausch stattfand, um Kompromisse zu finden.
Die extreme Rechte aber hatte der Premierminister täglich am Telefon oder im Verhandlungszimmer, wo Barnier ihr ein ums andere Mal nachgegeben hat – keine Erhöhung der Steuern auf Elektrizitätsrechnungen, zusätzliche Einschränkungen bei ärztlichen Hilfen für Ausländer ohne Papiere etc.
Der Premierminister hat Zugeständnisse gemacht, dabei bis Montagmittag noch mit Le Pen verhandelt, hat sich erniedrigt und Marine Le Pen die Schuhe gewienert – doch genützt hat es nichts. Die rechtsextreme Fraktion des «Rassemblement National» hat sich für den Sturz der Regierung entschieden.
Extrem seltene Konstellation
Frankreich musste also zusehen, wie die extreme Rechte einen Regierungschef regelrecht vorführen und an der Nase herumführen kann. Und wird an diesem Mittwoch oder Donnerstag höchstwahrscheinlich erstmals erleben, wie die extreme Rechte einem Misstrauensantrag der vereinten Linken zustimmen wird und damit für die nötige Mehrheit zum Sturz der Regierung sorgt.
In der Geschichte der 5. Republik ist es erst das zweite Mal überhaupt, dass eine Regierung durch ein Misstrauensvotum zu Fall kommt. Das erste und bislang letzte Mal war dies 1962, als eine Regierung unter Premier Pompidou gestürzt wurde. Damals waren Neuwahlen der Ausweg. Diesen Ausweg gibt es aber aktuell nicht, Neuwahlen sind erst wieder im kommenden Sommer, ein Jahr nach den letzten Parlamentswahlen, möglich.
Finanzmärkte werden nervös
Diese Regierungs-, ja, Systemkrise, gepaart mit hohen Staatsschulden und einer erneut schwierigen Wirtschaftslage, sowie die Tatsache, dass das Land aktuell keinen Haushalt hat, sorgen inzwischen auch für Nervosität an den Finanzmärkten. Frankreich musste vergangene Woche mit 3,05% höhere Zinsen bezahlen als Griechenland, und die Staatsanleihen verloren deutlich an Wert im Vergleich zu den als Masstab dienenden deutschen Staatsanleihen. Der Spread kletterte auf 0,9% , was seit der Eurokrise 2012 nicht mehr der Fall war.
Selbst die Sprecherin der Regierung Barnier warnte vergangene Woche bereits vor «griechischen Verhältnissen» .
Präsident Macron wird sich ab Ende der Woche auf die Suche nach einem neuen Premierminister und einer neuen Regierung machen müssen, was immer mehr als eine schier unlösbare Aufgabe erscheint, zumal angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der Unfähigkeit der Parteien, Koalitionen einzugehen, erneut nichts anderes als eine Minderheitsregierung möglich scheint.
Wie angesichts dieser Situation bis zum Jahresende – so sieht es die Verfassung vor – zwei weitere Haushaltsgesetze verabschiedet werden sollen, steht in den Sternen.