Eine ganzseitige Anzeige hat sich Roger Köppel, Verleger und Chefredaktor der «Weltwoche», am vergangenen Donnerstag in der NZZ gekauft. Dort spielte er sich sozusagen zum Sprecher Präsident Putins auf und las nicht nur der Schweiz, sondern dem ganzen Westen die Leviten. Es geht um Putins «letzte Warnung».
Köppel ist ein aktiver Mensch, vielleicht ein hyperaktiver. Jedenfalls keiner, der sich damit begnügt, in der Redaktionsstube zu sitzen, sondern gerne ausschweift und in jüngerer Vergangenheit einen offensichtlich zunehmenden Drang verspürt, die Nähe grosser, einflussreicher und vor allem autoritärer Figuren zu suchen. Viktor Orban umgarnt er schon fast penetrant und organisiert ihm Plattformen, auf denen die beiden Herren ihren Fantasien, wie die Welt eigentlich gut werden könnte, freien Lauf lassen.
Viel wichtiger als der kleine Orban ist allerdings der grosse Putin, dessen Türen dem Schweizer laut Presseberichten offen stehen, mindestens einen Spalt breit. Unlängst traf man sich am Schwarzen Meer in Sotschi wieder, einem olympischen Ort, wo der Chefredaktor aus der Schweiz dem russischen Kriegsherrn mit grosser Ehrerbietung unter die Augen trat, wie der «Tages-Anzeiger» (20.11.24) zu berichten wusste.
Vorbilder aus dunkler Zeit
Es hat während des Zweiten Weltkriegs eine Phase gegeben, in der eine ganze Reihe schweizerischer Persönlichkeiten ebenfalls den Drang verspürten, Kontakte mit «grossen» Männern zu pflegen, nicht in Russland, aber in Deutschland. Es waren Herren am äussersten rechten Rand des politischen Spektrums, die erfüllt waren von ihrer Bewunderung für die Wehrmacht und das neue Deutschland unter Hitler insgesamt. Zu nennen ist etwa alt Bundesrat Jean-Marie Musy, der schon vor dem Krieg in Verbindung mit Heinrich Himmler stand. Oder Eugen Bircher, Divisionär, Chefarzt, Nationalrat (BGB, heute SVP), der intensive Kontakte mit zahlreichen Wehrmachtsoffizieren pflegte und während des Kriegs die umstrittenen – und reichlich unneutralen – Ärzte-Missionen an der deutschen Ostfront leitete.
Oder Oberst Gustav Däniker, Kommandant der Schiessschule Walenstadt und Unterzeichner der «Eingabe der 200», welche den Bundesrat im November 1942 dringend aufforderte, strikte Neutralität zu halten, auf jede Kritik oder gar Brüskierung Deutschlands zu verzichten und jene Presseorgane «auszumerzen», die sich nicht an die Vorgaben hielten (anvisiert waren NZZ, Basler Nachrichten, Bund, Weltwoche u. a.).
Man kann Roger Köppel nicht vorwerfen, er visiere auf seiner NZZ-Seite ein gleiches Mass an Anpassung oder Unterwerfung an, wie das die erwähnten Herren in den 1940er Jahren taten. Aber gewisse Ähnlichkeiten sind den Akteuren von damals und heute nicht abzusprechen – was daran liegt, dass sie die Chefintendanten der grossen Dramen (Hitler, Putin) grundsätzlich positiv beurteilen und sich bemühen, die Verantwortung für die Katastrophen von diesen abzuwenden und prinzipiell aufs Konto des weltfremden demokratischen Westens zu schieben.
«Als Querschläger durch Europa fliegen»
Wie beispielsweise der erwähnte Oberst Däniker. Der unternahm im Frühjahr 1942 eine zweiwöchige Reise durch Deutschland und liess sich von zahlreichen Exponenten des Regimes erklären, weshalb die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz derzeit so miserabel seien. Seine gesammelten Erkenntnisse hielt er in einer Denkschrift fest, die später noch viel Staub aufwirbeln und den Verfasser seinen Job kosten sollte.
Für Dänikers deutsche Gewährsleute wie für ihn selber war evident, dass die Schuld an der Misere bei der Schweiz liege. Die sei mit Blindheit geschlagen und verstehe nicht, dass es sich «um einen Krieg auf weltanschaulicher Ebene» und für Europa um einen «Einigungskrieg» handle. Statt sich dieser Einigung (unter Nazi-Regie) anzuschliessen, stehe die Schweiz aber England und den USA besonders nahe, was den Ballistik-Spezialisten Däniker zur warnenden Feststellung bewog: «Wir bilden uns merkwürdigerweise (…) sehr viel darauf ein, fernerhin als ‹Querschläger› durch ein neues Europa zu fliegen.»
«Krieg oder Neutralität»
Roger Köppel sieht die Lage so: «Neutralität oder Krieg: Das ist die Alternative für die Schweiz. Wir müssen uns entscheiden. Nach dem Einmarsch der Russen hat der Bundesrat den Kopf verloren. Die Schweiz ist gegen die Atommacht Russland heute Kriegspartei, eingeschmiedet in die westliche Phalanx der Sanktionen, die das Ziel verfolgen, wenn auch nicht erreichen, Russland auszuhungern.»
Und wie einst Däniker, der den Widerstandsgeist als brandgefährlich einstufte, kommt Köppel zur Erkenntnis: «Die Aussagen Putins (mit ganz schwerem Geschütz aufzufahren) sollten wir ernst nehmen. Der Präsident zieht eine womöglich letzte rote Linie. Sollten sie die westlichen Moralapostel und selbsternannten Freiheitskrieger überschreiten, laufen wir in ein Inferno, vielleicht ein nukleares. Systematisch belügt sich der Westen, wenn er Putin belächelt als grössenwahnsinnigen Imperialisten. Den Russen geht es um die Sicherheit, die sie gegen eine ostwärts drängende Nato zu verteidigen glauben.»
Die Konstante: Der russische Imperialismus
Roger Köppel steht im Ruf, unter den Schweizer Journalisten in intellektueller Hinsicht zu den brillantesten zu gehören. Das wird wohl zutreffen. Und deshalb wäre eigentlich zu erwarten, dass ein solcher Weltgeist, wenn er schon einen derart grossformatigen Auf- bzw. Weckruf inszeniert, sich auch – zumindest skizzenhaft – auf die russische Geschichte einliesse. Die war meist bewegt, eine unverrückbare Konstante aber war der russische Imperialismus. Es handelt sich um eine in ganz wörtlichem Sinn raumgreifende Variante dieses Beherrschungsprinzips.
Köppel zitiert in seinem Putin-Papier, was ihm ein guter russischer Freund anvertraut hat. Das ist o. k., doch angenommen, die Neugier würde unseren Intellektuellen dazu bewegen, sein Ohr auch Personen in den baltischen Staaten, in Polen, der Moldau, der Ukraine oder anderswo zu leihen, müsste er sein Russland-Bild möglicherweise korrigieren. Die Bewohner dieser Länder haben – teils während Jahrhunderten – schmerzlich erfahren, was es heisst, im Einflussbereich des russischen Imperialismus zu leben. Daher überraschte es nicht, dass alle diese Völker nach dem Zerfall der Sowjetunion, als Moskaus Herrschaftsinstrumentarium vorübergehend praktisch inoperabel war, sich möglichst schnell und möglichst definitiv von Russland ab- und der EU und Nato zuwandten.
Vor der grossen EU-Erweiterung 2004 Richtung Osten fanden in den acht Ländern, die zuvor zum «Ostblock» gehörten, Referenden statt. Die Ja-Stimmenanteile lagen zwischen 67 und 94 Prozent. Ein überdeutliches Signal an Moskau. Und keine Regierung dieser acht Staaten wäre lange an der Macht geblieben, hätte sie sich gegen einen Nato-Beitritt ausgesprochen. Der ureigene Drang dieser Länder, im atlantischen Bündnis Schutz vor Russland zu finden, war immens. Diese Osterweiterung ist, was Kritiker zur Linken wie zur Rechten gerne ausblenden, komplett anders verlaufen als nach dem Krieg die von Stalin gelenkte Westerweiterung seines Imperiums. Keines der betroffenen Länder konnte damals frei darüber bestimmen, ob es dem Comecon (sowjetisches Pendant zur damaligen EWG) oder dem Warschauer Pakt beitreten möchte. Ungarn machte 1956 schlechte Erfahrungen, als es forderte, aus diesem Pakt auszutreten.
Die Renaissance der Dreifaltigkeit
Und noch ein Schritt weiter zurück in die Geschichte des Imperiums. Anno 1836 löste der renommierte Philosoph und Schriftsteller Pjotr Tschaadajew* (1794–1856) eine heftige Kontroverse aus, weil er die Dreifaltigkeit von Orthodoxie, Autokratie und Volkstümlichkeit in Frage stellte. Diese Staatsdoktrin war in den Augen der damaligen Herrscher der «natürliche» Rahmen dafür, dass die russische Gesellschaft sich harmonisch entwickeln konnte und die «ruski mir» (russische Welt) ein Gegengewicht darstellte zu den westlichen Demokratien, die mit ihrer Freiheitsvergötterung, ihren Individualismustheorien und «Schwatzbuden» (Parlamenten) die halbe Welt aus den Fugen brachten.
Heute, fast 200 Jahre später, sind Putin und seine Ideologen damit beschäftigt, diese Doktrin einer Renaissance zu unterziehen, inklusive einer mythologisch aufgeladenen Lebensform, in der Männer wieder echte Männer sind, die in den Krieg ziehen, für die gute Sache sterben und Heldenstatus erlangen, und Frauen wieder echte Frauen, die fünf, sechs oder mehr Kinder gebären. Und wie einst die Narodniki und Slawophilen, träumen heute auch ihre Nachkommen davon, das russische Modell werde der entgleisten (westlichen) Welt dereinst die Erlösung bringen.
Doch zurück zu Köppel, zum intellektuellen Publizisten, der, würde man meinen, mit dem kritischen Blick des Aufgeklärten die verwirrenden Metamorphosen analysiere, die sich derzeit in Russland abspielen. Doch nichts dergleichen. Publizist K. unterwirft sich fast demütig den roten Linien des Autokraten P. und empfiehlt nicht nur der Schweiz, sondern gleich dem ganzen Westen, dies ebenfalls zu tun. Irgendwie dem Frieden zuliebe. Er verliert keinen Gedanken daran, dass der Kreml-Chef so ungefähr alle völkerrechtlichen Regeln missachtet.
Bücklinge, die den Blick verengen
Besonders irritierend ist die Missachtung mit Bezug auf das Budapester Memorandum, dessen 30. Jubiläum in diesen Tagen eigentlich zu feiern wäre. Nur, zu feiern gibt es gar nichts. 1994 vereinbarte der Kreml mit Kasachstan, Weissrussland und der Ukraine einen Deal: Die drei einstigen Sowjetrepubliken überstellen der Russischen Föderation sämtliche auf ihren Territorien stationierten Atomwaffen. Als Gegenleistung erklärte Russland, die Souveränität und Unabhängigkeit dieser Staaten innerhalb der bestehenden Grenzen zu respektieren und keine Waffengewalt gegen sie anzuwenden.
20 Jahre später annektierte Putin die Krim, 2022 lancierte er den Grossangriff auf die Ukraine, heute droht er ihr mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das alles blendet, weil nicht in sein Bild passend, unser Intellektueller einfach aus. Oder er hat einfach die Fähigkeit eingebüsst, die Irrgänge des Kremls überhaupt wahrzunehmen. Ähnlich wie seine Vorgänger einst im Bann ihrer Götzen in Berlin standen, unterliegt er seltsamerweise der Faszination, die der Machtmensch in Moskau auf ihn ausübt. Vielleicht hat er schon zu viele Bücklinge vor diesem Machtmenschen, also eine Haltung angenommen, die dem freien Blick nicht zum Vorteil gereicht.
Schade um die vielen Talente, die Roger Köppel hat.
*In seinem unlängst erschienenen Buch «Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich» (Verlag C. H. Beck) schildert der deutsche Historiker Jörg Baberowski eingehend den Antagonismus zwischen Westlern und Liberalen auf der einen, Slawophilen und Nationalisten auf der andern Seite.