Die Performance unseres Föderalismus in Corona-Zeiten schwächelt. Unser Land hat die Pandemie nicht sehr gut gemeistert – statt Selbstlob ist jetzt eine ehrliche Diskussion notwendig. Der Kantönligeist ist etwas angeschlagen.
Schon wieder Corona, Corona, Corona – Sie mögen des alles gar nicht mehr lesen? Okay, überspringen Sie diesen Beitrag, ich habe Verständnis dafür. Mein Wunsch ist es, dass unsere Politikerinnen und Politiker auf Bundes- und Kantonsebene etwas aus dieser «never-ending story» lernen würden: Unser föderalistisches System ist dringend reformbedürftig.
Unser Föderalismus ist das Problem
Da mag Gerhard Pfister, Nationalrat und Präsident von Die Mitte Schweiz, unseren Föderalismus in noch so hohen Tönen loben – man kann auch anderer Meinung sein. Schrieb Pfister doch im November 2021 in der NZZ: «Die Schweiz hat – bis jetzt – die Pandemie so gut wie kaum eine andere westliche Demokratie bewältigt. Der Föderalismus hat einen wichtigen Anteil daran. Gleichwohl hat er einen schweren Stand.»
Knapp drei Monate später herrscht weitherum eine gewisse Unsicherheit. Die Fallzahlen sprechen eine eigene Sprache. Während der Bundesrat im Dezember 2021 während Wochen beobachtete, die Kantone anmahnte und selber beharrlich schwieg, boten die Kantone ein Bild des wirren Durcheinanders.
Ehrlicherweise müssten sich die Verantwortlichen auf Bundes- und Kantonsebenen des Problems bewusst sein und sich lieber heute als morgen aufmachen, um die Krisenstellen zu eruieren und anschliessend das Modell Föderalismus gezielt anzupassen. «Der schwere Stand» dieser schweizerischen Staatsform – wie Pfister ihn beklagt – ist selbstverursacht. Vor allem drängt sich auf, dass das politische Entscheidungstempo in Omikron-Zeiten drastisch gesteigert wird. Das System der wöchentlichen bundesrätlichen Beurteilung und der widersprüchlichen Kantonsbeschlüsse hat nicht befriedigt.
Abwarten ist fahrlässig
In vergangenen Zeiten ist die Schweiz nicht schlecht damit gefahren, wenn die Behörden langsam, dafür wohl evaluiert, entschieden haben. Es liegt ja an der Staatsform, dass wir anstreben, Probleme fallweise von unten nach oben (Gemeinde, Kanton, Bund) zu meistern. Doch seit der Jahrtausendwende mehren sich Anzeichen, dass – als Folge der Digitalisierung – eine globale Tempobeschleunigung stattfindet. Diese macht uns mit unserem trägen System zu schaffen. Bis wir auf einem Gebiet nach Jahren der Diskussion endlich ein neues zeitgemässeres Gesetz verabschiedet haben (gegen das anschliessend gleich das Referendum ergriffen wird), hat sich die Situation oft bereits wieder geändert.
In Corona-Zeiten ist Abwarten fahrlässig. Dieses Zögern, Beobachten, Evaluieren, Unterbreiten zur Stellungnahme an die Kantone, um anschliessend vielleicht zu handeln – ist schlicht nicht das Rezept gegen eine weltweite Pandemie, bei der es um Leben und Tod geht. Noch Mitte Dezember 2021 liess der Bundesrat ausrichten, dass man weitreichende Massnahmen wie einen Lockdown für verfrüht halte. Tatsächlich hatten wir schon damals einen tiefen Graben zwischen der Wissenschaft auf der einen und Parteien sowie Wirtschaftsverbänden auf der anderen Seite. Es allen recht machen zu wollen – das Virus kümmerts wenig.
Die Geimpften bezahlen die Rechnung für die Zechpreller
Ich sage es deutlich: Die Zechpreller sind die Ungeimpften. Über 91 Prozent der Coronapatienten auf den Intensivstationen der Spitäler sind Ungeimpfte. Dringende Operationen anderer (z. B. Krebs-)Patienten mussten verschoben werden. Die Gesundheitskosten explodieren, die Steuerzahler bekommen die Rechnung mit Verspätung präsentiert.
Der Ethiker Peter Schaber äusserte sich unumwunden: «Unversehrtheit der Körper oder unantastbare Freiheit» als Argumentationen mit dem Fokus auf ‹ich, ich, ich› übersieht, «dass man ungeimpft die Unversehrtheit der Körper der anderen gefährdet und die Freiheit der gesamten Gesellschaft einschränkt.»
Bei den Pflegenden in unseren Spitälern hat sich viel Frustration aufgestaut. Nochmals Schaber: «Doch mit der zunehmenden belastenden Lage wächst auf der Seite der Geimpften die Wut auf die Ungeimpften, die die Gesellschaft quasi in Geiselhaft gehalten haben.»
Im «Tages-Anzeiger» meldeten sich die Leitungsteams der Intensivstationen in St. Gallen und Thun zu Wort: «Die mangelnde Solidarität der Ungeimpften stürzt das Gesundheitssystem in ein unlösbares Dilemma.» Die Fachpersonen meinen damit, dass je länger, je mehr alle anderen Patienten, deren Operationen verschoben werden müssen und die dadurch schlechtere Genesungsaussichten haben, die Folgen überlasteter Intensivstationen zu tragen hätten.
Doch so einfach ist es offensichtlich nicht. Eine andere Ethikerin, Andrea Büchler, Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, sagt dezidiert: «Es kann keine Impfpflicht geben, die staatlich angeordnet, polizeilich überprüft und durchgesetzt werden müsste. Jede Person soll selbst über ihren Körper bestimmen können.»
Ich kann dieser Sicht nicht beistimmen, wenn das gleichzeitig heisst, dass – bis wir die Seuche endlich in den Griff bekommen – der Alltag für alle immer mühsamer wird, täglich Menschen sterben, das Vertrauen der Bevölkerung in unsere politischen Entscheidungsträger erodiert.
Mangelndes Vertrauen
Die Bevölkerung eines Landes verliert das Vertrauen. Diese kulturelle Reaktion stellte die Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in einer Studie fest. Der Schluss trifft auf alle untersuchten Länder zu – auch auf die Schweiz. Haben Sie sich nicht auch schon gefragt, was das Schild «Generelle Maskenpflicht ausser beim Konsumieren im Sitzen» in Restaurants oder Zugsabteilen soll? Verschont etwa das Virus die Sitzenden?
Die Pandemie ist ein epochenprägendes Ereignis. Es drängt sich auf, daraus zu folgern, dass dieser neuen Gefahr nur durch neue Institutionen und Verfahren beizukommen sein dürfte. «Nach dem Krimkrieg wurde das Rote Kreuz, nach dem Ersten Weltkrieg der Völkerbund und nach 1945 die Vereinten Nationen gegründet», schreibt der «Tages-Anzeiger». Der weltweite krasse Mangel an langfristiger Planung im Hinblick auf solche Krisen wird augenfällig. Allerdings: Planung, Vorsorge, Risikoabschätzung – also mehr Staat, weniger Privatwirtschaft – gehe gar nicht, das wäre ja Vorschub für alle Linken (Sozialisten, Grüne), tönt es sogleich aus der bürgerlichen Ecke. Auch in der Schweiz.
Gesucht: ein neues schweizerisches Föderalismusmodell
1974 hatten sich im Leuchtensaal des «Bernerhofs» in Bern auf Einladung des Bundespräsidenten Ernst Brugger Politiker (und Politikerinnen?) am grossen Tisch zu einer «partnerschaftlichen Regierungskonferenz» versammelt. «Erklärtes Ziel war es, der offenkundigen Leistungs-, Vollzugs- und Koordinationskrise des Föderalismus zu begegnen», schrieben Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus in der NZZ.
Bald 50 Jahre später ist ein solcher Befreiungsschlag überfällig. Allerdings müssten an einem solchen symbolischen runden Tisch auch Wissenschaftler an Bord geholt werden. Damit zukünftig Bund und Kantone in einer Krisensituation wie gegenwärtig gemeinsam schnell entscheiden könnten. Es ginge wohl nicht ohne eine – auf den Krisenfall begrenzte – klar formulierte Aufgabenverlagerung nach oben, von den Kantonen zum Bund.
Adrian Vatter (*1965), der ausgewiesene Professor für Schweizer Politik, und Rahel Freiburghaus (*1994), Doktorandin, zwei Generationen vertretende Fachkräfte, plädieren im oben erwähnten Beitrag für das gemeinsame Denken einer Staatsleitungs- und Föderalismusreform. Sie fragen, ob die Zeit nach 174 Jahren Bundesstaatsgeschichte reif sei, um auch die ungleiche, prekäre und reformbedürftige kantonale Interessenvertretung im Bund zu reformieren. Solche Projektorganisationen haben in der Vergangenheit schon auf anderen Gebieten gewirkt. «Warum sollte deren Vorhaben nicht auf ein föderalismusspezifisches Mandat ausgedehnt werden?»
Herr Bundespräsident Ignazio Cassis, wir warten.