Seit Wochen ist das Datum des 5. Dezembers bei den Franzosen in aller Munde. Die Verkehrsbetriebe der Grossregion Paris mit ihren zwölf Millionen Einwohnern und die Staatsbahn SNCF haben ab diesem Datum zu unbefristeten Streiks aufgerufen.
Furcht um das Weihnachtsgeschäft
Inzwischen ist bekannt, dass an diesem Donnerstag nur rund zehn Prozent der Metros, Busse und S-Bahnen in der Region Paris und ebenso wenige Züge im gesamten Land fahren werden. Das Gespenst eines schwarzen Dezembers und einer ungemütlichen, extrem stressigen Vorweihnachtszeit steht im Raum.
Die Händler fürchten jetzt schon um das Weihnachtsgeschäft, Millionen Franzosen sorgen sich um das Reisen in den nächsten Wochen und um die Fahrt in die Weihnachtsferien. Und die Sorge wegen erneuter Gewaltausbrüche bei den Demonstrationen an diesem Donnerstag und am Samstag, wenn die Gelbwesten wieder mobilisieren, wird immer lauter.
Der Pariser Polizeipräfekt hat für Donnerstag sämtliche Geschäfte entlang der Demonstrationsstrecke zwischen Nordbahnhof und dem Platz der Nation – zirka 3 Kilometer – aufgefordert, ihre Rollläden herunterzulassen. Eine absolut ungewöhnliche Massnahme.
Es brodelt überall
Und es sind ja nicht nur die Eisenbahner und Bediensteten der Pariser Verkehrsbetriebe RATP. Fast täglich kam in den letzten Wochen eine neue Berufsgruppe hinzu, die zum Aufstand blies. Die Litanei ist von beeindruckender Länge. Rechtsanwälte, Polizisten, Feuerwehrleute, Krankenschwestern und Pfleger, die ohnehin seit Monaten auf den Strassen sind und den Zusammenbruch des öffentlichen Krankenhaussystems beklagen, werden streiken. Ebenso das Bodenpersonal von Air France, ein Teil der Flugsicherung, und auch bei Energiekonzernen und in den Raffinerien sind unbefristete Streiks angekündigt. Diesen Berufsgruppen werden sich auch Lastwagenfahrer, über 50 Prozent der Lehrer, Studenten, Polizisten, und Mitarbeiter der Müllabfuhr anschliessen.
Punktesystem
Macrons Rentenreform, die er in seinem Wahlprogramm Anfang 2017 angekündigt hatte, soll im Prinzip Schluss machen mit dem undurchsichtigen Wust von 42 verschiedenen Rentensystemen, die es in Frankreich gibt und von denen viele aus der Zeit nach 1945 stammen.
Damals hatte im Lauf des Jahres 1944 der Nationale Rat des Widerstandes (CNR) ein Sozialprogramm für ein neues und gerechteres Frankreich ausgearbeitet und zahlreichen Berufsgruppen, deren Arbeit als besonders beschwerlich eingestuft wurde, Sonderregelungen eingeräumt.
Nun soll ein Punktesystem eingeführt werden nach dem Motto: mit jedem eingezahlten Euro erhält am Ende jeder dieselbe Leistung. Was aber heissen würde, dass es für Beschäftigte aus rund drei Dutzend Berufsgruppen in Zukunft weniger gut aussieht. Noch meint der Innenminister, die Blockade des Landes werde nicht lange anhalten, denn schliesslich sei die angepeilte Reform nichts anderes als gerecht. Und die Regierung betont immer wieder, der Staat pumpe jährlich acht Milliarden Euro in die verschiedenen Rentensysteme – drei Milliarden allein für die Pensionen der Eisenbahner, 500 Millionen für die der Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe.
Dafür und dagegen
Glaubt man Umfragen, so sind zwei Drittel der Franzosen durchaus für die Abschaffung dieser Rentenprivilegien. Weil eine gute Portion Schizophrenie aber nicht fehlen darf, stehen angeblich gleichzeitig rund 60 Prozent der Franzosen hinter der Protestbewegung gegen diese Rentenreform.
Und es sind, wie schon gesagt, bei weitem nicht nur die Eisenbahner und Metrofahrer, die ihr Rentensystem behalten wollen. Besonders auch die rund 750’000 Lehrer im Land fürchten künftig Abstriche und auch viele Selbstständige, wie Anwälte, Architekten, Notare, Ärzte oder Einzelhändler sind überzeugt, mit dem vorgesehenen Punktesystem in Zukunft bei ihrer Rente schlechter gestellt zu sein als bisher.
Geringschätzung
Emmanuel Macron, der als der grosse Reformer angetreten ist und mit Vorschusslorbeeren überhäuft worden war, kommt inzwischen gewaltig ins Schleudern. Die mehrmonatigen Proteste der Gelbwestenbewegung haben ihre Spuren hinterlassen. Das Image des Präsidenten der Reichen wird er bis ans Ende seiner politischen Karriere nicht mehr loswerden. Über ein Jahr lang liefen die Verhandlungen über die Rentenreform – offensichtlich ohne Ergebnis. Am Ende steht eine Konfrontation mit den Unzufriedenen im Land, die sich zur schwersten Kraftprobe seiner Amtszeit entwickeln könnte.
Für Frankreichs Präsidenten rächt sich nun auch, dass er in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit die Gewerkschaften äusserst geringschätzig behandelt und jeden echten Dialog mit ihnen vermieden hat. Nach dem Motto: Ich, Jupiter, mit 66 Prozent der Stimmen gewählt, spreche direkt zu den Franzosen und sage ihnen, was richtig ist und wo es langgeht. Vermittelnde Instanzen wie Gewerkschaften, Verbände oder NGOs habe ich nicht nötig!
Macrons „Neue Welt“
Besonders die Gewerkschaften, so hat man den Eindruck, gehören in Macrons Kopf zu der von ihm immer wieder geschmähten, so genannten „Alten Welt“. In seiner, Macrons „Neuen Welt“, welche er schon 2017 in seinem Wahlkampfbuch unter dem gewagten Titel „Revolution“ skizziert hatte, sind Gewerkschaften eher eine Quantité négligeable.
Macron hat es mit diesem Verhalten sogar geschaft, die konstruktivste, aufgeschlossenste und mittlerweile auch grösste französische Gewerkschaft, die aus dem linkskatholischen Milieu hervorgegangene CFDT und ihren Chef, Laurent Berger, gründlich zu vergraulen. Berger, der umsichtige und vermittelnde Gewerkschaftschef, war im Prinzip für das Punktesystem und die Reform gewesen. Allerdings wollte er, dass die unterschiedliche Beschwerlichkeit von Arbeiten im neuen Rentensystem ihren Niederschlag angesichts der Tatsache findet, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von Arbeitern um fast zehn Jahre unter der von leitenden Angestellten liegt. Die Regierung schenkte ihm kein Gehör, Berger wandte sich enttäuscht ab und Präsident Macron hat einen wichtigen Partner verloren.
Vor einem Vierteljahrhundert
Der 5. Dezember als Auftakt zu den unbefristeten Streiks ist nicht zufällig gewählt. Immer wieder wird dieser Tage an das Jahr 1995 erinnert. Auf den Tag genau vor 24 Jahren begannen die Angestellten der Pariser Verkehrsbetriebe und der Staatsbahn SNCF einen sage und schreibe dreiwöchigen Streik, bis die damalige Regierung in die Knie ging. Der Anlass war im Grunde derselbe. Ein gewisser Alain Juppé, Premierminister unter dem frisch gewählten Präsidenten Jacques Chirac, wollte damals schon die Rentenprivilegien zahlreicher Berufssparten beschneiden, darunter die bei den Pariser Verkehrsbetrieben und bei der Eisenbahn, wo Angestellte heute noch im Alter zwischen 52 und 57 Jahren in Rente gehen können. Fast ein Vierteljahrhundert später scheint ein weiterer Versuch, daran zu rütteln, erneut zum Scheitern verurteilt.
Hilflos
Dafür, dass an Macrons Rentenreform nun schon seit eineinhalb Jahren gearbeitet und heftig über sie diskutiert wird, ist es ein ziemliches Armutszeugnis, wenn zum jetzigen Zeitpunkt de facto immer noch niemand in der Lage ist zu sagen, wie diese Rentenreform ganz konkret aussehen soll. Vielleicht, so heisst es unter anderem, werde das neue Rentensystem letztlich nur für künftige Berufsanfänger gelten. Dies würde allerdings bedeuten, dass die Auswirkungen der Reform erst in der zweiten Jahrhunderthälfte spürbar werden.
Diese Ungewissheit schuf Beunruhigung und Misstrauen in Dutzenden von unterschiedlichen Berufsgruppen. Präsident Macron, der die Rentenreform als die grosse Reform in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit präsentiert hatte, hat sich in eine Sackgasse manövriert, und kaum jemand weiss zu sagen, wann und wie er aus dieser wieder herauskommen wird. Den angekündigten Protest bezeichnete er jüngst als „étrange“, also als merkwürdig oder verwunderlich, angesichts der Tatsache, dass die exakten Konturen dieser Reform ja noch gar nicht bekannt seien. Aus dem Munde eines Präsidenten klingt dies reichlich hilflos.