Krieg, Gewalt und Vertreibungen sind unlösbar mit der Geschichte Europas verbunden. Auch wenn es aufgrund der langen friedlichen Periode der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anders erscheint: Europa hat sich wieder und wieder selbst zerfleischt. Es ist vor keiner Schandtat zurückgeschreckt.
Das Leid der Opfer
In seinen Analysen und Beschreibungen schwingt sich Ian Kershaw nicht zum Ankläger auf. Aber immer wieder betont er, wie unsäglich das Leid jener gewesen ist, die Opfer ethnisch-religiöser Verfolgungen, des Kriegsgeschehens und des politischen Fanatismus geworden sind. Es braucht günstige Rahmenbedingungen, damit Menschen gedeihlich zusammenleben können. Europa war zwischen 1914 und 1949 damit nicht gerade gesegnet.
Kershaw erzählt die jüngere europäische Geschichte wie einen Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Er beschreibt die handelnden Personen mit ihren Absichten, Obsessionen, Schwächen und Stärken. Zugleich lenkt er den Blick auf die Zwänge und Dynamiken, die sich aus spezifischen historischen Konstellationen ergaben. Die Alternative, ob es lediglich allgemeine Strukturen oder gesellschaftliche Entwicklungen sind, die sich in den handelnden Personen bündeln, oder ob es umgekehrt mehr oder weniger charismatische Figuren sind, die die Geschichte lenken, existiert für ihn nicht. Er bringt beide Faktoren zusammen.
Kriegsschuldfrage
Dabei wechselt er ständig die Perspektiven. Er beschreibt das Handeln auf der politischen und militärischen Führungsebene und zugleich lenkt er den Blick auf Stimmungen des Volkes, der Soldaten oder auch in der kulturellen Szene. Das eine greift bei ihm in das andere über, und auf diese Weise entsteht so etwas wie Zeitgenossenschaft. So erlebt der Leser die Kriegsbegeisterung von 1914 – jedenfalls in den europäischen Metropolen, weniger auf dem Lande – und die gedrückte Stimmung, in der die Menschen den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erwarteten.
Die meisten Leser, die das Buch zur Hand nehmen, sind ganz am Anfang auf eine Frage gespannt: Wie hält es Ian Kershaw mit der Kriegsschuldfrage im Jahr 1914? Immerhin hatte sein Kollege Christopher Clark vor wenigen Jahren in einem Bestseller die These vertreten, dass alle handelnden Persönlichkeiten wie Schlafwandler in das Verhängnis des 1. Weltkriegs hineingestolpert seien.
Ian Kershaw folgt dieser These, die durchaus einem Trend in der historischen Foschung entspricht, weitgehend, sieht aber die Hauptverantwortung doch bei der deutschen Führung. Denn diese hat mit der bedingungslosen Beistandsverpflichtung gegenüber Habsburg erheblich zur Eskalation der Serbienkrise beigetragen. Schlimmer noch: Das dröhnende Grossmachtgehabe Deutschlands hat in Europa und in Russland eine Stimmung gefördert, in der ein früher oder später ausbrechender Krieg als unausweichlich erschien.
Überblick und Details
Schon an diesen Schilderungen zeigt sich die Meisterschaft Kershaws. Er zeichnet die Ereignisse so detailliert nach, dass sich für die Leser ein stimmiges Bild ergibt. Aber er geht nicht so sehr in die Details, dass man sich darin verliert. Er breitet von Europa eine historische Landkarte aus, die ausreichend genau ist, aber stets den Überblick erlaubt.
Ohne diesen Blick für das Wesentliche auch im Detail und die übergreifenden Zusammenhänge liessen sich Vorgänge wie der spanische Bürgerkrieg nicht so konzise darstellen, wie es bei Kershaw geschieht. Er schildert, wie dieses Land mit seinen inneren Konflikten unversehens zum Austragungsort von ideologischen und machtpolitischen Konflikten wurde, die erst nach und nach ganz Europa in Brand setzen sollten. Eine bitter-ironische Pointe besteht darin, dass Spanien, als das übrige Europa zum Schlachthaus wurde, relativ ungeschoren am Rande Europas davonkam.
Brüchige Demokratien
Der englische Titel lautet: „To Hell and Back“. Dieser Titel ist sehr viel besser als der deutsche „Höllensturz“, denn er bildet die Bewegung ab, um die es Kershaw geht: Mit 1914 begannen die ersten Schritte Europas in den Abgrund. Schon hier wurde alles in den Schatten gestellt, was man sich vorher unter einem Krieg vorgestellt hat. Detailliert schildert Kershaw den Wahnsinn der militärischen Planer und das massenhafte industrielle Morden, das all jene Werte dementierte, auf die Europa einstmals stolz gewesen war.
Die nächsten Schritte, die Kershaw schildert, betreffen die Zwischenkriegszeit. Zunächst sah es so aus, als solle die Demokratie zur dominierenden Staatsform im neu geordneten Europa werden. Aber allzu schnell und allzu deutlich zeigte sich, dass in den meisten Ländern die Demokratie nicht funktionieren konnte, weil die politisch-geografische Neuordnung unsinnig war, weil Gebietsansprüche weitere Kriege wahrscheinlich machten oder weil verfeindete Ethnien nicht unter einem politischen Dach leben konnten.
Zusammenspiel der Verbrecher
Dazu kamen kulturell bedingte Nachteile wie der grassierende Klientelismus, insbesondere in Südeuropa. Das Hauptproblem aber war mittelbar eine Folge des Ersten Weltkriegs: Der Sieg des Kommunismus im Osten und das Aufkeimen des Faschismus, insbesondere in Italien und Deutschland. Mit diesen Ideologien im Zeichen der Weltwirtschaftskrise entstanden neue Konflikte, deren Wucht Europa noch einmal viel stärker erschütterte, als es der 1. Weltkrieg vermocht hatte. Wieder und wieder bringt Kershaw Zahlen, die das Ausmass des im Grunde Unvorstellbaren markieren.
Auch hier verzichtet Kershaw auf simple Schuldzuweisungen. Der Faschismus war verbrecherisch, aber der Kommunismus auch schon unter Lenin nicht minder. Trotzki war ebenfalls kein Unschuldsengel, und mit Stalin riss ein Mann die Macht an sich, der ebenso wenig von moralischen Skrupeln geplagt wurde wie Adolf Hitler und seine Schergen. Dazu kamen gewalttätige Bewegungen in einzelnen Ländern. Die Verbrecher spielten sich gegenseitig in die Hände, und Europa entkam dieser Hölle nur deswegen, weil irgendwann der Brennstoff zur Neige ging. Aber auch danach gab es Gewalt und Vertreibungen ohne Gnade – Kershaw hält Zahlen bereit, die einem die Haare zu Berge stehen lassen.
Rückkehr aus der Hölle
Der Erste Weltkrieg war die Vorhölle, der Zweite die eigentliche Hölle. Wie konnte Europa daraus herausfinden? Kershaw schreibt selbst, dass das unwahrscheinlich war. Ganz sicher haben die Amerikaner mit ihrem Eingreifen eine entscheidende Rolle gespielt, aber als Erklärung allein reicht das nicht aus. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Kershaws Beschreibungen der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland mit den „Spruchkammern“. Die schiere Zahl der aktiven Nazis und der Mitläufer, vom Militär gar nicht zu reden, machte es nahezu unmöglich, die Vergangenheit jedes Einzelnen auszuleuchten. Allein die Zahl der ausgefüllten Fragebogen stellte ein bürokratisch überhaupt nicht aufzuarbeitendes Problem dar.
Wie aber kam es zur Rückkehr aus der Hölle, zum Wandel, der Jahrzehnte des Friedens ermöglichte? Oder in den Worten Ian Kershaws: „In einem vom Krieg verwüsteten Kontinent war, mit Blick auf die Zukunft, die allererste Frage, ob und wie aus den Ruinen heraus ein neues Europa nach und nach Gestalt annehmen könnte; ein Europa, das in der Lage war, die selbstmörderischen Tendenzen des alten Kontinents zu überwinden.“
George Kennans Enttäuschung
Die Antwort, die Kershaw gibt, hat zwei Ebenen. Auf der politischen Ebene zeichnet Kershaw die Bestrebungen nach, die am Ende zum Europa von heute führten. Er betont, dass namentlich der US-Diplomat George Kennan unmittelbar nach dem Krieg auf eine Art „Vereinigte Staaten von Europa“ hinarbeitete und sehr enttäuscht war, als er damit auf keine Resonanz stiess. Aus heutiger Sicht ist es wiederum bemerkenswert, mit welcher Abneigung Grossbritannien auf den Gedanken an ein vereintes Europa reagierte. Die Engländer wollten schon damals nicht zu Europa gehören.
Es folgten aber politische und wirtschaftliche Prozesse, die Schritt für Schritt zu einem weitgehend friedlichen Europa geführt haben. Aber was lag denen zugrunde? Warum waren sie jetzt möglich und vorher nicht? Was hat einen derartigen Mentalitätswandel ermöglicht?
Einfluss Amerikas
Kershaw beantwortet diese Frage nicht direkt, aber er gibt einen Hinweis. Gegen Ende des Buches, am Anfang der letzten einhundert Seiten, beschreibt er das „Geschäft mit der populären Unterhaltung“. Darin schildert er, wie beliebt die Kinos wurden, wie dominant die amerikanische Tanz- und Jazzmusik und wie Hollywood zum kulturellen Magneten wurde. Und ohne Übergang schliessen sich diesen Schilderungen einige Absätze zum Aufstieg Europas aus der Asche an. Ist Kershaw der Meinung, dass die moderne Unterhaltungskultur buchstäblich zur „Entspannung“ beigetragen hat? Wahrscheinlich.
Leider hat es der Verlag versäumt, dem Buch ein brauchbares Inhaltsverzeichnis zu geben. Es gibt ein Inhaltsverzeichnis, aber das ist viel zu summarisch und effekthascherisch. Es wird den detailgenauen Analysen und Beschreibungen Kershaws nicht gerecht. Zwar gibt es ein gutes Personen- und Sachregister, aber das hilft nicht, wenn man noch einmal gezielt eine Passage nachschlagen möchte. Das Buch liest sich zwar wie ein Roman, aber es ist ein vorzügliches Sachbuch. Es verdient, als solches behandelt zu werden. Zumindest das E-Book sollte ein mehrseitiges Inhaltsverzeichnis bekommen, und vielleicht kann der Verlag es auch zur Werbung auf die Website stellen.
Ein zweiter Band von 1949 bis in die Gegenwart soll folgen. Man kann nur hoffen, dass er wieder derartig facettenreich und spannend wird wie dieser Band, den jeder Politiker lesen sollte. Denn selten ist so eindringlich wie hier geschildert worden, was für ein kostbares Geschenk der Geschichte ein einiges Europa ist. Und es ist extrem fragil.
Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder, DVA, München 2016, 768 Seiten