Wer immer der Meinung ist, die EU sei ein sinnvolles Friedensprojekt, sollte Ivan Krastevs Essay lesen. Wer dagegen überzeugt ist, die Union wäre ein Auslaufmodell, die europäische Zukunft läge in Brexit-ähnlichen Alleingängen, dem sei die Lektüre „Europadämmerung“ ebenso herzlich empfohlen. Schweizerinnen und Schweizern, welche die Turbulenzen innerhalb der EU oft etwas irritiert oder distanziert beobachten – auch ihnen könnte diese Lektüre nichts schaden. Sie ist eine aufwühlende Auslegeordnung.
Auflösungserscheinungen der EU?
Manchmal wissen wir etwas erst im Nachhinein zu schätzen, wenn es nicht mehr da ist. Damit erinnert der Autor an frühere geschichtliche Erfahrungen. Die EU, schon immer das Projekt auf der Suche nach einer Realität, betrachtet er mit einer gehörigen Portion Skepsis, ja, er befürchtet, dass jene Ideen, welche die EU einst zusammenhielten, langsam verblassten.
Krastev will die EU weder retten noch bedauern. Er bezeichnet sein Buch als Meditation über etwas, das nun wahrscheinlich bald geschehen wird, und er analysiert, wie unsere persönliche Erfahrung radikalen historischen Wandels unser gegenwärtiges Handeln prägt. Im kommunistischen Bulgarien geboren, spürt der Autor – Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien – dass die einzige Möglichkeit, mit der Gefahr eines Zerfalls der EU umzugehen, auf der unzweideutigen Erkenntnis basiert, dass die Flüchtlingskrise den Charakter demokratischer Politik auf nationaler Ebene dramatisch verändert hat. Er distanziert sich damit von der üblichen Meinung in Europa, die Krise der EU sei entweder auf fundamentale Mängel ihrer institutionellen Architektur (Einführung der Gemeinschaftswährung Euro) oder auf ihre Demokratiedefizite zurückzuführen. Zudem diagnostiziert er, „dass wir heute in Europa nicht bloss einen populistischen Aufstand gegen das Establishment erleben, sondern eine Rebellion der Wähler gegen die meritokratischen Eliten“.
Die Flüchtlingskrise
Krastev ist davon überzeugt, dass die Flüchtlingskrise ein Produkt der Globalisierung ist, und folgerichtig bezeichnet er sie als Europas 11. September („9/11“). Ja, er verweist die seit zehn Jahren andauernden Krisen innerhalb der EU – Eurozone, Brexit, Ukraine-Revolution – auf die weiteren Plätze, um die Flüchtlingskrise als einzige wirklich gesamteuropäische Krise, „die das politische, ökonomische und soziale Modell Europas in Frage stellt“, zu deklarieren. Osteuropa empfindet gerade jene kosmopolitischen Werte als Bedrohung, auf denen die EU basiert, während für viele in Westeuropa ebendiese Werte den Kern der neuen europäischen Identität ausmachen. – An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob Krastev mit dieser ausschliesslichen Fixierung auf Flüchtlinge/Migration nicht etwas zu weit geht. Auch dass er überzeugt ist davon, dass so viele Europäer im Strom der Migranten vorbehaltlos einen Beweis für das Versagen der Demokratie erblicken, ist natürlich seine persönliche Meinung.
Links-Rechts Schema überholt
Dass der Strom der Fremden (Flüchtlinge, Migranten) das herkömmliche Parteiengefüge durcheinandergebracht hat, darüber herrscht Einigkeit. „Die für das europäische Modell demokratischer Politik strukturell einst grundlegende Teilung in Links und Rechts vermag die gesellschaftlichen Spaltungen nicht mehr abzubilden.“ Es überrascht deshalb nicht, dass der neue postutopische Populismus sich nicht mehr in dieses Schema pressen lässt. Denn die Flüchtlingskrise sorgt bei den Europäern nicht nur für Skepsis gegenüber ihrem eigenen politischen Modell, sondern auch für eine bittere Entzweiung der EU und eine Wiederbelebung der Ost-West-Spaltung. Sichtbar wird ein Solidaritätskonflikt, bei dem nationale, ethnische und religiöse Solidaritätspflichten mit unseren Pflichten als Menschen in Konflikt geraten.
Krastev weiter: Psychologen sind der Meinung, dass sich die Menschen überall die Frage stellen, wie viele Fremde bei ihnen seien. Welche Bereitschaft haben sie, so zu werden wie wir? Die Antworten werden bedeutend negativer, wenn der Verdacht aufkommt, der Strom der Fremden sei ausser Kontrolle geraten. Krastev: „Der Erfolg politischer Führer wie Donald Trump lässt sich am besten durch ihre Fähigkeit erklären, die Wähler davon zu überzeugen, dass eine bestimmte Grenze überschritten worden ist.“
Dieser Sichtweise ist zweifellos zuzustimmen. Sie lässt sich problemlos auch auf andere politische Alphatiere übertragen. Osteuropas Mangel an Solidarität bei der EU-Flüchtlingsverteilkrise äussert sich national unterschiedlich. Etwa beim Slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico, der erklärt, sein Land wolle nur Christen aufnehmen, Polens Jarosław Kaczyński, der davor warnt, die Aufnahme von Flüchtlingen gefährde die öffentliche Gesundheit, oder bei Ungarns Viktor Orbán, der behauptet, die moralische Pflicht der EU sei es nicht, den Flüchtlingen zu helfen, sondern die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten.
Paradoxe Folgen der Unzufriedenheit
Krastev lokalisiert die offensichtliche Demokratiekrise innerhalb der EU bei der empfundenen Ohnmacht der Bürger, die Brüssel längst für die unkontrollierte Macht der Märkte und die zerstörerische Kraft der Globalisierung verantwortlich machen. Er stellt und beantwortet drei zentrale Fragen: „Warum sind mitteleuropäische Wähler bereit, europafeindliche Parteien an die Macht zu bringen, die unabhängige Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken und Medien ganz unverhohlen verabscheuen? Warum hat die politische Mobilisierung in der jungen Generation in Westeuropa nicht zur Entstehung einer paneuropäischen EU-freundlichen populistischen Bewegung geführt? Warum sind die Europäer so verärgert über die Brüsseler Eliten, wo diese doch die meritokratischsten Eliten Europas darstellen?
Die Antworten: Die Populisten Mitteleuropas behaupten, „Wir sind das Volk! Sie meinen jedoch Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk. Sie behaupten nicht, für alle Polen oder Ungarn zu stehen; sie erheben vielmehr den Anspruch, für alle wahren Polen, wahre Ungarn zu sprechen. Die Wahlerfolge der Populisten verwandeln die Demokratie aus einem Instrument der Inklusion in eines des Ausschlusses.“
Die Frage, warum die Demokratisierung des öffentlichen Lebens und die Entstehung einer immer kosmopolitischeren jungen Generation sich nicht in eine Unterstützung für Europa übersetzt, bildet den Kern des westeuropäischen Paradoxons. Der Antworten sind so viele, dass ich mich hier auf einige wenige konzentrieren muss: Der protestierende Bürger will Veränderungen, lehnt aber jede Form politischer Vertretung ab. Er stützt seine Theorie sozialen Wandels auf Werbetexte aus Silicon Valley und schätzt die Zerstörung, verachtet aber politische Programme. Dass die populäre Annahme liberaler Politiker, die Unterstützung jüngerer Menschen brächte von selbst die gegenwärtigen Probleme zum Verschwinden, wenn die ältere Generationen ausgestorben seien, bezeichnet Krastev als einen gewaltigen Irrtum.
Das Brüsseler Paradoxon für die Gründe der Krise der EU, liegt in einer Krise des meritokratischen Gesellschaftsverständnisses. Die Meritokratie – ein System, in dem die talentiertesten und fähigsten Menschen in Führungspositionen gelangen – wäre für die Gesellschaft eine Katrastrophe, weil sie zu einem Verlust an politischer Gemeinschaft führen müsste, warnte schon vor 70 Jahren der britische Soziologe Michael Young. Also doch lieber eine Demokratie?
In vielen Ländern Europas erwarten die Menschen deshalb heute von politischen Führern, dass „sie sich öffentlich zu ihren familiären Verpflichtungen gegenüber ihrer Gesellschaft bekennen“. Wie man sein Land verteidigt ist deshalb das erfolgreiche populistische Versprechen. „Wenn das Land mich ruft“, dann müssen sich Populisten zu dessen Rettung opfern. Ganz zum Schluss seines Essays äussert sich Ivan Krastev zum europaweiten Trend zu Referenden, die oft von Emotionen statt Argumenten beherrscht würden und die deshalb von Populisten vermehrt eingesetzt würden. Zur Beruhigung aller Schweizerinnen und Schweizer: Krastev erwähnt die Schweiz nie. Er beleuchtet die EU. Und da ist er dezidiert der Meinung, „eine explosionsartige Vermehrung nationaler Volksabstimmungen sei der schnellste Weg, um die EU unregierbar zu machen“. Und er hofft auf „die Fähigkeiten, die Ambitionen und auch das Glück der führenden Politiker“, die erkennen, dass „die Menschen in ihrer Mehrheit Veränderungen wollen, dass sie damit aber ein anderes Europa und nicht etwa kein Europa meinen“.
Ivan Krastev: „Europadämmerung“. Ein Essay. edition suhrkamp, 2017.