„Gerecht, grün und digital“ – so denkt sich Portugals Ministerpräsident, António Costa, die wirtschaftliche und soziale Erholung in der EU nach dem „pandemischen“ Einbruch. Costa kann dabei selbst Akzente setzen, da sein Land in diesem Halbjahr 2021 zum nunmehr vierten Mal den Vorsitz im Rat der EU führt. Schon die mit der Pandemie verbundenen Aufgaben, die Portugal vom vorherigen, deutschen Vorsitz „geerbt“ hat, erlauben keine Ausrutscher. Es gilt, die Impfungen gegen Covid-19 ebenso zu sichern wie die in den Mitgliedländern nötigen Prodezuren für die Freigabe der 750 Mrd. Euro aus dem Corona-Hilfspaket der EU.
Regierung daheim unter Druck
Eine umfassende Agenda für die externen Beziehungen und die Politik der Migration kommt hinzu. Um bei all dem die Probleme daheim nicht aus dem Blick zu verlieren, hat Costa die Koordinierung des Ratsvorsitzes weitgehend Aussenminister Augusto Santos Silva überlassen. Costas Minderheitsregierung steht daheim in mehrfacher Hinsicht unter Druck.
Costa trat 2015 als Regierungschef an und bildete nach der Wahl von 2019 seine zweite Regierung. Ob sie wohl vier Jahre hält, darüber wird viel spekuliert. Im letzten Herbst gelang es ihr nur nach einer Zitterpartie und vielen Zugeständnissen an kleinere Parteien, die parlamentarische Mehrheit für das Staatsbudget 2021 zu sichern. Kürzlich verlangte die bürgerliche Opposition noch die Ablösung von gleich zwei Mitgliedern des Kabinetts, nämlich von Justizministerin Francisca van Dunem und Innenminister Eduardo Cabrita.
Das Land im Griff der Pandemie
Obendrein hat die Pandemie das Land mit Wucht erfasst. Im Dezember ging die Zahl der Ansteckungen so stark zurück, dass die Regierung die ohnehin eher laschen Einschränkungen, die der seit November geltende Notstand mit sich brachte, über Weihnachten weiter lockerte. Im Januar wurden an mehreren Tagen aber je rund 10’000 Neuinfektionen gezählt (am 14. Januar meldete die Gesundheitsbehörde für den Vortag einen neuen Rekord von 10’698). Im Land mit 10,3 Millionen Einwohnern gibt es nun weit mehr als 100’000 akute Fälle, also ist über ein Prozent der Bevölkerung an Covid-19 erkrankt. Schon an diesem Freitag beginnt deshalb ein neuer, rigoroser Lockdown.
Ausgerechnet in diese Zeit fällt die Direktwahl des Staatspräsidenten am 24. Januar. Es kamen Rufe nach einem Aufschub, der so kurzfristig aber schwer zu bewerkstelligen wäre. So oder so wäre an der Wiederwahl von Präsident Marcelo Rebelo de Sousa für eine zweite Amtszeit aber kaum zu rütteln. Obwohl er aus dem bürgerlichen Lager stammt, hat sich Costa mit ihm meist gut verstanden.
Auch Südländer können perfekt organisieren
Manchen Vorurteilen von lusitanischer Desorganisation trotzend hat Portugal – anders etwa als Deutschland – aber den Start der Anti-Covid-Impfungen ohne grosse Probleme bewältigt. Und wenn Portugal auf der internationalen Bühne auftritt, geraten Südländer-Klischees erst recht ins Wanken. Grossereignisse gingen meist absolut glatt über die Bühne. So war es bei der Expo ’98 in Lissabon, bei der Fussball-Euro 2004 und bei den drei vorherigen Vorsitzen im Rat der EG beziehungsweise EU.
Im Jahr 1986, also vor 35 Jahren, war Portugal mit Spanien der damaligen EWG beigetreten, damals als viertkleinstes der 12 Länder; (kleiner waren nur Dänemark, Irland und Luxembourg). In der 27er EU ist Portugal heute aber – entgegen einem verbreiteten Irrtum – kein wirklich „kleines“ Land mehr. In dem von Deutschland geführten Ranking belegt es nach der Aufnahme etlicher kleinerer Länder und dem Brexit, den 12. Platz. Infolge der starken Emigration und niedriger Geburtenzahlen verlor es den 11. Platz kürzlich allerdings an Schweden.
Modernisierung mit Schönheitsfehlern
Die Integration sollte die junge Demokratie stärken, hiess es stets, obwohl für die Frau und den Mann auf der Strasse die Fördermittel aus Brüssel die schlagenden Argumente für „Europa“ waren. Diese Hilfen haben viel zur Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur beigetragen, obwohl nicht alles optimal lief. Gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukt je Einwohner wurde Portugal jedenfalls von einigen jüngeren Mitgliedern in Mittel- und Osteuropa überholt.
Als Euro-Land hatte Portugal mit den Defizitvorgaben aus Brüssel seine Probleme. Es musste 2011 einen Notkredit der „Troika“ in Anspruch nehmen und dafür ein dreijähriges Programm der schmerzhaften Anpassungen umsetzen. Als Costas Sozialisten Ende 2015 die vorherige bürgerliche Koalition ablösten, versprachen sie, das Blatt der Austerität zu wenden und dennoch die Defizitvorgaben der EU zu erfüllen – was zur Überraschung vieler Skeptiker gelang. Und damit fühlte sich Portugal legitimiert, in Brüssel den Hardlinern die Stirn zu bieten. Als „widerwärtig” klassifizierte Costa letztes Jahr etwa die Äusserungen des niederländischen Finanzministers, Wopke Hoekstra, der gefragt hatte, weshalb manchen Südländern wohl der finanzielle Spielraum zum Kampf gegen die Folgen der Pandemie fehle.
In der EU ein loyaler Partner
Portugal mag ein Defizitsünder gewesen sein. Politisch war das Land in der EU aber stets ein loyaler und konstruktiver Partner, der mit keinem anderen Mitgliedland in irgendeinem grösseren akuten Konflikt steht und doch noch klein genug ist, um – anders als etwa Deutschland – keine Ängste vor „Grossen“ zu nähren.
Vorbehalte schwanden schon beim ersten Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 1992, der reibungslos verlief, mit eher niedrigem Profil. Portugal nutzte derweil die Chance, sich mit seinen neuen Autobahnen und Schnellstrassen als modernes Land zu präsentieren. Umso mehr ärgerte sich ein Sprecher des Ratsvorsitzes damals einmal im kleinen Kreis darüber, wie rasch Medienleute aus Spanien in Portugal noch auf Ochsenkarren stiessen und ihre Reportagen mit entsprechenden Fotos illustrierten.
Eine Strategie von Lissabon und ein Vertrag von Lissabon
Der Plan für eine technologische Offensive prägte den zweiten Vorsitz im ersten Halbjahr 2000. Als Meilenstein galt die Einigung über die „Lissabon-Strategie“. Ausgerechnet aus diesem Südland, wo António Guterres, jetziger Uno-Generalssekretär, die Regierung führte, kam der Vorgabe, die EU zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, und zwar auf der Basis des Wissens und bei Erhalt des europäischen Sozialmodells. Aus dieser Strategie wurde nicht viel, „sexy“ erschien sie anfangs aber doch. Unter der Ägide der einstigen Kolonialmacht, die erst 1974/5 ihren letzten afrikanischen Besitzungen die Unabhängigkeit gewährt hatte, fand in Kairo der erste Gipfel von EU und Afrikanischer Union statt. Für Wirbel sorgten derweil die abgestimmten „bilateralen“ Sanktionen gegen Österreich wegen der Beteiligung von Jörg Haiders FPÖ an der Regierung.
Im zweiten Halbjahr 2007 gelang unter portugiesischem Ratsvorsitz dann die Einigung über den jetzt gültigen „Vertrag von Lissabon“. Man darf darüber spekulieren, wie sehr hinter den Kulissen die lusitanische Gastfreundschaft und die Diplomatie des Weines und der Meeresfrüchte dabei halfen. Für einige Empörung sorgten bei der Vertragsunterzeichnung aber britischer Starrsinn und portugiesische Eitelkeit. Anfang Dezember 2007 fand in Lissabon der zweite Gipfel EU-Afrika statt, und da hätte theoretisch die Unterzeichnung erfolgen können, da fast alle Staats- oder Regierungschefs präsent waren – alle ausser Gordon Brown, der nicht auf Robert Mugabe aus Simbabwe treffen wollte. Einige Tage später hätten die hohen Damen und Herren den Vertrag auch bei einem regulären Gipfel in Brüssel unterzeichnen können. Um den Vertrag nach Lissabon benennen zu können, sollte er unbedingt aber dort unterzeichnet werden. Also machten die Staats- und Regierungschefs einen Umweg über Lissabon, von wo sie nach Festakt und -schmaus nach Brüssel flogen. Greta Thunberg war noch zu klein, um sich empören zu können. Umweltverbände aber protestierten.
Indien, Afrika, Südamerika
Nun ist Portugal zum vierten Mal an der Reihe, in der zweiten Etappe des deutsch-portugiesisch-slowenischen Dreier-Vorsitzes. Auf dem Feld der externen Beziehungen war es schon im letzten Halbjahr gelungen, einige Steine beiseite zu räumen. Im deutschen Halbjahr gelang die Einigungen über das Corona-Hilfspaket und über die Handelsbeziehungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich nach dem Brexit. Die Abwahl von US-Präsident Trump eröffnet neue Perspektiven in den transatlantischen Beziehungen. Eine bessere Verständigung mit den USA soll jedoch, wie Costa in einem Interview sagte, dem Ausbau der Beziehungen EU-China nicht im Wege stehen. Im Dezember hatten sich beide Seiten endlich über ein Investitionsabkommen geeinigt.
Ein spezielles Interesse hat Portugal an der für Mai geplanten Abhaltung eines ersten Gipfels EU-Indien. Wegen Ressentiments aus der Kolonialzeit war Portugals Verhältnis zum jetzt zweitgrössten Land der Welt lange Zeit belastet. Gerade aus Indien kamen 2015 aber Glückwünsche, als der heute 59-jährige Costa in Lissabon seine erste Regierung bildete, zumal sein Vater indische Wurzeln hatte und in der ehemaligen, 1961 von Indien besetzten Kolonie Goa aufwuchs. In diesem Halbjahr soll auch der sechste Gipfel EU-Afrika, der im letzten Halbjahr der Pandemie zum Opfer fiel, über die Bühne gehen. Schliesslich will Portugal das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur unter Dach und Fach bringen. Zu überwinden wären aber noch diverse Vorbehalte wegen mangelndem Engagement von Mercosur-Ländern für den Klimaschutz, allen voran von Brasilien.
Migration, soziale Fragen – und der pandemische Fluch
Auf Fortschritte hofft Portugal nicht zuletzt im Gezerre um einen Pakt über die Migration, mit der sich Portugal weit weniger stark konfrontiert sieht als etwa Spanien, Italien und Griechenland. Von Marokko aus haben in jüngerer Zeit einige wenige Boote mit illegalen Migranten aber auch die Algarve-Küste angesteuert. In einem Interview wünschte sich Costa ein Abkommen, das „den Geist der Solidarität zwischen allen Ländern der EU respektiert“. Die Migration, sagte er, sei eben nicht nur ein Problem der Länder mit Aussengrenzen und auch nicht nur ein Problem der Länder mit bessseren Lebensbedingungen in Mittteleuropa, die für Migranten besonders attraktiv seien.
Spezielle Ambitionen hegt Portugal mit einem für Mai geplanten Gipfel über soziale Fragen, der den Weg zur Stärkung der sozialen Komponente in der EU ebnen soll. Zu Wort kommen sollen nicht nur Vertreter staatlicher und gemeinschaftlicher Institutionen, sondern unter anderem Sozialpartner und gesellschaftliche Organisationen. Wieviel aus diesen und anderen Plänen wird, liegt in dieser pandemischen Zeit natürlich nicht nur in portugiesischer Hand.