Das lässt aufhorchen: Gleich zwei der namhaftesten französischen Leitartikler bemühten dieser Tage den Vergleich mit den 30er Jahren. Man kann es ihnen schwer verübeln. Gewiss: Geschichte wiederholt sich nicht. Doch in der öffentlichen Diskussion und im ökonomisch-gesellschaftlichen Leben Frankreichs schienen letzte Woche innerhalb weniger Tage plötzlich nahezu alle Ingredienzien und Phänomene vereint, die vor acht Jahrzehnten die Grundlage für die unseligen Entwicklungen und barbarischen Geschehnisse bis 1945 bilden sollten. Es riecht, wie einer schrieb, nach den 30er Jahren.
Massenarbeitslosigkeit
Die Massenarbeitslosigkeit, die seit fast zwei Jahren Monat für Monat schlimmer wird, erreichte letzte Woche einen neuen Höhepunkt: 3,2 Millionen, fast 11 Prozent, sind es mittlerweile. Zählt man die gelegentlich und gering Beschäftigten dazu, klettert die Zahl auf 5 Millionen. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen, die seit über einem Jahr ohne Job sind, liegt mittlerweile bei über 40 %. Und wer älter ist als 50, hat praktisch überhaupt keine Chance mehr, eine Stelle zu finden.
Fast jeden Morgen mit einer Nachricht im Radio aufzuwachen, dass erneut eine Firma mit 100, 400 oder 1300 Beschäftigten vor dem Bankrott steht, verbreitet seit Monaten eine unterschwellige, langsam agierende und alles andere als motivierende Angst im Land. Nirgendwo das geringste Anzeichen dafür, dass sich die Tendenz der Arbeitslosenkurve wirklich ändern könnte, wie Präsident Hollande dies erst jüngst wieder versprochen hatte. Er hätte es wahrscheinlich besser nicht tun sollen.
Das Klima wird auch bei Sozialkonflikten immer rauher. Der Innenminister hat mittlerweile besondere Anweisungen für Demonstrationen von Arbeitern gegeben, deren Unternehmen vor der Abwicklung stehen. Die Bereitschaftspolizei muss immer wieder mal einen Firmensitz vor aufgebrachten Arbeitern schützen, bei denen immer öfter der Eindruck überwiegt, dass sie ohnehin nichts mehr zu verlieren haben.
Ein OECD-Experte aus einem deutschsprachigen Land, der seit 15 Jahren in Paris lebt, sagte es dieser Tage unumwunden: Dieses Land erlebt zur Zeit eine extrem schwere Vertrauenskrise, die Menschen sind misstrauisch, pessimistisch und verängstigt und da gleichzeitig das Harmoniebedürfnis in der französischen Gesellschaft offensichtlich weniger stark ausgeprägt ist als in vielen anderen europäischen Ländern, überwiegen bei der Suche nach Lösungen der Probleme der lautstarke Kampf und regelrecht zelebrierte Konflikte - und nicht Konsultationen und die Suche nach Kompromissen.
Armut explodiert
Alle Hilfsorganisationen im Land sagen es und selbst im Stadtbild wird es immer deutlicher: Die Armut schreitet mit Riesenschritten voran. Die berühmten «Restos du Coeur», vor über 20 Jahren von Coluche, dem populärsten aller französischen Komiker gegründet, verzeichneten in diesem Winter rund 20 % mehr Einschreibungen als im Vorjahr. Immer mehr alleinerziehende Mütter und Rentner mit Monatseinkommen zwischen 600 und 800 Euro holen sich hier ihr Essen. Die Zahl der «Working Poors» explodiert. Selbst Beschäftigte der Stadt Paris sind heutzutage obdachlos und übernachten in ihren Autos. Die «Restos du Coeur» und alle anderen grossen Hilfsorganisationen wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Sie riefen den gesamten Winter über um Hilfe und jetzt droht ihnen auch noch die Finanzierung aus EU-Mitteln verloren zu gehen.
Gefundenes Fressen für Extreme Rechte
Innerhalb von wenigen Tagen erlebten die Franzosen ein Potpourri von Nachrichten, Ereignissen und politischen Attitüden, die allesamt einen reichlich unguten Beigeschmack hatten.
Zunächst musste ausgerechnet der gestrenge Zahlmeister, der Herr über den französischen Sparhaushalt, Budgetminister Cahuzac den Hut nehmen. Dies, nachdem ein Pariser Gericht letztlich doch eine Voruntersuchung gegen ihn aufgenommen hatte wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Cahuzac, der in einem anderen Leben Schönheitschirurg war, soll bis 2010 in der Schweiz ein Konto gehabt haben, das dann nach Singapur transferiert wurde. Für eine Regierung, die in der Krise von der Bevölkerung, ohne dies klar zu sagen, Blut, Schweiss und Tränen fordert, eine eher peinliche Angelegenheit und gewiss nicht kompatibel mit dem Anspruch, die Republik habe nun aber endlich sauber und tadellos zu funktionieren. Präsident Hollande konnte nicht anders, als eines seiner sehr gemässigten, eher zentristischen Schwergewichte im Kabinett in die Wüste zu schicken.
Schon wieder der Verdacht der Unredlichkeit und Korruption. Zumal kurz danach Ex-Präsident Sarkozy zum Untersuchungsrichter nach Bordeaux zitiert worden war und in der Bettencourt-Affäre mit anderen Zeugen – dem ehemaligen Butler, dem Chauffeur und der Buchhalterin der L'Oréal-Erbin - konfrontiert wurde. Nach neun giftigen, spannungsgeladenen Stunden musste Frankreichs ehemaliger Präsident aus dem Mund des Untersuchungsrichters vernehmen, dass gegen ihn ein Verfahren eröffnet wird, weil «übereinstimmende und schwerwiegende» Indizien bestünden, dass Sarkozy 2007 die Schwäche der Milliardärin ausgenutzt habe, um für seine Partei und seinen Präsidentschaftswahlkampf Geld zu ergattern.
Ein nicht gerade sehr appetitlicher Verdacht gegen einen ehemaligen Staatschef, auch wenn viele Experten davon ausgehen, dass der Untersuchungsrichter über die Stränge geschlagen hat und das Verfahren irgendwann eingestellt wird, so dass es zu keinem Prozess kommen dürfte. Die Wahrscheinlichkeit ist in der Tat sehr gross, dass der einfache Bürger Sarkozy heute dafür bezahlt, dass er als Präsident einst die Richter despektierlich als «kleine Erbsen» bezeichnet hatte und erst im letzten Moment darauf verzichten musste, die Funktion des unabhängigen Untersuchungsrichters schlicht abzuschaffen.
Doch all dies rechtfertigte nicht, was an den zwei darauffolgenden Tagen geschah: ein Generalangriff der Sarkozy-Vertrauten gegen den Untersuchungsrichter quer durch alle Medien und mit dem Grundton: Wie kann es dieser Mann nur wagen, mit einem ehemaligen Präsidenten so umzuspringen. Nachdem Sarkozy selbst am Ende seiner Einvernahme dem Richter mit den Worten «Wir sind miteinander noch lange nicht fertig» gedroht haben soll, holten seine Sekundanten am nächsten Tag das ganz schwere Geschütz hervor.
Den Vogel hat dabei der frühere Redenschreiber Sarkozys abgeschossen. Henri Guaino, fünf Jahre lang der Beschwörer der ewigen Werte und der Grösse Frankreichs, der nach Sarkozys Abwahl immerhin mit einem Abgeordnetensitz versorgt worden war, tönte: «Der Richter hat mit seiner skandalösen Anschuldigung von Nicolas Sarkozy einem Mann die Ehre genommen, die Justiz, ja ganz Frankreich beschmutzt, das Ganze ist grotesk und unerträglich».
48 Stunden lang hämmerten verantwortliche konservative Politiker so und ähnlich auf die Justiz ein - in einem Rechtsstaat ein im Grunde unerträgliches Verhalten. Dementsprechend erwägt der Parlamentspräsident jetzt sogar Schritte gegen den Abgeordneten Henri Guaino.
Wenigstens gibt es in Frankreich in solchen Momenten noch den stets erfolglosen, frustrierten Zentrumspolitiker François Bayrou, der deutlicher als viele andere zu Protokoll gab: «Wer in einer Demokratie die Richter angreift, greift die Justiz an. Und wer die Justiz verunglimpft, greift die Demokratie an».
Linkspartei gegen Sozialverräter
Damit aber nicht genug. In den Tagen, als die Konservativen Gift und Galle spuckten wegen der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen Ex-Präsident Sarkozy, tobte in Europa die Zypernkrise und hielt in Frankreich die Linkspartei des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon (11 % der Stimmen im April 2012) ihren Parteitag ab. Und auch da tönte es gewaltig.
Einer der Adjutanten von Mélenchon nannte den französischen Finanzminister Pierre Moscovici einen der 17 Schufte aus Brüssel, die das Volk Zyperns in die Knie zwingen. Und Mélenchon, der sich inzwischen für Danton hält, polterte, Mocovici denke nicht mehr französisch, sondern in der Sprache des internationalen Finanzkapitals. Er sei sozusagen ein Agent des Auslands. In den Ohren mancher klang das, weil Moscovici Jude ist, nach Antisemitismus. Man scheint bei der Linkspartei, deren wenige Abgeordnete im Parlament offiziell immerhin Teil der linken Mehrheit sind, jedenfalls nicht mehr weit davon entfernt zu sein, die Sozialisten als Sozialfaschisten zu beschimpfen.
Rechtsextreme im Höhenrausch
Und während es bei der konservativen UMP und der Linkspartei so aggressiv tönte, fand in einem Wahlkreis 50 Kilometer nordwestlich von Paris eine Nachwahl für einen Abgeordnetensitz in der Nationalversammlung statt. Nach dem ersten Durchgang hatte die Kandidatin der regierenden Sozialisten dort nicht einmal 12,5 % der Stimmen der eingeschriebenen Wähler auf sich vereinen können, so dass sie in der entscheidenden Stichwahl erst gar nicht mehr antreten konnte. Bei der standen sich dann der im Wahlkreis seit Jahrzehnten bekannte Kandidat der traditionellen Rechten und eine völlig unbekannte Kandidatin der rechtsextremen Nationalen Front gegenüber.
Und die Kandidatin von Marine Le Pens Partei brachte es im entscheidenden Wahlgang doch tatsächlich auf über 48 % der Stimmen! Ja schlimmer noch: Hinterher musste man feststellen, dass fast 50 % der sozialistischen Wähler aus dem ersten Wahlgang in der Stichwahl für die Kandidatin der Nationalen Front gestimmt hatten! Wenn das nichts aussagt über die Stimmung im Land? Alle klassischen Koordinaten scheinen durcheinandergeworfen und plötzlich hat nicht nur die konservative UMP-Partei, sondern auch die Sozialistische Partei ein echtes, ein gewaltiges Problem mit der Nationalen Front.
Provokationen bei der Demo gegen die Homoehe
Und schliesslich gab es in diesen Tagen auch noch die heftige Polemik um einige gewaltsame Vorfälle am Rande der zweiten Grossdemonstration von Kirche und Konservativen gegen die Homoehe. Die Veranstalter hatten von Anfang an die Champs-Elysées als Demonstrationsstrecke verlangt, was schon eine Provokation an sich ist. Die Champs-Elysées mit dem Elyséepalast in Reichweite, unweit der Place de la Concorde und der amerikanischen Botschaft, sind in Paris seit einem halben Jahrhundert Bannmeile und damit basta. Das weiss in Frankreich im Grunde jedes Kind, und das ist so auch akzeptiert.
Das letzte Mal, als auf den Champs-Elysées demonstriert wurde, sass noch General De Gaulle im Elysée und seine Anhänger durften siegestrunken mit einer Grossdemonstration von mehreren Hunderttausend Menschen - angeführt von André Malraux und Michel Debré – den Mai 68 zu Grabe tragen, wobei die beiden, Debré und Malraux, die Marseillaise so falsch grölten wie ein Haufen betrunkener Fussballfans.
Folglich durften die Gegner der Homoehe diesmal - und sie waren erneut sehr zahlreich - letztlich nur vom Geschäftsviertel der Défense bis zum Triumphbogen durch die noblen Gegenden von Neuilly und des 16. Arrondissements demonstrieren.
Am Ende versuchten einige rechtsradikale Gruppen dann doch noch, auf die abgesperrten Champs-Elysées zu gelangen und legten sich mit den Ordnungskräften an. Einige gutbürgerliche Familienväter und Mütter mit ihren Kindern, die in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich noch nie demonstriert hatten und sich in der Nähe befanden, bekamen prompt Nachhilfestunden in Sachen Demonstration: Die Bereitschaftspolizisten machten, wie in solchen Fällen üblich, wenn in der Hauptstadt der genehmigte Parcours einer Demo verlassen wird, kein grosses Federlesens. Sie holten die Gummiknüppel und die Tränengassprays (nicht mal die Tränengasgewehre) heraus und taten, was sie in solchen Fällen tun – nicht zimperlich sein und mit dem Tränengas dafür sorgen, dass die Masse in die andere Richtung wieder abzieht.
Als hätten die massgeblichen Politiker der konservativen UMP-Partei gewusst, was da passieren wird, waren sie nicht allzu weit vom Ort des Geschehens und den Fernsehkameras entfernt und prompt zur Stelle. Eine ehemalige, offensiv katholische Ministerin fiel etwas zu demonstrativ in Ohnmacht, ein anderer Ex-Minister stand bereit, um dramatisch in die Mikrophone zu diktieren: «Was ist das für eine Regierung, die auf Familien und Kinder schiessen lässt?» Man hat richtig gelesen. Monsieur Laurent Wauquiez, einst Minister und heute ein Adjutant des ehemaligen Premierministers Fillon hatte «schiessen» gesagt.
Und dieses Wort lief als Schleife stundenlang über die drei Informations-TVs und geisterte durch die sozialen Netzwerke. Irgendjemand aus der konservativen Riege hat dann auch noch den Rücktritt des Innenministers gefordert, ein anderer den des Polizeipräfekten. Kurzum: Es tönte so laut wie möglich und roch sehr stark nach einer Strategie der traditionellen Rechten, die offensichtlich beschlossen hatte, ihren Diskurs zu radikalisieren und die Demonstrationen gegen die Homoehe, welche die Galionsfigur der Veranstalter sogar als «Bürgerkrieg» bezeichnet hatte, zu nutzen, um Hollande und seine Regierung zu destabilisieren.
Hollandes TV-Auftritt
Der Präsident, der wenige Tage später einen TV-Auftritt zu absolvieren hatte, ist aber auch so schon angeschlagen genug. Anderthalb Stunden hat er sich in einem gross inszenierten Fernsehinterview vor acht Millionen Zusehern gemüht zu argumentieren, zu erklären und zu überzeugen. Doch am Ende blieb kaum mehr als ein schaler Nachgeschmack und der Eindruck, dass diese zelebrierte Fernsehmesse nicht auf der Höhe der explosiven Situation des Landes war. Gefragt, warum er keine Blut-, Schweiss- und Tränenrede à la Churchill gehalten hat, meinte der Präsident, er sei nicht dazu da, die Franzosen noch stärker zu deprimieren, sondern ihnen Hoffnung zu geben.
Woher diese Hoffnung allerdings kommen könnte, liess sich nirgendwo erahnen und François Hollande hat es an diesem Fernsehabend auch nicht geschafft, einigermassen klar zu sagen, wohin er das Land wirklich steuern will. Er jongliert, laviert und versucht sich in Kompromissen.
Ein grosser Wurf und die angekündigte Wende - «le changement maintenant» - sind in weite Ferne gerückt.