Eigentlich wird in Frankreich gerade ständig irgendwo gewählt und ständig irgendwo Wahlkampf geführt. Letzten Oktober und November dominierten die Vorwahlen der Konservativen die Aktualität. Kaum waren die vorbei, verkündete der amtierende Staatspräsident, dass er von einer Wahl nichts mehr wissen will und nicht erneut für das höchste Amt im Staat zu kandidieren gedenkt. Fast über Nacht stürzte sich daraufhin der amtierende Premierminister ins nächste Wahlgeschehen, liess umgehend die Regierungsgeschäfte fallen und verkündete seine Kandidatur bei den Vorwahlen der Sozialisten, die am 22. und 29. Januar ihren Präsidentschaftskandidaten überhaupt erst noch küren müssen.
Unmittelbar danach beginnt dann der eigentlicher Wahlkampf von rund einem Dutzend Kandidaten, bevor 46 Millionen wahlberechtigte Franzosen am 23. April und am 7. Mai dann dafür sorgen sollen, dass weisser Rauch aus dem Elyséepalast aufsteigt und das Land einen neuen Präsidenten hat, der theoretisch auch eine Präsidentin sein könnte. Damit die Urnengänge aber nicht zu schnell ein Ende nehmen, folgen im Monat Juni dann auch noch die Parlamentswahlen, für die es, wie in Frankreich üblich, natürlich zwei Durchgänge braucht. Danach sind dann Gott sei Dank Sommerferien und Land und Volk dürfen sich vom Wählen erholen.
Sozialistische Vorwahlen
Die Ausgangslage gut drei Monate vor dem ersten Durchgang der 11. Präsidentschaftswahlen in der Fünften Französischen Republik ist – besonders auf der Linken – so unübersichtlich wie selten zuvor. Und diese Wahl hat von vornherein etwas Einmaliges. Denn erstmals überhaupt seit Beginn der Fünften Republik tritt ein amtierender Präsident nach seiner ersten Amtszeit nicht ein zweites Mal an. Der historisch unpopuläre François Hollande hat die Entscheidung, auf eine erneute Kandidatur zu verzichten, bis zum letzten Moment hinausgezögert und damit seinem eigenen Lager keinen guten Dienst erwiesen. Der nach den Vorwahlen Ende des Monats dann endlich gekürte Kandidat der Sozialisten wird relativ unvorbereitet und auch mit einiger Verspätung in den Wahlkampf ziehen.
Drei unter insgesamt sieben Bewerbern haben bei diesen Vorwahlen eine Chance: die beiden ehemaligen Minister vom linken Flügel der Sozialistischen Partei, Arnaud Montebourg und Benoît Hamon, sowie der Hardliner Manuel Valls, der bis vor fünf Wochen noch Regierungschef war und bis dahin die auch parteiintern viel kritisierte Politik von Staatspräsident Hollande zu vertreten hatte. Dass er notgedrungen mit dieser Politik identifiziert wird, ist für den Wahlkämpfer Manuel Valls jetzt eher ein Klotz am Bein. Seine Wahlkampfauftritte wirken mühsam, die Säle sind halb leer und der Kandidat Valls ist sichtlich gereizt.
Schlechte Stimmung
Kein Wunder, denn die Stimmung insgesamt bei diesen Vorwahlen in der hoffnungslos zerstrittenen und gespaltenen Sozialistischen Partei könnte schlechter kaum sein. Man fürchtet allseits nicht nur eine geringe Beteiligung, sondern immer mehr Parteimitglieder und Verantwortliche stellen sogar den Sinn dieser Vorwahl an sich in Frage, weil letztlich jedem klar ist, dass sie im Grunde zu nichts dienen wird.
Denn: während die Konservativen mit François Fillon und die Extreme Rechte mit Marine Le Pen jeweils einen Kandidaten beziehungsweise eine Kandidatin ins Rennen um das Präsidentenamt schicken, werden es auf der gesamten französischen Linken deren sechs sein – und dies bei einem Wählerpotential der gesamten Linken von gerade noch 35 Prozent!
„Wenn wir gespalten sind, wird kein Kandidat der Linken oder der linken Mitte in die Stichwahl kommen“, hatte PS-Chef Jean-Christophe Cambadélis noch vor wenigen Wochen und mit Grabesstimme prophezeit. Genützt hat es nichts.
Überfluss an Kandidaten
Nur ein politisches Wunder könnte noch verhindern, dass Frankreichs Linke offenen Auges an die Wand fährt. Neben dem künftigen Kandidaten der sozialistischen Partei werden zwei Trotzkisten, ein Grüner, vor allem aber Jean Luc Mélenchon, der Volkstribun links von den Sozialisten, der bereits vor fünf Jahren immerhin 11 Prozent erzielt hatte, zur Präsidentschaftswahl antreten. Hinzu kommt der Newcomer aus der wirtschaftsliberalen Mitte, Frankreichs ehemaliger Wirtschaftsminister, der erst 39-jährige Ex-Banker Emmanuel Macron.
Angesichts dessen stellt so mancher sozialistische Abgeordnete inzwischen die Frage, ob seine Partei diese Präsidentschaftswahlen überleben wird. Und Daniel Cohn-Bendit, nach wie vor scharfsichtiger Beobachter der französischen Politik, meinte, die Sozialistische Partei werde in Frankreich vielleicht erleben, was die Pasok in Griechenland erfahren musste: dass sie nämlich am Ende mit 5 oder 6 Prozent dasteht.
Das Phänomen Macron
Frankreichs Sozialisten, die nur noch über ärmliche 45’000 Parteimitglieder verfügen, sind derzeit so schwach, dass sie eine eigenständige Kandidatur des Globalisierungsgegners, vehementen EU-Kritikers und Linksaussen Jean Luc Mélenchon nicht verhindern konnten. Und zugleich ist die Partei mit dem so genannten „Phänomen Macron“ konfrontiert.
Macron war erst 2012 als Berater von Präsident Hollande in den Elysée und damit in die Politik gekommen. Zuvor hatte er sich noch nie im Leben irgendeiner Wahl gestellt. 2014 wurde er Wirtschaftsminister von Hollandes Gnaden. Die Wirtschaftsreformen des Präsidenten gingen dem ehrgeizigen jungen Mann aber nicht weit genug, so dass er im August letzten Jahres sein Ministeramt niederlegte, eine eigene politische Bewegung ins Leben rief und Mitte November seine unabhängige Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen ankündigte.
Seitdem befindet sich das politische Wunderkind bereits im Dauerwahlkampf, spricht davon, dass er eine Welle ausgelöst habe, die sich nicht aufhalten lässt und von einer „demokratischen Revolution“. Seine Bewegung „En marche“ – keine herkömmliche Partei – hat angeblich 120’000 Anhänger, welche per Mausklick Mitglied geworden sind.
Keine Eintagsfliege
Zu Macrons Wahlkampfauftritten strömen jetzt schon Abertausende, vorwiegend die Generation der gut ausgebildeten 30- bis 40-Jährigen. Der Kandidat gibt dabei schon mal den Messias, der mit weit ausgebreiteten Armen und den Blick Richtung Himmel gerichtet den Massen wie in Trance und mit sich überschlagender Stimme zuruft, sie mögen ihn zum Sieg führen. Vor zwei Monaten wurde Macrons Kandidatur ohne den Rückhalt einer Partei, aber da schon mit der Unterstützung von immerhin 40 sozialistischen Abgeordneten, noch als lupenreines Medienphänomen abgetan, als Seifenblase, die bald platzen wird.
Nichts davon ist eingetreten. Immer noch werden dem smarten 39-Jährigen mindestens 15 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Eine Reihe namhafter Wissenschaftler und Ökonomen haben sich ihm angeschlossen und mehrere prominente Sozialisten, wie etwa Ségolène Royal, machen aus ihrer Unterstützung für ihn kaum mehr einen Hehl.
„Macron“, so der Meinungsforscher Brice Teinturier, „sucht eine Alternative zu Links und Rechts. Er spricht von Fortschrittlichkeit, definiert sich als einer, der die Fortschrittlichen dieses Landes um sich scharen will und bezeichnet sich nicht als Vertreter der Linken. Bei manchen Themen ist er zwar eher auf der Linken verwurzelt, ist zugleich ein authentischer Liberaler. Seine Wähler aber stehen eher den Positionen des konservativen Alain Juppé nahe. Man sieht deutlich: Macron ist jemand, der versucht, eine neue politische Familie zusammenzuschweissen, die teils von der Rechten, teils von der Linken her kommt.“
Sozialistischer Kandidat an fünfter Stelle?
Hat das Phänomen Macron Bestand und hält sich Mélenchon, der Chef der Linkspartei mit seinen eher archaischen Vorstellungen von einer staatssozialistischen Nation, ist nicht mehr auszuschliessen, dass der Kandidat der derzeitigen Regierungspartei PS, ob er nun Valls, Montebourg oder Hamon heissen wird, im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen am 23. April nur an vierter oder sogar fünfter Stelle landet, noch hinter Macron und Melenchon, was so etwas wie eine absolute Erniedrigung wäre.
Eines ist aber auch klar: Am Ende wird jeder dieser drei Kandidaten im ersten Wahlgang nur auf 10 bis 12 Prozent der Stimmen kommen; die Stichwahl machen dann François Fillon und Marine Le Pen unter sich aus.
Le Pen versus Fillon
Fillon und Le Pen dürfen im ersten Wahlgang mit jeweils 25 bis 30 Prozent der Stimmen rechnen. Fillon, der Überraschungssieger der konservativen Vorwahlen, ist auf der Rechten als Präsidentschaftskandidat nach wie vor unangefochten, auch wenn sein kompromissloses Reformprogramm mit radikalem Abbau von 500’000 Beamtenstellen, Teilprivatisierung der Sozialversicherung und einer Steuerpolitik, die vor allem Besserverdienenden zugute kommt, selbst von manchen Konservativen in Frage gestellt wird.
Für Marine Le Pen, die selbsternannte Fürsprecherin der so genannten kleinen Leute, sind Fillons Reformvorhaben die ideale Angriffsfläche für den beginnenden Wahlkampf. Fillon habe das schlimmste Programm des sozialen Kahlschlags, das man je gesehen habe und das schlimmste europafreundliche Programm, das je existiert habe, poltert die Blonde mit der rauchigen Stimme. Niemals sei ein Kandidat bei der Unterwerfung unter die ultraliberalen Forderungen der Europäischen Union so weit gegangen wie Sarkozys ehemaliger Premierminister.
Le Pen ante portas?
Dass Marine Le Pen sich für den entscheidenden zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen qualifiziert, scheint so gut wie sicher. Nur das „Phänomen Macron“, sollte es sich noch stärker ausweiten, könnte dies eventuell verhindern. Dass die Front-National-Chefin am Ende aber sogar gegen den konservativen Fillon gewinnen könnte, gilt als praktisch unmöglich. Von den machbaren 30 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang zu den nötigen 50,1 Prozent in der Stichwahl und damit zur Machtergreifung ist noch ein weiter Weg, zumal das französische Wahlsystem keine Tradition von Koalitionen hervorgebracht hat, wie sie zwischen der konservativen Partei „Die Republikaner“ und dem Front National im Prinzip denkbar wären.
„Beide Parteien“, so analysiert der Politologe und Spezialist für Rechtsextremismus, Jean-Yves Camus, „befinden sich im Wettbewerb gegeneinander. Sie werden nie ein Bündnis eingehen, sondern eine Partei wird die andere killen. Jede der beiden Parteien weiss das auch, und irgendwann wird es in der politischen Landschaft auf der Rechten in Frankreich bedeutende Umwälzungen geben.“
Mit anderen Worten: Um wirklich an die Macht zu kommen, müsste es Marine Le Pen erst mal gelingen, die traditionelle konservative Partei zu zerschlagen und eine neue Rechte unter Federführung des Front National aufzubauen – nur so könnte sie eines Tages in den Elyséepalast einziehen.