Am kommenden Sonntag ist die erste grosse Wahlkampfveranstaltung in Marseille geplant, und am Wochenende gab sich der Präsident schon einmal im "Figaro Magazine" die Ehre.
Er grinst von mannshohen Werbeflächen an den Aussenseiten Tausender französischer Kioske, retouchiert und stark geschminkt, fast als sei es das offizielle Photo des amtierenden Staatspräsidenten, das an den Wänden aller Rathäuser und in abertausenden Amtsstuben hängt. Und neben Nicolas Sarkozys Konterfei stehen die Worte: "Meine Werte für Frankreich".
Und schon ahnt man, was da kommt, auf zehn Seiten im Inneren des Hochglanzmagazins, das am Wochenende dem Figaro, der Hauspostille von Sarkozy & Co, beiliegt. Die Werte, mit denen er aus dem chronischen und für ihn wahrlich beängstigenden Umfragetief herauskommen will, lauten: "Arbeit, Verantwortung, Autorität". Gewiss, gewiss - es ist nicht das Tryptichon, das jeder Franzose aus Pétains Zeiten kennt - Arbeit, Familie, Vaterland - aber, Hand aufs Herz: Daran erinnern soll es doch, oder?
"Überraschungen und neue Ideen"
Überraschungen und neue Ideen werde er präsentieren, wenn er sich erst mal wirklich in den Wahlkampf einschalte - dies hatte Präsident Sarkozy schon seit Wochen flüstern lassen von seinen inoffiziellen Sprachrohren hinter den Mauern des Elyseéepalastes. Nun sind sie da, die Überraschungen und die neuen Ideen, und man ist bedient.
Denn die zwei Kernpunkte im zehnseitigen Interview auf Hochglanzpapier lauten doch tatsächlich: Man solle ein Referendum abhalten über die Rechte für Arbeitslose und ihre Pflichten und über die Rechte für Ausländer.
Sogar im eigenen politischen Lager rieb man sich die Augen und fragte offen, ob das wirklich ernst gemeint sei. In Frankreich ein Referendum zu Themen wie Ausländerrechte und Rechte für Arbeitslose abhalten? Wo man einer Volksbefragung in Frankreich seit 2005 und dem Nein zum EU-Vertrag bei allen grossen politischen Themen konsequent aus dem Weg gegangen ist, es beim Lissabon-Vertrag z.B. nicht als nötig empfunden hat, das Volk zu befragen?
Und jetzt plötzlich sollen mutmassliches Sozialschmarotzertum und die Ausländer das grosse Thema, die grosse Sorge der Franzosen sein, worüber unbedingt eine Volksbefragung stattfinden muss? Wie soll man das anders interpretieren, als dass es ein erbärmlicher, schändlicher Schachzug von einem ist, dem das Wasser bis zum Hals steht und der nun mit Vorschlägen kommt, von denen er weiss, dass sie niemals umgesetzt werden und die auch nur zu einem dienen: zu versuchen, auf dem Terrain der rechtsextremen Nationalen Front zu wildern und von den wirklichen Problemen abzulenken?
Vielleicht auch von den Bettencourt- und Karachi-Affären, zwei Staatsaffären, die dem Präsidenten fast wöchentlich ein Stück näher auf den Pelz rücken und von denen Nicolas Sarkozy - so hört man aus dem Elysée – wirklich Angst hat. Immerhin sind gegen den früheren Arbeitsminister und Schatzmeister von Sarkozys UMP-Partei, Eric Woerth, letzte Woche zwei Ermittlungsverfahren eröffnet worden - darunter eines wegen Hehlerei im Zusammenhang mit illegaler Parteienfinanzierung.
Dabei geht es um nichts weniger als um die Wahlkampffinanzierung des Kandidaten Nicolas Sarkozy im Jahr 2007.
Seinem sozialistischen Herausforderer Hollande jedenfalls hat es der Präsident mit seinen "neuen Ideen" und dem Vorschlag des Referendums wahrlich leicht gemacht. Ohne auf die Details der Sinnlosigkeit, ja der praktischen Unwahrscheinlichkeit dieser Volksbefragungen überhaupt einzugehen, merkte Hollande nur süffisant an, das nächste Referendum sei doch wohl die Präsidentschaftswahl im April und Mai...
Es lebe der Rückschritt
Selbstredend folgte in dem Zeitungsinterview vom Wochenende - als Antwort auf gesellschaftspolitische Vorschläge seines Widersachers François Hollande - von Sarkozy eine klare Absage an die Homo-Ehe und die Adoptionsmöglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare, ein Nein zu Fortschritten bei der Sterbehilfe und zum Ansinnen, endlich das kommunale Wahlrecht für aussereuropäische Ausländer einzuführen, die mindestens fünf Jahre legal im Land leben - dies sei nun wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt, liess Nicolas Sarkozy verlauten. Ob dieser Zeitpunkt jemals kommen wird, in diesem immer rückschrittlicher und verängstigter wirkenden Land?
Vor genau 31 Jahren stand das kommunale Wahlrecht für Ausländer bereits schwarz auf weiss in den „110 Vorschlägen für Frankreich“ des sozialistischen Kandidaten, François Mitterrand...
Die Franzosen wissen seit dem Wochenende auf jeden Fall eines ganz genau: Was sie wirklich und in allererster Linie beschäftigt und ihnen Sorgen macht - nämlich Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und rapide sinkende Kaufkraft - ist für den amtierenden Präsidenten und Kandidaten für seine Wiederwahl absolut kein Wahlkampfthema - wichtig ist vielmehr, auf den dunkelhäutigen Teil der französischen Bevölkerung und auf Ausländer mit dem Finger zu zeigen, wieder von Identität und abendländisch-christlicher Tradition und Wurzeln zu schwafeln, den Islam als das drohende Unheil zu geisseln und den Eindruck zu vermitteln, dass die Arbeitslosen an ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld sind.
Nur nicht von der Bilanz reden
Von nun an muss jedem klar sein: Der Kandidat Nicolas Sarkozy hat nur noch diese ranzigen Themen in der Hinterhand. Bill Clintons anerkannt gültigen Wahlspruch "It's the economy, stupid" hat er jedenfalls so schnell wie möglich unter den Teppich gekehrt, denn auf diesem Terrain würde ihm ja die Bilanz seiner fünfjährigen Amtszeit um die Ohren fliegen. Die aber kann selbst der nur schwer zu übertreffende Marktschreier Nicolas Sarkozy nicht mehr schön reden: Seit seinem Amtsantritt zählt Frankreich fast eine Million Arbeitslose mehr, 300'000 Industriearbeitsplätze sind wie vom Erdboden verschwunden, das Aussenhandelsdefizit Frankreichs feiert mit über 70 Milliarden Euro einen neuen Rekord, die Staatsschulden sind um 600 Milliarden gestiegen und im ersten Halbjahr 2012 ist Rezession angesagt.
Angesichts dessen hat sich Nicolas Sarkozy überzeugen lassen, erneut dort um Stimmen zu buhlen, wo eigentlich die Nationale Front und Marine Le Pen ihr Unwesen treiben und ein Remake des Wahlkampfs 2007 versuchen. Mit dem Unterschied, dass Nicolas Sarkozy damals noch nicht Präsident war und dass Marine Le Pen, derzeit zumindest, andere Themen als die klassischen der Nationalen Front in den Vordergrund rückt - sie wettert heute gegen den Wirtschaftsliberalismus, Europa, den Euro, die Banken und die Finanzwelt sowie gegen die Globalisierung allgemein - und weniger gegen Immigration und mangelnde innere Sicherheit. Also, hat man sich wohl bei Sarkozy gesagt, belegen wir ganz schnell diese Themen, vielleicht gibt's da doch noch was zu holen.
Eine neue Facebook-Seite hat Sarkozys Partei Ende letzter Woche auch noch kreiert für den wahlkämpfenden Präsidenten, über der ein Satz voller Pathos prangt, den Sarkozy vor fast fünf Jahren am Abend seines Wahlsiegs 2007 auf der Pariser Place de la Concorde in die Mikrophone gerufen hatte: "Seit meiner frühesten Kindheit empfinde ich Stolz dabei, einer grossen, alten und schönen Nation anzugehören - Frankreich." Seht, hier schliesst sich der Kreis und alles geht von neuem los, soll das wohl heissen. Auch Marseille als Ort für seinen ersten offiziellen Wahlkampfauftritt nächsten Sonntag ist kein Zufall: An derselben Stelle hielt er vor fünf Jahren die letzte Veranstaltung seiner damals siegreichen Kampagne ab.
"Nicht alle Kulturen sind gleichwertig"
Nicolas Sarkozys Angriff über Rechtsaussen war gut vorbereitet - hatte er doch Innenminister Guéant, seinem unterwürfigsten Handlanger, in der Woche zuvor schon grünes Licht gegeben für einen wohl bedachten Ausrutscher nach ganz rechts: für eine Provokation, bei der man sicher sein durfte, dass sie mindestens 72 Stunden lang die öffentliche Diskussion beherrschen wird.
"Für uns sind nicht alle Kulturen gleichwertig", hatte der Innenminister vor einer stramm rechten Studentenvereinigung gesagt und diese Aussage einen Tag später noch einmal bekräftigt. Der lautstarke Protest über eine deratige Äusserung - die nichts anderes sagen sollte als: unsere westliche Kultur ist den anderen eben doch überlegen - und die betonte Zurückhaltung eines Teils des konservativen Lagers fochten den Staatspräsidenten nicht an: Was sein Innenminister da gesagt habe, sei doch nur der gesunde Menschenverstand, so das französische Staatsoberhaupt, man möge mit dem Getöns aufhören.
Doch zumindest der sozialistische Abgeordnete, Serge Letchimy, der auf der Antilleninsel Martinique den Wahlkreis des grossen Denkers, Dichters und Antikolonialisten Aimé Césaire nach dessen Tod übernommen hat, dachte nicht daran, den Mund zu halten und eine derartige Ungeheuerlichkeit einfach so hinzunehmen - und las, sauber argumentiert, letzten Mittwoch während der Fragestunde im Parlament den Herren auf der Regierungsbank und besonders dem Innenminister die Leviten.
"Sie , Herr Innenminister, führen uns jeden Tag ein Stück weiter in Richtung dieser europäischen Ideologien, die die Konzentrationslager hervorgebracht haben, am Ende der langen Geschichte der Sklaverei und der Kolonialisierung. War das Naziregime, das sich so sehr um Säuberungen sorgte, etwa eine Kultur? War die Barbarei der Sklaverei und der Kolonialisierung wirklich eine kulturelle Mission?"
Eine Antwort auf diese Fragen bekam der Abgeordnete aus Übersee von der Regierung nicht. Empört und unter Geschrei verliessen die konservativen Parlamentarier den Saal, vor allem aber: Die gesamte Regierung tat es ihr gleich. Dies war seit 1898 in der französischen Nationalversammlung nicht mehr vorgekommen. Damals war ein Streit im Rahmen der Dreyfus-Affäre der Grund für den Auszug der Regierungsvertreter aus dem Hohen Haus. Nun fordert die Regierung von den Sozialisten und dem Abgeordneten Letchimy eine Entschuldigung. Die wird sie nicht bekommen, und dies zurecht. Wer so tief und so unverschämt im rechtsextremen Sumpf nach Nahrung sucht, wie Präsident Sarkozy, seine Berater und seine Gehilfen, wie etwa der Inneminister, der muss sich derartige Fragen, an denen leider nichts skandalöses ist, gefallen lassen. Ja man darf vielleicht sogar ganz im Gegenteil sagen: Der Abgeordnete Letchimy hat die Ehre des französischen Parlaments gerettet.
Ich spalte, also bin ich
Der Innenminister und all die, die jetzt so empört tun, hätten sich vor ihrer schändlichen, ja gefährlichen Kampagne, die dem Krieg der Kulturen das Wort redet, den Satz eines französischen Literaturnobelpreisträgers zu Herzen nehmen können. "Dinge falsch zu benennen, trägt zum Unheil in der Welt bei", hatte der von Präsident Sarkozy vor zwei Jahren so schamlos hofierte Albert Camus einst geschrieben. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass es einer Unverschämtheit glich, als einer wie Nicolas Sarkozy mit der Initiative, Camus' sterbliche Überreste ins Pariser Pantheon überführen zu wollen, ausgerechnet diesen Schriftsteller für sich vereinnahmen, für seine Sache einspannen wollte - so ist der Beweis jetzt geliefert.
Bewusst hat Nicolas Sarkozy durch die Stimme seines Innenministers politische Regime oder religiöse Praktiken als "civilisations", als Kulturen bezeichnen lassen - so als hätte unsere abendländisch-christliche Kultur nicht die Kreuzzüge, die Gegenreformation, die Sklaverei, den Kolonialismus und den Holocaust hervorgebracht und dies alles nur, um zum hundertsten Mal in seiner fast fünfjährigen Amtszeit die französische Bevölkerung zu spalten, die einen Franzosen gegen die anderen aufzuhetzen, das weisse Frankreich gegen das farbige, die Jugend gegen die Senioren, Arbeitnehmer gegen Arbeitslose, Franzosen gegen Ausländer, Reiche gegen Arme - nach dem Motto: Ich spalte, also bin ich. Der Mann mit dem ständig drohend ausgestreckten Zeigefinger kann offensichtlich gar nicht anders.
"Frau Merkel, unterstützen Sie rechtsextreme Positionen?"
Zuerst hat Nicolas Sarkozy die ganzen letzten Wochen über krampfhaft versucht, den Staatsmann zu geben. Jetzt aber holt er, nur weil Wahlkampf ist, ohne zu zögern und zu erröten, die rechtsextreme Keule aus dem Sack. Wieder hat er, wie schon 2007, auf die dunkelste Gestalt unter seinen Beratern gehört, auf einen gewissen Patrick Besson - einen mit ultrarechter Vergangenheit, früher jahrelang Chefredakteur der rechtsextremen Wochenzeitung "Minute", Anhänger der traditionalistischen Katholiken im Umfeld von Mgr Lefebvre.
Angela Merkel wird es noch bereuen, bei ihrem jüngsten Stelldichein mit Nicolas - beim zur Wahlkampfveranstaltung für Sarkozy umfunktionierten deutsch-französischen Ministerrat in Paris - den unbedachten Satz gesprochen zu haben: "Ich unterstütze Nicolas Sarkozy in jeder Façon ... egal , was er tut." Natürlich meinte die Kanzlerin: egal, ob er kandidiert oder nicht. Angesichts der Tatsache aber, wie Nicolas Sarkozy seinen Wahlkampf jetzt offensichtlich zu führen gedenkt, würde Madame Merkel diesen Satz, nur eine Woche später, so unbedacht wahrscheinlich oder hoffentlich nicht mehr aussprechen. Denn sie müsste sich ja spätestens jetzt zu Hause ernsthaft fragen lassen: "Frau Bundeskanzlerin, unterstützen Sie wirklich derart rechtsextreme Positionen, wollen sie sich damit die Hände schmutzig machen?"