Prozentual hat das linke Lager, vor allem die Sozialistische Partei, gestern um rund 3 % besser abgeschnitten, als man ihr das in den Prognosen vorhergesagt hatte. Die gesamte Linke kommt auf über 47 % – davon 35 % für die Sozialisten, 8 % für die Kandidaten der Linkspartei und rund 5 % für die Grünen. Das heisst: Die Partei des vor 5 Wochen neu gewählten Staatspräsidenten François Hollande erzielt über 10 % mehr als bei den Parlamentswahlen vor 5 Jahren. Das linke Lager insgesamt schafft mit über 47 % dasselbe Ergebnis wie 1997, als Lionel Jospin Premierminister wurde.
Was die Prognosen für die Sitzverteilung nach der Stichwahl am nächsten Sonntag angeht, so kämen Sozialisten und ihre klassischen Alliierten, die Linksliberalen – die sogenannten «Radicaux de Gauche» und einige unabhängige Linke - auf 275 bis 329 Abgeordnete. Dies bedeutet: Die Sozialistische Partei könnte die Mehrheit von 289 Sitzen auch ohne die jeweils rund 15 Abgeordneten der Grünen und der Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon erzielen – was seit 1981 nicht mehr vorgekommen ist.
Trotzdem gab sich Premierminister Ayrault in einer ersten Erklärung gestern Abend ausgesprochen nüchtern und meinte nur, der Wandel habe begonnen und müsse nun dauerhafte Gestalt annehmen, um am Ende nochmals an die Franzosen zu appellieren, dem Präsidenten der Republik eine breite, solide und kohärente Mehrheit zu geben.
Symbolisch von Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die 24 frisch gebackenen Minister seiner Regierung, die gestern kandidierten, zum Teil überraschend gute, fast sensationelle Ergebnisse erzielten – kaum einer unter ihnen dürfte am nächsten Sonntag scheitern und infolgedessen das Kabinett verlassen müssen.
Eine für die Geschichte der 5. Republik bisher einmalige Entwicklung zeichnet sich: Sollten sich die Prognosen im 2. Wahlgang wirklich bestätigen, dann wird die Linke erstmals überhaupt sowohl in der Nationalversammlung als auch im Senat, in der 2. Kammer, eine Mehrheit haben.
Ganz zu schweigen davon, dass die Sozialisten mit einer Ausnahme die Macht in sämtlichen Regionen in der Hand haben, in zwei Dritteln der Departements und in fast allen Grossstädten mit mehr als 100‘000 Einwohnern. Mittelfristig werden François Hollande und seine Parteifreunde den Beweis antreten müssen, dass sie in der Lage sind, mit dieser einzigartigen Machtfülle verantwortungsvoll umzugehen und nicht, wie in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren ihrerseits der Arroganz der Macht verfallen.
Den französischen Konservativen, denen bestenfalls 270 Sitze und damit 20 weniger als die Mehrheit vorhergesagt werden, fiel es gestern sichtlich schwer, die sich abzeichnende Niederlage einzugestehen. Sie betonten, die Wähler hätten der Linken keinen Blankoscheck ausgestellt, man könne nicht von einer roten Welle sprechen und der Chef der UMP-Partei, Jean-François Copé kündigte an, man werde schon morgen zur Generalmobilmachung aufrufen, denn noch sei nicht alles so klar entschieden, wie es den Anschein habe.
Bezüglich des Verhaltens seiner Partei bei der Stichwahl am nächsten Sonntag gegenüber Kandidaten der extremen Rechten betonte er, es sei klar, dass es mit der Nationalen Front keinerlei Wahlbündnisse geben werde.
Die Kandidaten der Nationalen Front haben gestern landesweit mit rund 14 % der Stimmen ein für Parlamentswahlen sehr gutes Ergebnis erzielt. Aufgrund der geringen Wahlbeteiligung können jedoch nur rund 60 ihrer Kandidaten am kommenden Sonntag erneut antreten - drei oder vier allerdings sogar mit der Aussicht, in die Nationalversammlung einzuziehen - trotz des Mehrheitswahlrechts. Allen voran die Vorsitzende der Nationalen Front, Marine Le Pen, die in ihrem nordfranzösischen Wahlkreis gestern Abend gegenüber 2007 um 10 % zugelegt hat und auf über 42 % der Stimmen kam.
Marine Le Pen durfte sich ausserdem darüber freuen, dass der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Linksfront, Jean-Luc Mélenchon, der sie in ihrem Wahlkreis herausfordern wollte und reichlich unvorsichtig und grossmäulig angekündigt hatte, eine Schlacht von homerischer Grösse schlagen zu wollen, mit 21 % nur auf dem 3. Platz gelandet ist und sich für die Stichwahl zurückzog.
Gemauschel mit der extremen Rechten
Die nächsten Tage könnten ziemlich interessant werden, wenn man sehen wird, ob das seit Jahrzehnten ungeschriebene Gesetz in diesem Land angesichts des kräftigen Rechtsrucks der Konservativen in den letzten Monaten jetzt nicht doch zu Fall kommt - das Gesetz, wonach es zwischen dem ersten und dem 2. Wahlgang zwischen der traditionellen Rechten, sprich der konservativen UMP-Partei und der extremen Rechten von Marine Le Pen keine Absprachen oder Wahlempfehlungen geben darf – ja dass man bisher im Fall eines Duells zwischen einem Kandidaten der Linken und einem der extremen Rechten in der Stichwahl von konservative Seite gar dazu aufgerufen hatte, für den Kandidaten der Linken zu stimmen – sich die sogenannte „republikanische Front“ bildete, um die extreme Rechte draussen zu halten.
Die Zeiten, da sich Frankreichs Konservative an derartige Prinzipien gehalten haben, dürften definitiv der Vergangenheit angehören. Die UMP wird auf einer ausserordentlichen Sitzung ihres Parteivorstands heute Abend die generelle Position einnehmen, die Parteichef Copé schon gestern vor den Fernsehkameras vertreten hat: "Weder Absprachen mit der Nationalen Front noch ein Aufruf zur republikanische Front“.
Gleichzeitig wird man es aber letztlich den Kandidaten vor Ort überlassen, wie sie sich zu verhalten haben. Mit anderen Worten: Lokales Gemauschel ist nicht auszuschliessen. Und im Wahlkreis der Camargue, wo der Kandidat der Nationalen Front mit 35 % an erster Stelle und der der UMP hinter dem der Sozialisten abgeschlagen an 3. Stelle gelandet ist, hat dieser UMP-Kandidat gestern bereits angedeutet, er denke darüber nach, im 2. Durchgang nicht mehr anzutreten und so de facto dem Kandidaten der extremen Rechten zum Sieg zu verhelfen.
Der vor Ehrgeiz strotzende UMP-Chef, Jean-François Copé, der schon seit Jahren darauf hinarbeitet, 2017 Präsident zu werden, hat jedenfalls – als wollte er sich für solche Fälle vorbereiten - im Vorfeld schon klar gemacht, man habe in diesem Punkt von den Sozialisten - angesichts ihrer Nähe zur extremen Linksfront von Jean-Luc Mélenchon - keine moralischen Lektionen zu akzeptieren. Mit anderen Worten: Linksfront gleich Nationale Front.
Die konservative UMP-Partei ist, was ihr Verhalten zur Nationalen Front angeht, ausserdem mit der Tatsache konfrontiert, dass mittlerweile schon fast 70 % ihrer Anhänger nichts Anstössiges darin sehen würden, mit der extremen Rechten gemeinsame Sache zu machen. Und hat nicht erst vor wenigen Wochen der damalige Verteidigungsminister Longuet Marine Le Pen einen Persilschein ausgestellt und sie als ernsthafte Diskussionspartnerin geadelt? Und Ex-Präsident Sarkozy hat gesagt, Marine Le Pen sei in dieser Republik legitim?
Im nostalgisch–rechtsextremen Sumpf Südfrankreichs, ob in Marseille, Nizza, in der Gegend von Perpignan, in der Camargue oder im südlichen Rhônetal rund um Avignon, sind die konservativen Lokalpolitiker und Abgeordneten der UMP-Partei in diesen Angelegenheiten von Monat zu Monat weniger zimperlich. Hat doch etwa die Bürgermeisterin der ehrenhaften Universitätsstadt Aix-en-Provence ganz offen gesagt, die Werte Marine Le Pens seien schon seit langem auch ihre Werte. Einer der konservativen Kandidaten in der Region von Marseille hat in der Wochenzeitung der extremen Rechten „Minute“ nicht gezögert, dazu aufzurufen, in der Stichwahl am nächsten Sonntag, wenn der Fall eintrete, lieber für einen Kandidaten der Nationalen Front als für einen Sozialisten zu stimmen. Er habe genug davon, die dümmste Rechte der Welt zu verkörpern, die letztlich dafür sorge, dass der politische Gegner, die Sozialisten, gewählt würden, sagte dieser Kandidat, der zugleich Bürgermeister von Saintes-Maries-de-la-Mer ist .
Perversität des Wahlsystems
Man kann den Unmut des südfranzösischen Konservativen durchaus verstehen. Denn das französische Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen hat seit fast 20 Jahren, seit die rechtsextreme Nationale Front über ein Wählerpotential von rund 15 % verfügt, bei den Parlamentswahlen reichlich kuriose Auswirkungen.
Je stärker die Nationale Front im ersten Wahlgang abschneidet und je höher die Wahlbeteiligung ist, desto mehr Kandidaten der Linken haben eine Chance, in die Nationalversammlung einzuziehen.
Denn jeder Kandidat, der im 1. Durchgang 12,5 % der eingeschriebenen Wähler - nicht der abgegebenen Stimmen - hinter sich vereinen kann, darf in der Stichwahl noch einmal antreten. Dies wird am nächsten Sonntag erneut in rund 60 Wahlkreisen für Kandidaten der Nationalen Front möglich sein. Überall dort, wo dann drei Kandidaten zur Stichwahl antreten, verhilft der Kandidat der extremen Rechten am Ende de facto dem Kandidaten der Linken zum Erfolg.
Schon 1997, nach der merkwürdigen Parlamentsauflösung durch Präsident Chirac, hätten die Sozialisten nie die Wahl gewonnen und wäre Lionel Jospin nie 5 Jahre lang Premierminister gewesen ohne die Nationale Front, deren Kandidaten damals in 80 Wahlkreisen noch einmal angetreten waren und so den Sozialisten zur Mehrheit verholfen hatten.
Trotz allem: Frankreich ist nicht links
Am Ende dieser Monate währenden Wahlperiode wird Frankreich nun einen linken Präsidenten, eine linke Parlamentsmehrheit in beiden Kammern, sowie von der Linken regierte Regionen und Grossstädte haben, ohne dass sich das politische Kräfteverhältnis zwischen Links und Rechts im Land in den letzten Jahren wirklich grundsätzlich geändert hätte.
Denn was schon im 1. Durchgang der Präsidentschaftswahl zu sehen war, ist gestern noch einmal deutlich geworden: Das gesamte linke Lager kam beide Male auf 45 bis 47 %, die traditionelle und die extreme Rechte zusammen auf praktisch denselben Prozentsatz – am Ende aber hat das eine Lager jetzt die gesamte Macht. Eine für die Demokratie nicht wirklich gesunde Situation, die in den kommenden Jahren auch für reichlich Spannungen und harte Konfrontationen sorgen könnte.