Die schweizerische Konkordanzdemokratie beruht auf einigen Grundüberzeugungen, zu denen alt Bundesrat Arnold Koller im Jahr 2000 in einem Artikel in der NZZ die direkte Demokratie, den föderalistischen Staatsaufbau, den liberalen Rechtsstaat, die soziale Marktwirtschaft sowie die bewaffnete Neutralität zählte.
Die Zauberformel
Daraus hat sich im Jahr 1959 die "Zauberformel" entwickelt, nach der die FDP, CVP und SP mit je zwei Bunderäten sowie die SVP mit einem vertreten sind. Sie beruht nicht allein auf der zahlenmässigen Stärke der Parteien, wie Koller ausführte. Dazu kommt die Bereitschaft des Bundesrates und der Parteien, nach einer Auseinandersetzung um die besten Argumente Abstriche zu machen und Hand zu einem Kompromiss zu bieten.
Wäre eine rein arithmetische Verteilung der Bundesratssitze das entscheidende Kriterium, so hätte die Sozialdemokratische Partei (SP) bereits 1935 und auch 1955 Anrecht auf zwei Sitze im Bundesrat gehabt, denn sie war zu jener Zeit stärkste Partei im Nationalrat. Den Ständerat mitgerechnet verfügte sie über fast gleich viele Sitze wie die FDP und CVP, doch die Bundesratsparteien fanden die SP damals noch nicht als „reif“ und genügend pragmatisch für die Aufnahme in die Kollegialregierung.
Schwindende Gemeinsamkeiten
In den letzten 25 Jahren sind die Gemeinsamkeiten der Bundesratsparteien geschwunden. Die Globalisierung, die tiefgreifende Deregulierung, der zugespitzte Wettbewerb und die zunehmende Macht der transnationalen Konzerne haben die Handlungsfähigkeit der Staaten und somit auch der Schweiz eingeschränkt. Trotzdem ist die Konkordanz gerade in Verbindung mit der direkten Demokratie und der Rücksichtnahme auf Minderheiten – nicht nur mit Bezug auf die Sprachen – zwar unzulänglich, aber immer noch das beste Regierungssystem für die vielgestaltige Schweiz.
Die stärkste Partei schert aus
Und wie verhält sich die SVP? Ein Beispiel ist das Asylgesetz. Die wählerstärkste Partei hat die neuste Revision in ihren Grundzügen unterstützt, sie wollte ebenfalls die jahrelangen Asylverfahren drastisch verkürzen und verhindern, dass in den Schweizer Botschaften um Asyl nachgesucht werden kann. Diese Neuerungen sind im bereinigten Asylgesetz enthalten, doch in der Schlussabstimmung sagte die SVP nein.
Fraktionschef Adrian Amstutz kündigte im Nationalrat am letzten Tag der Herbstsession das Referendum an und erklärte, die Revision sei eine typische "So-tun-als-ob-Aktionsübung"; damit werde Land und Leuten Sand in die Augen gestreut. Das überraschte die anderen Parteien. Sie zeigten kein Verständnis für diesen Entscheid. Wie bereits in den Ratsdebatten zur Asylreform warfen sie der SVP vor, gar nicht an Lösungen interessiert zu sein. Die SVP selbst habe stets schnellere Asylverfahren gefordert. "Wir freuen uns auf diesen Abstimmungskampf und sind gespannt, wie Sie dem Volk erklären werden, dass die Verfahren weiterhin jahrelang dauern sollen", sagte FDP-Fraktionschefin Gabi Huber zu Adrian Amstutz.
Offensichtlich hatte sich die SVP im Hinblick auf die Parlamentswahlen vom 18. Oktober vor den Wählerinnen und Wählern als jene Partei darstellen wollen, die als einzige dem (von ihr heraufbeschworene) Asylchaos entgegentritt. Mit andern Worten: Um Stimmen hinzuzugewinnen, ist die SVP bereit, eine brauchbare Gesetzesrevision zu opfern.
EMRK – SVP nie zufrieden
Ein weiteres Beispiel, in den Medien kaum beachtet, ist das Protokoll Nr. 15 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Mit ihrer Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ stellt die SVP die EMRK und das internationale Völkerrecht in Frage, die gerade kleinen Ländern Schutz vor Willkür grosser Staaten bieten. Die SVP wettert gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der zwar fast immer im Sinne der Schweiz entscheidet, nur in wenigen Fällen gegen unser Land. Im letzten derartigen Fall erwies sich das Urteil sogar als ganz im Sinne der SVP. Ein türkischer Vortragsredner, der in der Schweiz den Genozid der Türken an den Armeniern leugnete, wurde vom Bundesgericht verurteilt. Im Oktober kam der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof jedoch zum Schluss, das Bundesgericht hätte den Türken freisprechen sollen, denn die Schweiz habe ihm gegenüber das Recht auf freie Meinungsäusserung unrechtmässig eingeschränkt.
Das oben erwähnte 15. Zusatzprotokoll will den Vertragsstaaten mehr Spielraum beim Umsetzen der Menschenrechtskonvention einräumen, um den lokalen Umständen und Bedürfnissen besser Rechnung tragen zu können. Damit wird den Vorbehalten der SVP, wenigstens teilweise, Rechnung getragen. Im Nationalrat bemängelte die SVP gleichwohl, das bringe kaum etwas, der Bundesrat müsse das Protokoll neu aushandeln. Die Ratsmehrheit lehnte das entschieden ab, denn die erzielten Verbesserungen dürften nicht ignoriert werden, wie das die SVP tue. Auch im Zusammenhang mit dem Protokoll Nr.15 ist die stärkste Partei nicht kompromissbereit.
Es geht um unsere Verfassung
Es stellt sich die Frage, ob einer Partei, die, ohne auf die Argumente ihrer Regierungspartner zu hören, ihre Sicht der Dinge durchsetzten will, ein zweiter Sitz im Bundesrat, einer Kollegialregierung, zugeteilt werden soll. Dies abzuwägen, ist Aufgabe der National- und Ständeräte, welche gemeinsam am 9. Dezember die sieben Mitglieder des Bundesrats wählen werden. Es ist umso notwendiger, dies zu bedenken, als die SVP weiterhin mit Volksinitiativen - nicht nur mit jener, welche die Europäische Menschenrechtskonvention aushebeln will – Grundwerte unserer Bundesverfassung wie zum Beispiel das Verhältnismassigkeitsprinzip ausser Kraft setzten will.