Montag, 19. November. Der Senator war müde an diesem Abend, fast 30 Stunden nach Schliessung der letzten Wahllokale. Schliesslich ist er, wie die meisten Senatoren Frankreichs, in einem etwas fortgeschrittenen Alter und eher einer von der betulichen Art. Spätestens an diesem Abend dürfte der ehemalige Professor für russisches Recht an der Universität Rouen den Tag zum Teufel gewünscht haben, an dem man ihn vor Monaten, in einer schwachen Stunde, dazu überredet hatte, den Vorsitz der Kontrollkommission bei der Urwahl eines neuen Parteivorsitzenden seiner konservativen UMP zu übernehmen.
In seiner gutmütigen Ahnungslosigkeit hätte der Senator Patrice Gélard sich nie träumen lassen, dass das Ergebnis zwischen den beiden Kandidaten für den Parteivorsitz mehr oder weniger bei 50 zu 50 liegen könnte und vor allem, dass sich seine bürgerliche Partei innerhalb weniger Stunden in ein Tollhaus voll von Intriganten, Messerstechern und Wadenbeissern verwandeln könnte.
Die Nacht der langen Messer
Die Nacht davor, von Sonntag auf Montag, hatte er bis nach drei Uhr morgens die Urwahlergebnisse geprüft und war immer noch zu keinem Endergebnis gekommen, das er hätte verkünden können. Offensichtlich hatte der Streit mit anderen Mitgliedern der Kommission über die zahlreichen Unregelmässigkeiten und mutmasslichen Betrügereien in mindestens zwei Dutzend der rund 600 Wahlbüros im Land viel Zeit in Anspruch genommen.
Doch während der zurückhaltende, an gute Sitten und Höflichkeit gewohnte Senator noch brav vor sich hin zählte, erklärte sich der 48-jährige bisherige Generalsekretär und Rechtsausleger der Partei, Jean François Copé, eine Etage tiefer am Sitz der UMP-Partei am Sonntag kurz vor 23 Uhr einfach selbst zum Wahlsieger. Copés Erklärung vor der Presse roch nach Pronunciamento, erinnerte an den Auftritt eines südamerikanischen Putschgenerals der 60er Jahre. Ein unbekannter, rotgesichtiger 120-Kilo-Mann mit dem Aussehen eines Leibwächters an seiner Seite verstärkte diesen Eindruck noch.
Für Copés Gegner, François Fillon, immerhin fünf Jahre lang französischer Premierminister, schien am Sitz der UMP-Partei am jenem Wahlabend kein Platz zu sein. Fillon hatte, als sei er kein gleichwertiger Kandidat, die Presse in ein Café des 7. Pariser Arrondissement laden müssen, das aus allen Nähten platzte und um sein Mobiliar zu fürchten hatte. Im Gedränge dieses improvisierten Wahlkampfquartiers trat Fillon eine Viertelstunde nach Copé ebenfalls vor Kameras und Mikrophone, um sich seinerseits als Sieger zu erklären. Anders als Copé wies er wenigstens darauf hin, dass dieses Ergebnis noch von der Wahlkontrollkommission bestätigt werden müsse. Alle Welt schien da bereits vergessen zu haben, dass es die Rolle der Kommission gewesen wäre, das Wahlergebnis zu verkünden. Im Getöse der offenen Kriegserklärung zwischen beiden Kandidaten war dies aber schlicht untergegangen.
Des Senators grosser Auftritt
Die Nacht, in der Frankreichs Konservative den Kopf verloren hatten, ging gegen halb vier Uhr morgens zu Ende. Um 10 Uhr wurde die Wahlkontrollkommission erneut einberufen, um weiter zu zählen. Über zwölf Stunden sollte es noch dauern; die Hauspostille der französischen Rechten, Le Figaro, berichtete auf dessen Webseite sogar mitfühlend, die Kommission habe sich nicht mal Zeit zum Mittagessen genommen; der Senator habe Pizzas kommen lassen.
Angesichts des Chaos in der UMP platzte aber selbst Le Figaro der Kragen und das Blatt verstieg sich am Tag darauf dazu, über einen Artikel die Überschrift zu setzen: „24 heures de bordel généralisé“. Man stelle sich das erstaunte Stirnrunzeln des französischen Grossbürgers vor ob so viel Umgangssprachlichkeit in seinem Leib- und Magenblatt. "In diesen Tagen geht wirklich alles den Bach hinunter", dürfte er geknurrt haben.
Siegesrede Nr. 2
Der Teint des Senators war gelb-grau, als er am Montag gegen 22.30 Uhr vor die Fernsehkameras trat, um endlich das Wahlergebnis zu verkünden, und die französische Öffentlichkeit erstmals die zerstörte Miene des bis dahin völlig unbekannten Manns zu Gesicht bekam. Man habe die Ergebnisse aller Wahlbüros akzeptiert, sagte er, und demnach habe Jean Francois Copé bei 175'000 abgegebenen Stimmen mit 98 Stimmen Vorsprung gewonnen.
Der Senator hatte noch kaum ausgesprochen, da stürzte Copé ein zweites Mal an die Mikrophone und hielt zum zweiten Mal seine Siegesrede, in der er davon sprach, dass er dem Verlierer die Hand ausstrecke, man sich jetzt wieder einigen und zusammenarbeiten werde, denn schliesslich gehe es doch darum, die Sozialisten kurz und klein zu hauen und nicht untereinander auf sich einzuschlagen.
Der Senator und Vorsitzende der Wahlkontrollkommission floh derweil bereits aus dem Parteisitz in der Pariser Rue de Vaugirard. Er drängte durch die Meute von Journalisten und beunruhigten Parteimitgliedern, die herbeigeströmt waren, um dem Schlachtgetöse näher zu sein, zum wartenden Taxi, um dieser bösen Welt von gnadenlos Machtgierigen endlich zu entkommen. Der Schrecken ob des Zustands seiner Partei, den er in seiner ganzen Ahnungslosigkeit während der letzten 48 Stunden hatte entdecken müssen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig sah er so aus, als würde er sich jetzt darauf freuen, dass ihm seine Frau zu Hause Strickjacke und Pantoffeln bereit halten würde, es statt Pizza etwas anderes zu essen gäbe und am Ende Kamillentee vor der verdienten Nachtruhe auf ihn warte.
Politischer und moralischer Bruch
Man weiss nicht, ob der Senator vorher noch einen der drei ausser Rand und Band geratenen Informationssender des französischen Fernsehens eingeschaltet hatte. Dort hätte er dann die eisige Miene des unterlegenen François Fillon betrachten können, der sagte, er nehme das Ergebnis zur Kenntnis, sei damit aber keineswegs im Reinen. Er sprach nochmals von zahlreichen Unregelmässigkeiten bei der Wahl und formulierte dann den im Lauf der Woche schon historisch gewordenen Satz: „Durch unsere politische Bewegung geht ein Bruch. Dieser Bruch ist politischer und moralischer Natur."
Formloser gesagt heisst das: "Ich, der gemässigte und staatsmännische Kandidat, der zum politischen Zentrum hin tendiert und den sozialen und altgaullistischen Flügel der Partei repräsentiert, kann mit Jean François Copé und seinen Schmutzfinken, die sich schamlos bei den Rechtsextremen bedient und angebiedert haben, mit dieser so genannten Rechten ohne Komplexe, die mittlerweile schlimmere Phrasen drischt als die Nationale Front, einfach nicht zusammenarbeiten." Formal war aber an diesem Montagabend zumindest klar: Jean François Copé ist der neue Präsident der UMP und François Fillon wird das proklamierte Ergebnis nicht anfechten.
Vergessene Stimmen
15 Stunden später aber sah alles wieder ganz anders aus. Das Lager des unterlegenen François Fillon hatte festgestellt, dass bei der Auszählung die 1304 Stimmen aus den Überseedepartementen Neukaledonien, Mayotte und Walis et Futuna schlicht und einfach vergessen worden waren. Nach langem Zögern musste der müde Senator noch einmal vor die Kameras und dies mit zerknirschter Miene bestätigen. Copés Lager aber antwortete in grober Weise: Diese paar Stimmen aus den Überseedepartements seien nicht so wichtig, und in jedem Fall habe das andere Lager an anderen Orten in den Wahllokalen derartig manipuliert, dass sich das sicher wieder aufheben würde.
Von diesem Dienstagnachmittag an waren dann aber endgültig alle Dämme gebrochen, der Hass der einen auf die anderen wurde kübelweise ausgeschüttet, die Kriegserklärung war endgültig und der Ruf nach Blauhelmsoldaten wurde laut. Ex-Premierminister Fillon sagte, mit Blick auf das Verhalten des gegnerischen Lagers, in einem morgendlichen Radiointerview, eine Partei sei doch schliesslich keine Mafia. Copé konterte, Fillon sei einfach ein schlechter Verlierer, er solle aufhören, moralische Lektionen zu erteilen, ohne diese auf sich selbst anzuwenden, und schickte seinen Wahlkampfleiter vor die Presse. Der versuchte, mit dem gespenstischen Gehabe eines Politkommissars und mit Reproduktionen von Wahlprotokollen in der Hand darzulegen, wie und wo die Anhänger Fillons bei dieser Urwahl betrogen hätten.
Juppé als Vermittler
In diesem völlig zerrütteten Klima bot der altgediente ehemalige Premier- und Aussenminister und Gründer der UMP, Alain Juppé, seine Vermittlerdienste an, stellte allerdings eine Reihe klarer Bedingungen. Fillon akzeptierte sie umgehend, Copé nur halbherzig und im Grunde nicht wirklich. Blauhelm Juppé forderte die Adjudanten der beiden Streithähne auf, von nun an wenigstens die öffentlichen Hasstiraden einzustellen und Enthaltsamkeit von Mikrophonen und Kameras zu pflegen, was nur leidlich respektiert wurde.
Immerhin ist am gestrigen Sonntagabend trotz aller gegenseitiger Verachtung ein Vermittlungsgespräch zwischen Juppé, Copé und Fillon zustandegekommen. Nach Juppés Vorstellungen sollte es der Beginn eines 14 Tage dauernden Prozesses sein. Doch es dauerte gerade mal 30 Minuten, bevor Blauhelmsoldat Juppé bereits das Handtuch warf.
Copé, der letztlich keine der Bedingungen Juppés akzeptiert hatte, besass hinterher die Frechheit, von einer extrem herzlichen Atmosphäre während der 30-minütigen Unterredung zu sprechen. Fillon dagegen liess erklären, er werde jetzt ein Gericht anrufen, um die Wahrheit über das Wahlergebnis herauszufinden und um den Wählern erneut die Stimme zu geben. Der Gang vors Gericht aber ist die absolut rote Linie, die nach Meinung aller nicht überschritten werden darf, wenn die definitive Spaltung der Partei verhindert werden soll. Gestern Abend sah es allerdings schon nicht mehr so aus, als könnte dies noch gelingen. Erste Politiker aus dem Umfeld Fillons erklärten bereits, man werde im Parlament eine eigene Fraktion gründen.
Champagner bei der Nationalen Front
Übrig bleibt von dieser in der politischen Geschichte des Landes bislang einmaligen, chaotischen und albtraumhaften Woche, dass die grösste konservative Partei des zweitgrössten EU-Landes von innerparteilicher Demokratie auch im Jahre 2012 noch nichts versteht und unfähig ist, eine Urwahl unter korrekten Bedingungen zu organisieren. Als die Sozialisten vor vier Jahren dasselbe Problem hatten und Martine Aubry nur hauchdünn gewonnen hatte, schafften sie es zumindest, ihre schmutzige Wäsche weitgehend hinter den eigenen vier Wänden zu waschen und im Streit nicht gleich die Existenz der gesamten Partei aufs Spiel zu setzen.
Übrig bleibt weiterhin, dass Frankreichs Rechte es seit Jahrzehnten nicht fertig bekommt, eine grosse, konservative Volkspartei zu gründen und am Leben zu erhalten. Die UMP, diese „Union für eine Volksbewegung“, war 2002 gegründet worden, um ein möglichst weites Spektrum abzudecken und zu verhindern, dass es der extremen Rechten noch ein zweites Mal gelingt, bei einer Präsidentschaftswahl in die Stichwahl zu kommen, wie dies am 21. April 2002 der Fall gewesen war. Nur zehn Jahre später ist die UMP-Partei bereits ein Scherbenhaufen.
„UMP – Selbstmord live“
Und schliesslich bleibt zu vermerken, dass das von Machtgier getriebene, selbstmörderische Verhalten beider Kandidaten, aber vor allem von Jean François Copé, mit Sicherheit nicht dazu beigetragen hat, die Politikverdrossenheit der Franzosen zu mindern und das abnehmende Vertrauen in die politischen Parteien des Landes wieder zu stärken. Zu niederschmetternd und konsternierend war das Schauspiel, das die Akteure geliefert hatten. Und selbst dem konservativen Figaro blieb an diesem Montag nur der Titel, in aussergewöhnlich grossen Lettern: „UMP – Selbstmord live“.
Frankreichs extreme Rechte und Marine Le Pen dürften sich jedenfalls die Hände reiben. Die neue Parteivorsitzende ist ihrem schon seit einem Jahr erklärten Ziel ein deutliches Stück näher gekommen: bei der Neuzusammensetzung der französischen Rechten eine zentrale Rolle zu spielen. Ihre Position scheint dabei seit diesem Sonntagabend in der Tat stärker denn je. Es war ein Parteigänger von François Fillon, der diese Entwicklung so auf den Punkt brachte: „ Das Ergebnis unserer Vorstellung - 25 Prozent für Marine Le Pen bei der nächsten Präsidentschaftswahl.“
Und Sarkozy?
Wie hilflos und heillos zerstritten Frankreichs Konservative aus dieser Urwahl ihres neuen Parteivorsitzenden hervorgehen, mag man schliesslich auch daraus ersehen, dass seit einer Woche täglich mehrmals der Ruf ertönt, Nicolas Sarkozy könnte in dieser verfahrenen Situation doch ein Rettungsanker sein.
Dabei scheinen allerdings alle zu übersehen, dass Nicolas Sarkozy letztlich sehr wahrscheinlich der Hauptverantwortliche für das herrschende Chaos ist. Hat denn plötzlich jeder vergessen, dass gerade er es war, der mit seiner Brandrede im Juli 2010 in Grenoble gegen Roma und Franzosen ausländischer Herkunft, durch seine Kampagne wegen der Identität der Franzosen und das Gerede über Sozialschmarotzertum und später durch seinen skandalös rechtspopulistischen Wahlkampf 2012 diesen Keil in die Partei getrieben hat, an dem die UMP, die er sich 2004 für seine Präsidentschaftsambitionen unter den Nagel gerissen hatte, wahrscheinlich an diesem Sonntagabend zerbrochen ist ?
Sarkozy war es, der massgeblich den lange bestehenden Schutzwall zwischen traditioneller Rechten und extremer Rechten eingerissen hat, natürlich ohne formal mit der Nationalen Front zu paktieren. Aber Nicolas Sarkozy hat die Geister gerufen. Nun sind sie so stark präsent in seiner Partei, dass jene Hälfte, die bei dieser Urwahl für Fillon gestimmt hatte, nicht mehr bereit ist, dieser Entwicklung weiter zu folgen.
Der von Fillon angesprochene politische und moralische Bruch in der UMP, der auch ein ideologischer ist, wurde von Nicolas Sarkozy initiiert. Und die Partei, die ihm zu Diensten war, hat nach den Wahlniederlagen im Mai und Juni vor allem eines nicht getan: eine Inventur der 5-jährigen Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy zu machen, eine kritische Bilanz zu ziehen und die wirklichen Gründe für die Wahlniederlagen der Konservativen zwischen 2008 und 2012 zu suchen. Nicolas Sarkozy hätte dies auch sicherlich als Zumutung empfunden. Also sind Copé und Fillon einfach, als wäre nichts gewesen, gleich in den nächsten Wahlkampf für den Parteivorsitz gezogen, bereits mit dem Blick auf die nächste Präsidentschaftswahl 2017. Ganz nebenbei ist ihnen dabei ihre Partei kaputt gegangen.