Doch durch seine geradezu obsessive Befassung mit der israelischen Politik gegenüber dem Gazastreifen muss er dieses Versprechen schuldig bleiben. Denn wenn es stimmte, dass es sich bei den israelischen Staatsleuten von David Ben-Gurion über Golda Meir, Menachem Begin, Yitzhak Shamir, Yitzhak Rabin, Shimon Peres, Ehud Barak bis zu Benjamin Netanyahu durchweg um politische Verbrecher handelt, könnte die Schlussfolgerung nur lauten, dass der von ihnen repräsentative Staat schnellstmöglich von der historischen Landkarte verschwinden möge. Was dann aber aus der jüdischen Bevölkerung würde, dürfte Finkelstein kaum interessieren.
Der Autor reiht ein Zitat an das andere und droht damit, seine Leser zu überwältigen. Seine Methode läuft darauf hinaus, den Lesern die Chance zu nehmen, die eingebrachten Belege einer näheren Prüfung zu unterziehen und sie überdies in die jeweiligen zeithistorischen Kontexte einzuordnen. So etwa mag man Rabin manche und sogar viele politische Fehlleistungen unterstellen – etwa die jüdischen Siedler nach dem Massaker Baruch Goldsteins im Februar 1994 an 29 Palästinensern in Hebron nicht abzuziehen –, ihm jedoch die Hoffnung zu unterstellen „Wenn es [Gaza] nur endlich im Meer versinken würde“, entbehrt der Grundlage.
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Der als ein Freund Rabins unverdächtige langjährige Geheimdienstchef und Minister für öffentliche Sicherheit Avi Dichter hat sich an ein Treffen erinnert, bei dem Rabin gestöhnt habe, warum es nicht gelinge, den Gazastreifen ins Meer treiben zu lassen. Und wenn wir schon dabei sind: Wenn das Lektorat freundlicherweise auf das Buch von Amira Hass „Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land“ mit Seitenangabe hinweist, dann hätte ihm auffallen müssen, dass die renommierte Journalistin auf eine gewichtige Variante aufmerksam macht: Im palästinensischen Sprachgebrauch bedeutet: „Geh und trink Meerwasser" nichts anderes als "Fahr zur Hölle“.
Finkelsteins Buch leidet an den ständigen Versuchen, ihn politisch zu einem Aussätzigen zu stempeln, an der Borniertheit der internationalen Politik, dem palästinensischen Volk endlich zu seinem Recht auf nationale Unabhängigkeit zu verhelfen, und am „israelische[n] Moloch“ in den besetzten Gebieten. Mit diesem Zorn in Kopf und Bauch findet bei ihm kaum ein Politikberater und ein politischer Akteur in den USA und in Israel Gnade. Beispielsweise hat er es systematisch auf Anthony H. Cordesman abgesehen – und übergeht souverän die vom Direktor des „Center for Strategic and International Studies“ angestoßene Diskussion „Worauf gründen die Beziehungen zu Israel?“.
Gerade indem Cordesman die moralischen und ethischen Motive der Bindungen an Israel von Grund auf anerkannte, schrieb er seiner Administration ins Stammbuch, dass sie damit keineswegs die Siedlungspolitik, die demographische Judaisierung Ost-Jerusalems sowie den Libanon-Krieg 2006 und den Gaza-Krieg drei Jahre später rechtfertigen oder entschuldigen dürfe. Denn die Treuepflicht könne nicht bedeuten, dass die USA eine Regierung unterstützen, wenn diese nachweislich bei der Suche nach dem Frieden mit ihren Nachbarn versage. „Die Vereinigten Staaten brauchen keine unnötigen Probleme in einem der gefährlichsten Teile der Welt, besonders wenn israelische Aktionen eine Form annehmen, die Israels eigenen strategischen Interessen nicht dienen“, schloss Cordesman seine Philippika ab.
Politisch selektive Wahrnehmungen wie die genannten geben der „Flugschrift“ einen diffusen Beigeschmack. Denn natürlich hat der israelische Krieg im Gazastreifen mehrere Vorgeschichten, zu denen der monatelange Beschuss des israelischen Südens durch „Hamas“ und die erfolgreiche Komplettierung ihres Waffenarsenals gehören, ohne das dem dreiwöchigen Dauerbeschuss von israelischer Artillerie und Luftwaffe nicht hätte standgehalten werden können. Und natürlich haben sich die „Hamas“-Kämpfer der Schutzschilde unter der Zivilbevölkerung bedient, wie Finkelstein unschwer dem „Goldstone Report“ hätte entnehmen können. Ohne die Einbeziehung solcher Tatbestände erscheinen die „Hamas“-Kämpfer und ihre Sympathisanten als unprofessionelle Toren, denen nur zu raten bleibe, ihre „furchterregenden Bärte“ abzunehmen, weil „das (…) ihrem Image im Westen nur förderlich sein (könne)“.
Aber auch dies sei vermerkt: Das israelische Militär hat unter seinem neuen Generalstabschef Gabi Ashkenasi nach dem Desaster im Libanon die Gelegenheit gesucht, seinen schwer angeschlagenen Ruf der ungefährdeten Dominanz zu reparieren. In großen Teilen der Weltöffentlichkeit hingegen hat der Krieg zur politischen Delegitimierung Israels weiter beigetragen – und Tsipi Livni zur Absage ihrer Reise nach London bewogen, weil die damalige Außenministerin ein Untersuchungsverfahren befürchtete.
Finkelsteins Polemik wird hierzulande seine Lesergemeinde finden. „Die Zeiten, da Israel auf eine reflexartige Unterstützung für seine Politik zählen konnte, sind vorbei“, führt der Autor bereits eingangs aus. Ja, die Regierungen in Jerusalem haben es geschafft, international ein Klima der tiefen Abneigung und der aggressiven Feindschaft zu produzieren, die auch diesem Buch, und zwar eben ungeachtet argumentativer Kurzatmigkeiten und politischer Fehleinschätzungen, zur Aufmerksamkeit verhelfen wird.
Finkelstein, Norman G.: Israels Invasion in Gaza. Edition Nautilus: Hamburg o.J. [2011]. 224 S., 18,00 €, 30,90 sFR