Über 18 Jahre ist es her, dass unser Autor das Privileg hatte, die Ikone des französischen Chansons in ihrem Haus in Ramatuelle an der Côte d’Azur zu treffen.
Die Luft war mild an diesem eher bewölkten Januartag. Das Mittelmeer nicht von seinem schönsten Blau. Doch das Gelb der Mimosen setzte bereits seine Farbpunkte in der Macchia des „Massif des Maures“, auf dem Weg vom Flughafen in Nizza, wo einen ein örtliches Kamerateam in Empfang genommen hatte, nach Ramatuelle – wie Saint-Tropez einst ein verschlafenes Dorf, heute über Kilometer hinweg von prächtigen Anwesen umzingelt. Irgendwo dort hatte Juliette Gréco ihr südfranzösisches Domizil.
Filmpremiere
Der Anlass für diesen Tagestripp von Paris an die Cote d’Azur und zurück?
Ein Kinofilm, eine österreichisch-deutsch-französische Koproduktion, an der auch der ORF beteiligt war, kam in Wien zur Uraufführung. „Jedermanns Fest“ des international eher unbekannten österreichischen Regisseurs Fritz Lehner, eine moderne Paraphrase von Hofmannsthals Bühnenspiel „Jedermann“, mit Klaus Maria Brandauer in der männlichen Hauptrolle. An seiner Seite Juliette Gréco.
Selbige konnte nicht zur Premiere nach Wien kommen, weil die damals 75-Jährige gerade wieder einmal mit ihren Chansons, darunter eine ganze Reihe neuer, quer durch Frankreich unterwegs war. Aber „Jolie Môme“ war zu einer Wortspende, zu einer Videobotschaft bereit, bei sich zu Hause, exakt zwischen zwei Terminen ihrer damaligen Tournee durch kleine und mittlere Städte des Landes. Also setzte der ORF, Ko-Produzent des Films, seinen Paris Korrespondenten in ein Flugzeug.
Entspannt
Der hatte keine Fragen zu stellen, kein Interview zu führen, war als Bote unterwegs, musste nur ein Videokassette heil zurück nach Paris bringen und war dementsprechend entspannt. Keine Sorgen und kein mulmiges Gefühl im Bauch, einer lebenden Legende entgegenzutreten und aus ihr möglichst viel und Gutes herausholen zu müssen. Ganz zu schweigen davon, dass die für ihre Direktheit bekannte Grande Dame so manche Frage ja hätte als dümmlich bezeichnen, einen blosstellen können, weil man nicht gut genug informiert war.
Einem Biographen, der sich in einem ganzen Buch einen einzigen inhaltlichen Fehler geleistet hatte, soll sie laut dessen Angaben nach einem Versöhnungsgespräch in einem Hotel entgegengeworfen haben: „Ich bin ihnen nicht mehr böse. Wenn ich es immer noch wäre, würden sie jetzt ihre Hoden angenagelt an der Aussenwand des Hotels wiederfinden.“
Juliette Grécos Anwesen ohne Hausnamen zu finden, in Zeiten ohne GPS und nur mit einer vagen Wegbeschreibung ausgestattet, stellte sich als nicht ganz einfach heraus – in diesen weit verzweigten Vierteln, auf unasphaltierten Wegen und meist ohne Strassennamen, zudem an einem Januarnachmittag, wo sich keine Menschenseele draussen aufhielt. Ein einsamer Spaziergänger sollte uns retten.
Schwarz-Weiss
Das Haus, hinter weissen Mauern, ein Gartentor aus bestem Holz, an der Eingangstür zum leicht abfallenden Grundstück damals schon eine Gegensprechanlage mit Videokamera. Schnell nach dem Klingeldruck ein gehauchtes „Oui?“ und die Tür öffnete sich. Vor dem Garagentor ein alter, schwerer BMW, angemeldet im Departement Oise, wo Juliette Gréco 50 Kilometer nördlich von Paris ihren zweiten Wohnsitz hat.
Unten an der Treppe, in der weit geöffneten Haustüre, da stand sie, diese schwarze Silhouette, die klein und fast zerbrechlich wirkte und von der doch seit jeher eine enorme Kraft ausging. Hinter ihr öffnete sich auf zwei Ebenen ein immenser Raum ganz in Weiss, mit ein paar meerblauen Farbtupfern. Weiss auch, im Kontrast zur Gastgeberin, das Mobiliar und die grosse Sitzgarnitur. Auf dem niedrigen Glastisch ein weiterer Farbtupfer: eine Flasche Rosé-Champagner und vier Gläser.
Und am Ende des Raums nach Südwesten eine riesige Fensterfront, dahinter, tief unten über dem Grün der Macchia in einem Kilometer Entfernung, das Meer.
Professionel
Man musste in dieser Kulisse nicht lange nach dem idealen Platz für Grécos Statement suchen, nichts umstellen und keine Möbel rücken. Denn sie wusste natürlich, wo genau sie im weiten, weissen Raum zu sitzen gedachte und wie das Licht geregelt sein sollte, um ihre Maske aus weisser Schminke nicht überzubetonen. Also hatte auch der Kameramann – da keine Schnittbilder gebraucht wurden – eigentlich nichts zu tun, als einmal auf den Knopf zu drücken. Er hat es letztlich ein zweites Mal tun müssen, weil die Gastgeberin ihre erste Version der Grussbotschaft nach 30 Sekunden abbrach und neu ansetzte. Man musste daran denken, dass diese Ikone des französischen Chanons, die eine fast ungeheuere Selbstbeherrschung und absolute Souveränität ausstrahlte, auch nach Tausenden Konzerten bei jedem weiteren Auftritt nach wie vor ein immenses Lampenfieber nicht ablegen konnte.
Die zweite Version gelang, fünf Minuten druckreif in die Kamera gesprochen und das war es dann. Nicht den Hauch einer Ahnung mehr, welche Worte Juliette Gréco an diesem Januartag 2002 an diejenigen gerichtet hat, mit denen sie sechs Jahre zuvor zusammengearbeitet hatte.
Konversation
Eigentlich hätte man jetzt einpacken und gehen können, doch da war ja noch der Champagner. Man verstand ihn als noble Geste der Aufmerksamkeit an von weither Angereiste, die die Hausherrin nicht nach 15 Minuten gleich wieder vor die Tür setzen wollte. Juliette Gréco entkorkte und servierte ihn selbst. Nun galt es Konversation zu machen, was nicht gerade die eigene Stärke ist.
Man begann, schon mal nicht sonderlich einfallsreich, mit dem betörenden Ausblick auf die Landschaft und das Meer. Alles schön und gut, antwortete die Dame in Schwarz, doch in den Sommermonaten wird es immer unerträglicher. Sie zeigt auf die Villen unterhalb ihres Hauses. Im Sommer würden diese alle für Unsummen an unkultivierte Neureiche aus aller Herren Länder vermietet, die nächtelang gröhlten und den Hang mit lauter Musik beschallten, von wegen Idylle.
Mon homme
Man fragte sie, nochmals dankend dafür, dass sie sich Zeit für dieses Statement genommen hatte, wo sie denn am nächsten Abend auftreten müsse. „Mâcon“, lautete die Antwort. Die Landkarte Frankreichs im Kopf, staunte man nicht schlecht über die Entfernung von knapp 700 Kilometern. Wie sie denn dorthin reisen werde? „Mit dem Auto natürlich.“ Aber es fährt sie doch jemand? „Oui, mon homme“, sagte sie mit grosser Bestimmtheit. „Mon Homme“, ein Zitat, der Titel eines ihrer Lieblingschansons.
Die Rede war von Gerard Jouannest, Komponist und einst der legendäre Pianist von Jacques Brel, der einige Jahre nach dessen Tod mit Juliette Greco zu arbeiten begonnen hatte und seit 1988 mit ihr zusammenlebte. „Mon Homme“, der zwei Jahre vor seiner Gefährtin sterben sollte, hatte sich in die obere Etage zurückgezogen. Am nächsten Tag wird er nicht nur fahren, sondern Madame auch am Piano begleiten.
Kleine und grosse Bühnen
Man wunderte sich ein wenig, dass die Grande Dame diesen weiten und beschwerlichen Weg nach Mâcon auf sich nahm, um in einer etwas grösseren Kleinstadt vor wenigen hundert Menschen aufzutreten. Doch gerade das war immer ein Markenzeichen von Juliette Gréco. Sie war in Brasilien, in den USA, in Japan und fast überall in Europa in den grössten Sälen aufgetreten, hat 1967 in Berlin, begleitet von den dortigen Philharmonikern, vor 60’000 Menschen gesungen und doch ging sie immer und immer wieder auch in die kleinsten Städte Frankreichs, in solche, die viele nicht auf der Landkarte finden würden. Während ihrer monatelangen Abschiedstournee war sie im Herbst 2015 fast 89-jährig z. B. noch in dem südfranzösischen 3’500- Einwohner-Städtchen Dieulefit im Rahmen eines alljährlichen Gesangsfestivals aufgetreten.
Die politische Greco
Juliette Greco wollte – schliesslich war man der ORF-Korrespondent – von einem wissen, was denn da gerade in Österreich vor sich gehe, dort, wo 2002 die Haiderei schon seit zwei Jahren in vollem Gang war. Eine heikle Konversation. Schliesslich sass man jemandem gegenüber, deren Mutter und Schwester das Konzentrationslager Ravensbrück überlebt hatten, jemand der in der Zeit ihrer Liebe mit Miles Davis den Rassismus im Alltag erleben musste und sich ihr Leben lang für Menschenrechte engagiert hatte. Man erinnert sich nicht mehr genau, was man ihr damals zu erklären versucht und wie man argumentiert hat. Immer mit der Erfahrung im Hinterkopf, dass man als Korrespondent des ORF in Frankreich in diesen Jahren gerne als verlängerter Arm der extrem rechtslastigen österreichischen Regierung betrachtet wurde, was einem gewaltig auf die Nerven gehen konnte. Juliette Gréco, daran erinnert man sich, hat einen nicht so betrachtet. Man war ihr dankbar dafür.
Ihr letzter Film
Beim Plausch und Champagner fragte man sich immer wieder, warum diese Frau, diese Berühmtheit eigentlich eine ganze Stunde ihrer Zeit geopfert und einem dahergelaufenen Kamerateam nebst Boten die Tür ihres grandiosen Hauses geöffnet hatte, um einige Minuten über einen Film zu sprechen, von dem damals schon klar war, dass er kein grosses Aufsehen erregen würde. Letztlich mag so etwas wie Nostalgie im Spiel gewesen sein, denn dieser schon 1996 gedrehte Streifen, der eine schwere Geburt vor sich hatte und erst sechs Jahre später zur Uraufführung kam, sollte der letzte in einer langen Reihe bleiben, in dem Gréco vor einer Filmkamera gestanden war.
Abschied
Man hatte während der Plauderei keine Sekunde den Eindruck, dass sie einem signalisieren wollte: es reicht jetzt, ich hab meine Pflicht und Schuldigkeit getan, der Champagner ist fast ausgetrunken, seien sie so gut und gehen sie bitte.
Nach ziemlich exakt einer Stunde klingelte aber das hausinterne Telefon. Am anderen Ende ihr Mann, „Mon homme“. Alles sei bestens verlaufen, versicherte sie ihm. Es war das Zeichen zum Aufbruch.
Zum Abschied beim Blick zurück vom oberen Ende der Gartentreppe sieht man ein kleines Winken mit einer von diesen Händen, welche auf der Bühne über Jahrzehnte hinweg diese unnachahmlichen Gesten vollführt hatten, Hände und Arme, die alleine eine Geschichte erzählen konnten und bis zum Ende ein unverzichtbarer Bestandteil der Interpretation der von Juliette Gréco gesungenen Chansons bleiben sollten.