„A five minutes‘ stop“ tönt es aus dem Lautsprecher der Jungfraubahn, Koreaner und Koreanerinnen drängeln sich zum Aussichtsfenster im Stollen. Ein Stimmengewirr hallt durch den Tunnel, dazwischen kleine Schreie der Überraschung, denn wer hinausschaut, muss erst einmal die Augen schliessen, fast schmerzhaft geblendet vom grellen Licht der Eismassen.
Da draussen liegt unser Ziel: die Berglihütte, 3‘299 Meter hoch. Wie ein Adlernest klebt sie an einem steilen Felssporn mitten auf dem Eismeer-Gletscher. Vom Stollenloch aus kann man sie eher erahnen denn exakt lokalisieren. Wir sehen aber die Seracs und Eisabbrüche und fragen uns: Wird es möglich sein, bis zur Hütte mit den Skiern abzufahren?
Die Tour ist kein Spaziergang. Das hatte uns Heinz Inäbnit gesagt, der Hüttenwart: „Es hat teilweise tiefe Löcher, da siehst du dann wirklich ins Schwarze.“ Im Frühjahr sind die Spalten zwar normalerweise gut zugeschneit, dennoch haben wir – mein Copain Erich und ich – einen Bergführer aus Grindelwald engagiert, der die Abfahrt über den Gletscher gut kennt. April, Mai und Juni sind die besten Monate für die Skitour zu der einsamen Hütte. Denn von Ende Oktober bis Mitte Februar bekommt sie keinen Sonnenstrahl, die Tage sind zu kurz, und es hat noch zu wenig Schnee auf dem zerschrundenen Eismeer.
Schon 1869 entstand am Berglifelsen eine rudimentäre Unterkunft. Grindelwalder Bergführer bauten sie in den folgenden Jahrzehnten mehrfach aus und verschoben den Standort. Der gerade erst gegründete Schweizer Alpenclub beteiligte sich an den Kosten. Bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bot die Hütte eine Übernachtungsmöglichkeit für Alpinisten, die auf die Gipfel der Jungfrau-Region steigen wollten. Mit dem Bau der Zahnradbahn aufs Jungfraujoch ging die Ära der Berglihütte zu Ende. Sie war nun nicht mehr notwendige Etappe für den Aufstieg auf den Mönch, die Jungfrau oder die Fiescherhörner. Die abgelegene und schwierig erreichbare Hütte geriet in Vergessenheit und ist den meisten Alpinisten heutzutage wohl unbekannt.
Es wird still, und dann sind wir allein
Als wir am Jungfraujoch aussteigen, gilt es zunächst, dem touristischen Rambazamba zu entkommen. Die höchste Eisenbahnstation Europas zählt rund eine Million Besucher im Jahr. Viele können zum erstenmal in ihrem Leben Schnee anfassen und tun dies mit Entzückungsrufen und Selfies. Auf der präparierten Piste zur Mönchsjochhütte sind noch einige Touristen unterwegs. Danach wird es schnell stiller um uns herum.
Am oberen Mönchsjoch angelangt, sind wir schliesslich allein. Um zehn Uhr morgens brennt die Sonne schon heiss, als wir die Mulde des Ewigschneefeldes überqueren. Am unteren Mönchsjoch nehmen wir die Felle ab für die Abfahrt zur Hütte.
„Nicht von meiner Spur abweichen“, sagt Bergführer Andreas. „Es hat da ein paar Spalten unter dem Schnee.“ Die ersten Schwünge führen hinab über eine breite, nordseitige Schulter, die weiter unten in den Grat des Berglifelsens ausläuft. Der gesetzte Pulverschnee ist gut fahrbar, wir sind im Winter gelandet – und das Ende Mai. Zweieinhalbtausend Meter weiter unten sieht man grüne Wiesen im sommerlich heissen Grindelwald.
Dann wird der Hang steiler, und plötzlich können wir tief unter uns das schneebedeckte Dach der Hütte ausmachen. Da ist sie tatsächlich, klein und unscheinbar, keine Fata Morgana, sondern Realität. Der erste Gedanke: gerade hinunter fahren über die Kante und auf die Hütte zu halten. Keine gute Idee, sagt der Bergführer, denn man würde in steilen Eisabbrüchen landen.
Wir wenden uns statt dessen vom Sattel auf die westliche Seite des Berglifelsens und gelangen in Hänge, die zwar sehr steil, aber im pulvrigen Altschnee gut fahrbar sind. Nach einer letzten grossen Kurve erreichen wir die Felsen und stehen, völlig überrascht, plötzlich mit den Skiern auf dem Dach der Hütte.
„Wenn die Hänge vereist sind, kann man das nicht machen, es ist zu ausgesetzt,“ sagt der Bergführer. „Dann muss man über den Felssporn von oben herunterklettern zur Hütte.“
Die Berglihütte hängt über dem Abgrund. Um von hier mit den Skiern weiter abzufahren nach Grindelwald, muss Mann oder Frau an einem Pfosten des Geländers abseilen, und es braucht ein langes Seil. Der Gletscher da unten sinkt von Jahr zu Jahr weiter ab.
Wer die Hüttentür öffnet, blickt ins Jahr 1904. In diesem Jahr wurde die Hütte in ihrer jetzigen Form erstellt. Ein paar Betten, ein Ofen und an einem Pfosten die „Kasse für Hüttentaxe und Holz“. Ein Matratzenlager und die schriftlichen Anweisungen: „Rauchen verboten! Schuhe ausziehen! Lichterlöschen um 10 Uhr!“ Es ist eine Hütte für Selbstversorger. Wer Wasser braucht, muss Schnee schmelzen, wer heizen will, muss Feuer machen. Und das ist so seit über hundert Jahren.
„Es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit.“ Das hatte uns Hüttenwart Heinz Inäbnit unten im Tal gesagt. Der 54-jährige Grindelwalder arbeitet bei den Jungfraubahnen und hatte diesmal keine Zeit, uns zu begleiten. Mehrmals im Jahr macht er die Tour auf die Hütte, um nach dem Rechten zu sehen.
„Jedesmal wenn ich gehe, muss ich daran denken, unter welch extremen Bedingungen die Leute damals diese Leistung vollbracht haben.“ Die Balken und das gesamte Baumaterial wurden von Grindelwald aus soweit möglich mit Tragtieren transportiert, dann von den Leuten zu Fuss getragen und am Ende wohl mit Seilzügen den steilen Fels hinaufgeschafft.
Heinz Inäbnit betreut die Hütte seit 30 Jahren. Als wir ihn fragten, was ihn mit der Hütte verbinde, sagte er nach einigem Nachdenken, es sei die Ehrfurcht vor den Pionierleistungen der Vergangenheit: „Die Berglihütte ist ein Kulturgut, das wir von unseren Vorfahren übernommen haben.“
Einen Ausbau der Hütte auf moderne Standards findet er deshalb nicht sinnvoll. Die Berglihütte sei ein historisches Denkmal, es gehe nicht an, auf fliessendes Wasser und Duvets umzustellen.
„Es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit.“ Der Satz geht mir durch den Kopf, als wir für den Aufstieg zurück zum Mönchsjoch die Felle auf die Skier ziehen. Grosse Quellwolken haben sich gebildet, und wir sehen mit einem Mal nur noch weiss in einem Niemandsland. Es kommt uns vor wie ein Filmschnitt oder eine Überblendung, bevor wir später aus dem Nebel wieder auftauchen werden. In der Gegenwart.
Die Hütte gehört der SAC-Sektion Grindelwald. Als Heinz Inäbnit vor 30 Jahren die Hütte übernahm, gab es noch um die 200 Übernachtungen im Jahr, heute sind es noch 50 oder 60. Die Grindelwalder Bergführer haben die Hütte als geführte Tour im Angebot. Man hofft, mit mehr Besuchern das Budget der Hütte aufzubessern.