Die Azoren, gut zwei Flugstunden westlich von Lissabon gelegen, sind ein seismo-vulkanisches Risikogebiet. Seit ihrer Besiedlung im 15. Jahrhundert haben Vulkanausbrüche und Erdbeben immer wieder den Menschen auf diesen neun portugiesischen Inseln zu schaffen gemacht. Für Aufregung sorgt in diesen Tagen ein politisches Beben mit Epizentrum in dieser autonomen Region mit 243’000 Einwohnern. Seine Schockwellen sind landesweit zu spüren.
„Die Seele an den Teufel verkauft“
24 Jahre lang haben auf den Azoren die Sozialisten – die seit 2015 unter Ministerpräsident António Costa auch landesweit am Ruder sind – die Regierung geführt. Auf den Inseln behaupteten sie sich bei der Wahl des Regionalparlaments am 25. Oktober zwar als stärkste Partei, sie verloren aber die absolute Mehrheit der 57 Sitze. Nun hat der bürgerliche Partido Social Democrata (PSD) als landesweit stärkste Oppositionspartei eine regionale Koalition mit zwei kleinen Parteien geschmiedet, und zwar mit dem Partido Popular (CDS-PP) und der monarchistischen Volkspartei (PPM), um künftig regieren zu können.
Das wäre noch kein Grund zur Aufregung. Nur kommen die drei Partner zusammen nur auf 26 Sitze im Parlament. Umstritten ist die Art, wie sich die Koalition im Parlament den Rückhalt einer absoluten Mehrheit von 29 Abgeordneten sichern will. Hierfür bestehen Vereinbarungen mit der Liberalen Initiative (IL), die erstmals einen Sitz errang, und mit der rechtsextremen xenophoben Partei Chega (übersetzt „Es reicht“), die zwei Mandate erhielt. Ihre Einbeziehung erhitzt die Gemüter.
Auf dem Festland grassiert die Angst, dass auch landesweit der sanitäre Damm gegen Chega brechen könne. Der PSD habe seine Seele an den Teufel verkauft, urteilten die Sozialisten nach der Weichenstellung auf den Azoren. Selbst innerhalb des PSD scheiden sich auf nationaler Ebene die Geister. Parteichef Rui Rio hatte schon im Sommer eingeräumt, mit Chega zu reden, falls diese Partei sich mässige. Als einer seiner Stellvertreter meinte Nuno Morais Sarmento dieser Tage zwar, dass die Partei bei nationalen Wahlen nie irgendeine Plattform mit Chega bilden werde. Sie werde aber keine Stimmen für eigene Vorschläge verschmähen.
Ruf nach Sonderparteitag
„Was ist aus meiner Partei geworden?“, fragte am Montag derweil der frühere PSD-Umweltminister Jorge Moreira da Silva. Er sprach in einem Meinungsartikel von einem „sehr gravierenden“ Problem und forderte die Einberufung eines Sonderparteitages, um den Kurs für Koalitionen und Verständigungen abzustecken. „Man schliesst keine Vereinbarungen mit xenophoben, rassistischen, extremistischen und populistischen Parteien“, deren Vorschläge mit der Menschenwürde nicht vereinbar seien, stellte er fest. Auch er fand aber, dass auf den Inseln ein Wechsel fällig gewesen sei.
Schon einige Tage zuvor hatten sich 54 Personen aus dem politischen und kulturellen Leben, die sich als Anhänger einer „demokratischen Rechten“ bekannten, in einem offenen Brief vor einer Öffnung gegenüber Chega gewarnt. Unter ihnen waren bekannte Figuren des Partido Popular (CDS-PP), der am rechten Rand des demokratischen Spektrums angesiedelt ist und natürlich die Konkurrenz von weiter rechts befürchten muss.
Zwischen „müssen“ und „mögen“
Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa, der sich sonst fast täglich zu aktuellen Fragen äussert, schwieg mehrere Tage lang zur Entwicklung auf den Inseln, ehe er sich zu Wort meldete. Zwar obliegt die Ernennung der Regierung auf den Inseln nicht dem Präsidenten, sondern dem „Vertreter der Republik“ in der autonomen Region. Dieser aber wird vom Präsidenten ernannt, nach Anhörung der Zentralregierung. Und es ist kaum vorstellbar, dass es zwischen dem Präsidenten und dem Vertreter der Republik keinen Austausch gegeben hat.
Der als „Marcelo“ bekannte Präsident legte dar, dass es in dieser Sache zwischen „müssen“ und „mögen“ zu unterscheiden gelte. Mit „müssen“ meinte er die Tatsache, dass die auf den Inseln geschlossenen Abkommen die Verfassung respektierten. Aber weder der Vertreter der Republik noch er müssten diese Lösung „mögen“. Seine eigene Position gegen Anti-System-Parteien sei bekannt. Und es gelte, die Ursachen für deren Erstarken zu bekämpfen.
Die Polemik kommt auch für den Präsidenten in einem womöglich ungünstigen Moment. Voraussichtlich in der zweiten Januar-Hälfte – das genaue Datum steht noch nicht fest – müssen die Portugiesen ihr Staatsoberhaupt für die nächsten fünf Jahre wählen. Noch hat der äusserst populäre und knapp 72-jährige Marcelo, der ständig im Land auf Achse ist und gern mit einfachen Leuten für Selfies posiert, nicht verraten, ob er für eine zweite Amtszeit kandidiert. Sollte er – wie allgemein erwartet – wieder antreten, könnte er sich im Wahlkampf mit der Frage konfrontiert sehen, ob er eine nationale Regierung ernennen würde, wenn sie auf das Wohlwollen von Chega angewiesen wäre.
Ein sozialistisches Dilemma
Schon jetzt dürften so manche Sozialisten ins Grübeln gekommen sein. Vor Monaten hatte Ministerpräsident Costa schon eine klare Präferenz für die Wiederwahl des jetzigen Präsidenten erkennen lassen. Obwohl dieser aus einem anderen Lager kommt, hat er sich mit der Regierung meist sehr gut verstanden – sehr zum Verdruss der Parteien rechts der Sozialisten. Aus den Reihen dieser Partei kandidiert zwar die frühere EU-Parlamentarierin Ana Gomes, aber auf eigene Faust. Auch für die eigene Partei war sie oft unbequem. Weder Marcelo noch sie haben die offizielle Unterstützung der Partei, die ihren Mitgliedern an den Urnen die freie Wahl lässt. Manche Genossinnen und Genossen könnten Marcelo nun aber misstrauen.
An einem erneuten klaren Sieg von Marcelo, wahrscheinlich schon im ersten Wahlgang, dürfte kaum zu rütteln sein. Nur könnte dieser Sieg knapper ausfallen als bisher erwartet. Insbesondere die Marke von 70 Prozent der Stimmen, mit der sich der Sozialist Mário Soares (1924–2017) im Jahr 1991 im ersten Wahlgang die Bestätigung im Amt für weitere fünf Jahre gesichert hatte, könnte in die Ferne gerückt sein.
Vor dem Interview das Bücherregal gesäubert
Chega-Führer André Ventura, der im Januar selbst für das höchste Amt im Staat kandidieren will, gibt sich derweil zahm. Am Wochenende bestritt er, dass seine Partei „rechtsextrem, faschistisch, xenophob oder rassistisch“ sei. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Lusa im Hauptquartier seiner Partei verneinte er gar jedwede Sympathie mit dem faschistoiden früheren Diktator Salazar. Just diesen Ministerpräsidenten der Jahre 1932–68 machte er für einen starken Rückstand des Landes verantwortlich. Vor dem auf Video aufgezeichneten Interview, so berichtete die Agentur, nahm eine Mitarbeiterin von Ventura einige Bücher über Salazar aus dem Regal hinter dem Chega-Chef. Sie sollten wohl nicht im Bild erscheinen.
Manche Polit-Analytiker hatten Salazar noch bis vor zwei oder drei Jahren wenigstens eines „zugute gehalten“: Seine lange Diktatur, glaubten sie, habe Portugal gegen den Rechtspopulismus geimpft. Um diese These ist es inzwischen still geworden.