Der Widerstand gegen die «Herrschaft der Rechtsgelehrten» bildet sich auf den Strassen Irans ab. Doch auch ehemals streng Gläubige oder dem Regime eng verbundene Rechtsgelehrte üben deutliche Kritik. Diese Kritik ist qualifiziert und spitzzüngig, wie man auf dem YouTube-Kanal der «Republik der Gottlosen» hören kann. Dort spricht ein ehemaliger Geistlicher und Vertrauter von Ayatollah Khamenei mit dem Gründer der «Gottlosen» über den Zerfall der Islamischen Republik und den Konflikt zwischen Iran und Israel.
Man muss es anhören: ein langes Gespräch, spannend, lehrreich und aufklärend. Ein Gelehrter aus Qom, der Hauptstadt der schiitischen Gelehrsamkeit, ist zu Gast beim Gründer der «Republik der Gottlosen». Gemeinsam liefern sie eine kompakte Diagnose der iranischen Zustände, demonstrieren eine vorbildliche Dialogkultur und bieten eine politische Vorlesung. Man hört viel über Khameneis Hof – das eigentliche Machtzentrum des Iran –, über einen möglichen Krieg mit Israel und nebenbei auch darüber, dass in der «heiligen» Stadt Qom ein Zirkel von Atheisten sehr aktiv ist.
Glaube und Suizid
Diese «Republik der Gottlosen» gibt es tatsächlich. Sie ist eine Ausgeburt der islamischen Republik, zu der sich Hunderttausende bekennen und innerhalb derer sie eine beispiellose Dialogkultur vorführen. Dabei suchen sie sich ihre Gesprächspartner gezielt aus den Reihen ihrer Gegner, Gelehrte der schiitischen Seminare inklusive.
Ob diese Ausgeburt mehr als ein Hoffnungszeichen der Bedrängten ist, darüber lässt sich lang und bereit disputieren. Die Biographie des Gründers der «Republik der Gottlosen» liest sich wie eine spannende Filmvorlage, ein Drama über Persönliches, Pädagogisches und Religiös-Politisches.
Armin ist ein Gymnasiast, ein vierzehnjährige Teenager erst, als er darüber nachzudenken beginnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Denn wenn er bald 15 Jahre alt und nach islamischem Recht damit volljährig wird, darf er keine Sünden mehr begehen, sich etwa nicht umbringen, weil Selbstmord eine unverzeihliche Sünde ist: Allein Gott ist es, der das Leben gibt und nimmt. Ein Selbstmörder ist nichts anderes als ein Pfuscher, der sich des göttlichen Handwerks bemächtigt, hatte Armin gelernt, geglaubt und tief verinnerlicht. Der aufrichtige Junge ist sich gleichzeitig bewusst, dass er in der korrupten Erwachsenenwelt nicht sündenfrei bleiben wird. Also muss er sich beeilen, wenn er der ewigen Hölle entkommen will. Minderjährige werden nicht bestraft, sie kommen automatisch ins Paradies, hatten Armins Mentoren ihn gelehrt. Diese Überlegung überwältigt Armin so sehr, dass er sich nur noch mit Selbstmordplänen quält. Schliesslich wirft er sich aus dem Fenster seiner Klasse, zieht sich dabei schwere Verletzungen zu und kann sich lange Zeit nur noch im Rollstuhl bewegen.
«Ich war ein logisch denkender Schüler, was ich tat, war das Resultat einer tödlichen Mischung aus Glaube und Logik», sagt Armin heute, fast 25 Jahre nach seinem Selbstmordversuch. Seine Eltern, liberale Akademiker, bemerkten den Marsch des Sohnes in die mörderische Tiefgläubigkeit spät, zu spät.
Wundersame Wendungen
All das hört sich zunächst wie ein tragischer Fall an, der überall vorkommen kann. Armins Geschichte unterscheidet sich ja nicht sehr von denen der Abertausenden jungen Menschen, die weltweit und unbemerkt in religiöses Verderben geraten und schliesslich ihr Leben ihrem Glauben opfern. Ob sie Selbstmörder oder Selbstmordattentäter werden, ist eine andere Frage. Doch die Übereinstimmung reicht nur bis hierher. Denn das Leben kennt auch viele wundersamen Wendungen.
Kurzgefasst: Armin überlebt, macht Abitur, wird Student der Mikrobiologie – und schliesslich ein engagierter Atheist. Er emigriert nach Kanada und ruft die «Republik der Gottlosen» ins Leben. Sehr schnell melden sich Tausende Gleichgesinnte und Aktivisten aus der ganzen Welt bei ihm, vorwiegend aus vielen islamischen Ländern, von Malaysia über Indonesien und Syrien bis Saudi-Arabien. Hauptsächlich aber aus dem Iran. Die Facebook-Seite seiner «Republik» zählt Hunderttausende Follower.
Glaube, Selbstmord, Säkularität. Diese drei Begriffe markieren die Etappen seiner dramatischen Lebensgeschichte. Ob Armins «Republik» Bestand haben und im politischen Leben der Iraner künftig auch eine Rolle spielen wird, das wird die Zukunft zeigen. Heute ist seine Plattform eine Bühne für Aufklärung, Entzauberung und Dialogkultur – etwas Sonderbares und Besonderes in einem Land mit einer beispiellosen Gewaltherrschaft.
Der Aufstrebende
Armins letzter berühmter Gesprächspartner war ein landesweit beachteter Gelehrter aus der iranischen Stadt Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit. Der 61-jährige Mehdi Nassiri hat den Rang eines Mojtaheds – eines «Besitzers der Urteilskraft» – trägt aber keinen Turban mehr. Die Gründe seiner Selbstentkleidung füllen Seiten von theologischen, philosophischen und politischen Schriften. Nassiris Biografie könnte man auch als eine Geschichte von Khameneis Aufstieg, Gipfelbesteigung und beginnendem Abstiegs lesen.
Als die islamische Revolution im Iran 1979 siegte, war Nassiri gerade 15 Jahr alt, aber bereits ein erfolgreicher Seminarist. In Qom, wo Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini seine Revolution startete und wo das Herz des schiitischen Klerus schlägt, wird er zu einem anerkannten Lehrmeister der schiitischen Seminare. Nebenbei schreibt er auch Beiträge für die grossen Zeitungen des Landes. Wir sind in den turbulenten Anfangsjahren einer Revolution, die die Welt verändern wollte.
Sehr schnell wird Khomeinis Nachfolger als mächtigster Mann des Landes, Ali Khamenei, auf diesen Gelehrten mit besonderer Schreibkunst aufmerksam, er macht Nassiri zum Chefredakteur der einflussreichen Teheraner Tageszeitung «Keyhan», Khameneis Lieblingspostille.
In den sieben Jahren, in denen Nassiri diese politisch sehr wichtige Tageszeitung leitet, gehört er zu den ständigen Gästen in Khameneis Haus, dem eigentlichen Zentrum der Teheraner Macht. Nach und nach verschaffen sich andere Revolutionäre Zugang zur Redaktion, zunehmend wird die Atmosphäre dort unerträglich, er verlässt schliesslich Keyhan, versucht sich zwei Jahre lang mit einem eigenem Magazin und kehrt schliesslich zu seinem Seminar nach Qom zurück. Später beruft ihn Khamenei in ein Komitee, das die Freitagsprediger samt ihren wöchentlichen Predigten bestimmt. Das ist eine Schlüsselposition im gesamten Machtgebäude des Iran: Denn die Freitagsprediger müssen allwöchentlich Khameneis Politik dem Volk näherbringen. Sie sind in ihren Städten die eigentlichen Machthaber.
Zwei Jahre später wird Nassiri Khameneis persönlicher Vertreter in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vier Jahre lang bleibt er auf diesem Posten. Die Emirate sind Irans wichtigste Handelspartner, Dubai ist das Haupttor zum Weltmarkt. Seit ihrem Bestehen steht die Islamische Republik unter diversen internationalen Sanktionen. In diesen vier Dekaden entwickeln sich die Emirate zu einer wichtigen Drehscheibe für dunkle Geschäfte Irans mit dem Rest der Welt. Hier finden die Teheraner Machthaber alles, was sie brauchen: internationale Banken, genug Winkeladvokaten und einen grossen Hafen in Sichtweite, nur einige Kilometer von der iranischen Küste entfernt.
Vom Saulus zum Paulus
Beginnt hier, in diesem aufstrebenden Golfstaat, auch Nassiris Absetzbewegung von seinem Förderer Khamenei, der Islamischen Republik und dem politischen Islam überhaupt? Er hatte immer eine sensible Antenne für Korruption, dazu habe er vertrauliche Briefe an Khamenei geschrieben und ihn ermahnt, dass sich Käuflichkeit und staatlicher Zerfall gegenseitig bedingten. Vergebens: Die Islamische Republik befinde sich heute deshalb in einem rapiden Zerfallsprozess, weil sie strukturell und hoffnungslos korrupt sei, sagt Nassiri in seinem Live-Auftritt im Kanal der Gottlosen.
Nassiri ist ein genauer Beobachter. In dem Gespräch redet er darüber, wie Glaubensgrundsätze bei der Mehrheit der Bevölkerung längst und gänzlich ins Wanken geraten seien, zählt erstaunliche Korruptionsbeispiele in den schiitischen Seminaren auf, berichtet über doppelgesichtige Ayatollahs und beschreibt die Akribie des Geheimdienstes bei der Kontrolle der Lehrstuben der Mullahs.
Der Theologe ist längst zu einem prominenten, gut informierten und zugleich radikalen Gegner der Islamischen Republik mutiert; er ist ein geachteter Gelehrter über viele Oppositionsgrenzen hinweg.
Noch kann er reden
Die Medien der Machthaber verschwiegen seine Existenz lange, obwohl er täglich viele «rote Linien» überschreitet. Auch die noch geduldeten Restreformer schweigen. Ein halbwegs ernster Disput mit ihm ist gefährlich, noch ist er nicht verhaftet, aber die Drohungen nehmen zu.
Trotzdem nimmt sich Nassiri regelmässig Khamenei persönlich vor. Sein Liveauftritt im YouTube-Kanal der «Gottlosen» ist ein Ereignis, ein Medienerfolg für Armin, den «Republikgründer». Zehntausende hören dem Gespräch live zu, einige stellen interessante Fragen, Nassiri antwortet redegewandt, ruhig und reuevoll.
Wie schmerzvoll er die Reue empfindet, was er für die Festigung des «korrupten Systems» geleistet hat, beschreibt er tags darauf selbst in seinem Blog: «Wenn ich könnte, würde ich mir eine scharfe Schere beschaffen und alle Teile meines Körpers Stück für Stück herausschneiden, die verantwortlich sind für meine Radikalität, Verbohrtheit und die verbale Gewalt meiner jungen Jahre.» Als Ali Khamenei ihn zum Chefradakteur von Keyhan machte, war Nassiri gerade 25 Jahre alt. Heute ist er längst jenseits der Linie, die Radikalität tolerierbar macht.
Die Islamische Republik sei weder fähig noch willens zu Reformen, sagt und belegt der Reuige täglich in seinem Telegram-Kanal. Als Khamenei am vergangenen Dienstag in seiner Predigt zum Fest am Ende des Ramadan sagte, Israel werde bestraft werden, zeigt das Staatsfernsehen den bedeutungsvoll lächelnden Kommandanten der Raketeneinheit, Ismail Hajizadeh.
Als 2018 Donald Trump Qasem Soleimani, Khameneis wichtigsten Kommandanten, ermorden liess, leitete dieser Hajizadeh das Rachekommando. Der Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine mit 176 Passagieren war das Einzige und Schrecklichste, was die Welt von dieser Rache an Amerika hörte.
Nur wenige Stunden nach Khameneis Strafandrohung gegen Israel kommt Nassiris Kommentar auf dessen Telegram-Kanal. Er lautet: «Alles dient der Macht.» Im Haus Khamenei unter den mächtigen Kommandanten spreche man von «strategischer Geduld». Gleichzeitig, praktisch im Nebenzimmer, «planen Paladine die nächste Demonstration gegen Israel auf dem Teheraner Palästina-Platz».
Nassiri kann treffend und bildhaft beschreiben:
«Das Dilemma des ‚Rechtsgelehrten‘ ist, wie er ein symbolisch attraktives, aber weiches israelisches Ziel findet, ohne dass ein Scheinangriff darauf Überreaktionen auslöst.»
«Ein herrschender Rechtsgelehrter würde sogar den verborgenen zwölften Imam, in dessen Namen er regiert, töten, um seine Ordnung zu retten.»
Und er wagt auch eine schreckliche Prognose: In drei bis vier Jahren beginne im Iran der irreversible Zerfall, es entstehe eine Art Grosssomalia. Doch es müsse nicht unbedingt so kommen. Iran besitze kluge Köpfe. Alle müssten aufwachen, «von Tajzadeh bis Shahzadeh».
Dieses Spiel mit den sich reimenden Namen steht für das äusserste Widerstandsspektrum gegen die «Herrschaft der Rechtsgelehrten». Tajzadeh war ein wichtiger Funktionär, zuletzt Vize-Innenminister, sitzt heute im Evin-Gefängnis und ist Sprachrohr jener Reformer, die Khamenei überwinden wollen. Beim zweiten handelt es sich um den Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal