Ponticello- Brückele , 1515 Meter über Meereshöhe. So steht es auf der gelben K. und K.-Fassade über dem Holzbalkon im 1. Stock des letzten Gasthauses weit hinten im Pragser Tal, welches vom Pustertal gen Süden in Richtung der Drei Zinnen und der Sextner Dolomiten führt.
Am Ende der Welt
Weder ein Handynetz noch das WLAN haben es bis hierher geschafft und auch das Österreichische Fernsehen ist nicht zu empfangen. Nur das Ö-3 Hitradio überwindet die Bergketten und läuft in der Gaststube des „Albergo Ponticello /Gasthof Brückele“ den ganzen Tag dezent im Hintergrund – 30 Kilometer Luftlinie hinter der Grenze auf italienischer Seite in Südtirol.
Über dem Ort liegt ein Hauch vom Ende der Welt. Für die Strasse, die von hier noch hinauf auf die Plätzwiese auf über 2000 Meter hinauf führt, gelten Sonderregelungen.
Ein gewisser Ole Einar Björndalen bretterte hier vor Jahren mehrmals die Woche mit dem Vierrad getriebenen Gefährt vorbei, um oben im Langlauf-Eldorado zu trainieren - aus dem österreichischen Osttirol kommend, wo der Norweger, der erfolgreichste Biathlet der letzten Jahrzehnte, eingeheiratet hatte.
Bescheidenheit und Menschlichkeit
Die Wirtsleute im Gasthof haben ein Herz, das so immens ist, wie die Bergwelt um sie herum. Bei ihnen mischen sich italienische und deutsche Touristen und kommen bestens miteinander aus, man empfängt im Sommer eher unbetuchte Radtouristen genauso wie im Winter die mit Pelzen behängten Damen aus den norditalienischen Metropolen. Und an der Theke stehen fast den ganzen Tag über stets auch noch eine Handvoll Einheimische, die sich in diesen vier Wänden durch den Fremdenverkehrsbetrieb nicht ausgeschlossen und fremd fühlen müssen – Strassenräumer, Skilehrer, Waldarbeiter halten hier kurz für einen Café, ein Bier oder einen Schnaps und sprechen nicht nur über das Wetter.
Corriere della Sera, Alto Adige, Dolomiten, Bildzeitung und TZ, die neue Tiroler Tageszeitung, liegen bunt gemischt neben der Theke. Bruno, der prächtige Lawinenhund, liegt im Gang und wacht mit einem Auge über die Wirtin. Wer sie umarmt oder gar auf die Wange küsst, bekommt Ärger.
Es ist ein Gasthof mit einer echten Seele, in dem Bescheidenheit und Menschlichkeit gross geschrieben sind. Der Wirt ist ein Spitzenkoch, doch kaum jemand weiss das. Er hat schon in fast allen europäischen Hauptstädten bei grossen Anlässen gearbeitet und könnte es mit so manchem Sternekoch aufnehmen. Doch es ist, als verstecke er sich ganz gerne hier oben auf 1515 Metern am Ende eines kleinen Tals und gäbe sich mit der seit Jahren zelebrierten Redlichkeit seiner Küche zufrieden.
Steaks aus der Hirschkeule, in Butter gewendeter Wirsing und Semmelknödelscheiben folgten an diesem Tag auf winzige Polenta- Gnocchi mit Rehragout als Vorspeise – das geschossene Wild aus der Region war am Jahresende noch vorrätig.
Ein Essen für draussen
An der Theke erscheint während des Mittagstrubels eine Frau, Mitte dreissig. Der rote Anorak ist ein wenig strapaziert. Das Haar nach einer wohl längeren Wanderung im frisch gefallenen Schnee gründlich verschwitzt.
Sie bestellt offensichtlich Essen für draussen. Dort stehen auf der Sonnenseite vier Holztische und Bänke. In der Winterzeit ist es hauptsächlich der Ort der Raucher, mancher nimmt dort einen Café und ein Stück Kuchen .
Die Frau ist Deutsche, mit einer angenehmen, freundlichen Stimme, wirkt spontan, aufgeschlossen und unkompliziert. Die menschliche Wärme und die Atmosphäre im Gasthof scheinen auch ihr zu gefallen. Und doch bestellt sie das Essen nach draussen, in die Kälte.
Zwanzig Minuten später, bei der eigenen Zigarettenpause, sieht man die Frau im roten Anorak eingepackt, einen hellblauen Schal fest um den Hals gewickelt, an einem der Holztische auf der rechten Seite vor dem Ausgang sitzen. Sie scheint aufgeräumt und guter Dinge, fasziniert von dem einmaligen Panorama und der menschlichen Wärme, die in diesem Gasthof herrscht.
Neben ihr sitzt ein Mann. Nicht weiter auffällig, wohl ein paar Jahre jünger als die Frau im roten Anorak. Eine Pelzmütze verdeckt die Hälfte seines Gesichts, dessen Züge auf eine Herkunft aus dem Maghreb oder dem Nahen Osten hindeuten. Beide sprechen miteinander Englisch, er mit leicht französischem Akzent.
Das Streitobjekt
Die Wirtin bringt das Essen. Einen Salat für die Frau, das Gericht mit der Hirschkeule für den Mann – drei kostbare, perfekt rosa gegarte kleine Steaks.
Ganz plötzlich wird das Englisch geführte Gespräch deutlich lauter, ja heftig und ausgesprochen kurz angebunden. „Just take it away, it's nothing“ sagt die Frau , schon mit leicht bebender Stimme.
Er protestiert ausgesprochen unwirsch. Sie versucht es noch einmal, jetzt zittert die Stimme schon hörbar, als sie fast verzweifelt ausruft: „It's just decoration“.
Als Antwort bellt es ungehalten unter der Pelzmütze hervor: „I won't eat that“. Und das klingt mindestens so definitiv wie das Amen in der Kirche. Noch während er die Worte ausspuckt, nimmt der Mann den liebevoll angerichteten Teller und knallt ihn mit ausgestrecktem Arm einen guten halben Meter von sich entfernt auf den langen Holztisch.
Man reibt sich die Augen, doch es ist wahr: hier findet gerade Kulturkampf statt auf 1515 Metern Meereshöhe, am hintersten Ende eines kleinen Südtiroler Seitentals.
Die Frau im roten Anorak hatte für ihren nicht Deutsch sprechenden Gefährten Bratkartoffeln als Beilage zum Hirsch bestellt. Der Wirt hatte eine feine, gegrillte Scheibe vom Tiroler Speck auf diese Bratkartoffeln gelegt. In einem letzten Versuch hatte die Frau im roten Anorak diese Speckscheibe von den Bratkartoffeln genommen und auf den Tellerrand gelegt. Genutzt hat es nichts.
Eingeholt
Die eigene Zigarette war geraucht und man verliess das Schlachtfeld an den Holztischen im Freien. Der Blick, den man im Vorbeigehen aus den Augen unter der Pelzmütze erntete, war empört, stechend, beleidigt und streitlustig. Jetzt nur keinen längeren Blick zurückschicken oder gar eine Bemerkung fallen lassen!
Noch zwei Stunden später sollte das Hirschgericht exakt so auf dem Holztisch im Freien stehen, wie man es zuletzt gesehen hatte – unberührt. Der Salatteller der Frau im dunkelroten Anorak war aufgegessen. Die Steaks von der Hirschkeule mit den Beilagen hätten, so wie sie waren , nach einem Schnelldurchgang in der Mikrowelle, problemlos noch einmal serviert werden können - nur dass die feine, gegrillte Speckscheibe jetzt eben auf dem Tellerrand lag.
Mit ziemlicher Sicherheit hatte am Ende die Frau das unberührte Gericht bezahlt und fast ebenso sicher war der strahlende Wintertag für das Paar im Eimer.
Paris, 18. Arrondissement, Barbes – Rochechouart, Salafisten mit unten zugebundenen Hosen und strengem Blick, Frauen, die auf der Strasse zwei Schritte hinter ihren Männern gehen, der nicht enden wollende Streit um das richtige Essen in den Schulkantinen, um reines und unreines Fleisch, der Hick-Hack um Halal-Geschlachtetes, die Strenge, ja die Agressivität, mit denen diese Auseinandersetzungen geführt werden – von all dem war man im Handumdrehen eingeholt - wegen einer feinen Scheibe Tiroler Speck, dort oben in Ponticello/ Brückele, einem Ort der Harmonie par excellence.