Haben Sie Ihre Patientenverfügung schon geschrieben?
Seit einigen Jahren werden von verschiedenen Seiten vermehrt Nutzenüberlegungen in die Diskussion um das Lebensende eingebracht. Die Vernachlässigung des Transzendenten bei der Diskussion der Grundfragen des Lebens – Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was darf ich hoffen? – wird angesichts der Covid-19-Pandemie offensichtlich.
Mich stört die Richtung, die diese Diskussion in der Schweiz einschlägt, schon länger und angesichts aktueller Ereignisse immer mehr. Ich möchte hier deshalb einen Kontrapunkt setzen.
Sterbehilfe aufgrund von Nutzenüberlegungen
Seit einigen Jahren betrachte ich die Diskussion um die Sterbehilfe mit grossen Bedenken. Die Freitodbegleitung zieht immer grössere Kreise. Mittlerweile wird auch die Unterstützung von Bilanzsuiziden vermehrt als legitim angesehen – in zum Teil scharfem Kontrast zum Ausland.
Wer an einen Schöpferwillen glaubt und wer zumindest die Fragen um das Lebensende nicht nur unter Nutzenüberlegungen beantwortet, hat grösste Mühe mit dieser Entwicklung. Solange es sich tatsächlich um freie Entscheidungen handelt, sind diese unter einem liberalen Gesichtspunkt zu akzeptieren – auch wenn man persönlich nicht damit übereinstimmt. Aber ich habe mich schon länger gefragt, ob das nicht dazu führt, dass bewusst oder unbewusst, gesellschaftlich oder politisch Druck in diese Richtung ausgeübt wird.
Ich fürchte, dass genau das während der Covid-19-Pandemie passiert ist. Und ist die Büchse der Pandora einmal geöffnet, dann ist es äusserst schwierig, sie wieder zu schliessen.
Triage in der Medizin angesichts Corona
Eine Triage-Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) sieht vor, dass über 85-jährige Covid-19-Patientinnen und -Patienten nicht mehr auf der Intensivstation behandelt würden. Rentner- und Menschenrechtsorganisationen haben dagegen protestiert. Im Elsass sah eine ähnliche Richtlinie eine noch tiefere Altersgrenze vor. Hier waren es deutsche Ärztegesellschaften, die dagegen protestierten. Was ist schlecht an solchen Richtlinien und wo ist der Zusammenhang mit dem oben Genannten?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Triagen finden im Gesundheitswesen täglich statt. Wo es darum geht, das Optimum zu machen und nicht das Maximum, wo es darum geht, knappe Ressourcen sinnvoll zuzuteilen, wird triagiert. Es ist aber ein riesiger Unterschied, ob das aufgrund von ärztlichen Überlegungen und individuellen Wünschen auf den Einzelfall bezogen geschieht, oder ob das aufgrund von objektiven Kriterien und von Nutzenüberlegungen von oben herab verordnet wird.
Die obigen Richtlinien gingen erst noch von falschen Annahmen aus. Während der Covid-19-Pandemie wurde tatsächlich die Meinung verbreitet, dass Menschen, die aufgrund einer Coronavirus-Infektion stürben, meist sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt hätten, sei es aufgrund des fortgeschrittenen Alters oder diverser schwerer Vorerkrankungen. Untersucht wurde dies zwar erst mal nicht, aber trotzdem wurden Richtlinien aufgrund dieser Annahme erlassen.
Dass die Annahme sich dann als falsch erwies, kann hier nachgelesen werden. Die Universität Glasgow hat gemeinsam mit den schottischen Gesundheitsbehörden diese weitverbreitete Annahme überprüft – und kommt zu ganz anderen Zahlen: Demnach verlieren Männer im Schnitt 13 Jahre Lebenszeit, bei Frauen sind es elf Jahre, wenn sie an Covid-19 sterben.
Dabei betrachteten die Wissenschafter auch die Auswirkungen von Vorerkrankungen. Selbst alte Menschen oder Vorerkrankte hätten somit ohne Covid-19-Erkrankung häufig noch mehrere Jahre zu leben gehabt. Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich mir bewusst werde, dass Triage-Richtlinien aufgrund von Annahmen erlassen werden, die nicht einmal in Ansätzen verifiziert wurden!
Christliche Nächstenliebe versus Triage-Richtlinien
Hans Ruh schreibt hier in einem ausgeglichenen Essay, dass man aus christlicher Sicht in fortgeschrittenem Alter durchaus auf eine in knapper Zahl verfügbare Behandlung verzichten kann, wenn diese einem jüngeren Menschen eventuell einen höheren Nutzen bringt. Beruht das auf einem freien Entscheid, ist es zu begrüssen und zeugt von christlicher Nächstenliebe – das leuchtende Beispiel eines Paters in Italien sei hier stellvertretend erwähnt.
Wird aber Druck ausgeübt und werden solche Entscheide von oben herab und unter Vernachlässigung des Einzelfalls getroffen, dann zeigt das ein Überhandnehmen von Nutzenüberlegungen und eine Vernachlässigung anderer Fragen am Lebensende. Für mich geht das nicht. In meiner Lebenswelt gibt es einen Schöpferwillen und transzendente Überlegungen, die nicht einfach durch eine Richtlinie von oben herab weggewischt werden können.
Was wünsche ich mir? Als Patient bin ich es gewöhnt, mit meiner Ärztin und im Familienkreis Entscheidungen, die meine Gesundheit betreffen, unter Einbezug aller Faktoren selber zu fällen.
Trügerische «freie» Entscheidung
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass die freie Entscheidung in diesem Bereich nicht, wie offiziell beabsichtigt, gefördert, sondern im Gegenteil tendenziell gefährdet ist.
Auf dem Gipfel der Pandemie veröffentlichte die Webseite des «Tages-Anzeigers» einen Beitrag, der sich mit Patientenverfügungen und Notfallanordnungen beschäftigte. Er enthielt zwölf Fragen, die bedenken solle, wer eine Anordnung ausfüllen will.
Es waren Fragen, die Empörung und Spott provozierten, etwa bei der Schriftstellerin Sibylle Berg, der Regisseurin Katja Früh oder dem Psychoanalytiker Peter Schneider. Es seien gefühlskalte «Sterbehilfetipps», die da vermittelt würden und es sei zynisch, alten Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen aufzudrängen.
In seiner Replik schrieb der «Tages-Anzeiger», man könne dem Menschen eine Auseinandersetzung mit diesem Thema durchaus zumuten. Diese Argumentation geht aber knapp am entscheidenden Punkt vorbei. Zwar kann man Erwachsenen das zumuten. Es ist aber etwas anderes, sie zu drängen, eine Patientenverfügung zu erlassen mit dem Argument, diese würde den persönlichen Willen widerspiegeln und die Ärzteschaft im Notfall entlasten.
Wird von mir verlangt, eine Patientenverfügung zu erlassen, muss ich einen Entscheid von grosser Tragweite fällen aufgrund von abstrakten Überlegungen, die den konkreten Fall ausser Acht lassen. Deshalb tue ich das nicht. Wenn man mich konkret in diesem Zusammenhang dies und das fragt, dann ist die ehrliche Antwort: «Ich weiss es nicht.» oder: «Es kommt darauf an.»
Ist es wirklich zu viel verlangt, dass ein medizinischer Entscheid aufgrund des Einzelfalls getroffen wird – zusammen mit dem Patienten, allenfalls den Angehörigen, die in der Regel wissen, welche Präferenzen der Patient hat? Ist das wirklich zu viel verlangt vom zweitteuersten Gesundheitssystem der Welt? Ich denke nicht. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Nein, ich habe meine Patientenverfügung nicht geschrieben. Und aus den genannten Gründen werde ich das auch nicht tun.
Wenn wir weiterfahren in der oben beschriebenen Richtung, dann werden weitere Richtlinien denkbar, die beim Entscheid über medizinische Dienstleistungen Nutzenüberlegungen in den Vordergrund stellen, alles andere vernachlässigen und den Einzelfall ausser Acht lassen.
Materialistische Weltsicht versus Empathie
Christian Campiche berichtet in einem mit heisser Nadel gestrickten Text, dass die Hälfte der im Kanton Waadt an Covid-19 Verstorbenen in Altersheimen lebte, während in den Spitälern Betten frei waren. In anderen Kantonen dürfte es nicht viel anders sein.
«Der Bund» berichtet, dass viele Altersheimbewohner eine Verlegung auf die Intensivstation gar nicht wünschen. Ist dies das Resultat einer freien, abgewogenen Entscheidung, so muss das respektiert werden. Ist es aber das Resultat des oben beschriebenen Zeitgeistes und von Top-down-Richtlinien, dann pflichte ich Christian Campiches Empörung bei.
Wir müssen uns vermehr überlegen, welchen unbeabsichtigten Effekt es hat, wenn wir in Diskussionen über Dinge wie Sterbehilfe und Patientenverfügungen Nutzenüberlegungen in den Vordergrund stellen und die Grundfragen des Lebens nicht in allen Facetten würdigen.
Je nachdem, wie wir über das Sterben reden, denken wir über das Leben und dessen Sinn. Wer glaubt, dass nach dem Tod nichts kommt, ist wohl empfänglicher für Nutzenüberlegungen im Zusammenhang mit dem Sterben und tendiert eher dazu, alles andere auszublenden. Als Gesellschaft müssen wir aber dafür sorgen, dass diese materialistische Weltsicht nicht überhandnimmt. Sonst sind wir sehr schnell bei einem «empathiebefreiten» Sozialdarwinismus à la Prof. Reiner Eichenberger (Michael Hermann im «Tages-Anzeiger»).
Empathie ist aber der soziale Kitt der Gesellschaft und hält diese zusammen. Einige jüngere Leute mögen vielleicht denken: «Corona betrifft mich nicht, sondern nur Alte und Kranke. Ich will leben wie bisher und Spass haben.» Wenn sie sich deswegen weigern, Abstandsregeln einzuhalten, wenn wir mehr besorgt sind über die wirtschaftlichen Konsequenzen als über Menschenleben: könnte es dann nicht sein, dass sich soziale Gruppen gegeneinander wenden?
Unsere Grosseltern und Eltern haben ihr Bekenntnis zum Generationenvertrag nicht gebrochen. Sie haben Kinder erzogen, Steuern und Krankenkassenbeiträge bezahlt. Wir dürfen jetzt unsererseits die Zusage zu dieser Solidarität nicht brechen und ihnen die Unterstützung entziehen. Sonst ist das auch für uns ein sehr schlechtes Omen. Wenn «Das Magazin» vorschlägt, man könne an wegen des Coronavirus langweiligen Tagen zu Hause sein Testament schreiben, was können dann Altersheimbewohner erwarten, die ohne Besuch allein sterben? Junge bleiben cool, Alte bleiben eingeschlossen?
Nein, jede diesbezügliche Grenzziehung und jede Triagierung im Spital oder im Altersheim aufgrund von vermeintlich objektiven Kriterien ist willkürlich. Einzig wenn wir den Virus gemeinsam bekämpfen und uns gemeinsam an gewisse Regeln halten wie Hygiene und Abstandhalten und allen die optimale Pflege gewähren, können wir gleichzeitig den Virus beseitigen und unsere menschliche Gesellschaft erhalten.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben wir den Tod verdrängt. Jetzt, da sich in Italien die Leichensäcke stapeln und in den USA wieder Massengräber ausgehoben werden, können wir diese Gedanken nicht mehr verdrängen. Unsere Gesellschaft steht auf dem Prüfstand. An unserer Reaktion auf den Coronavirus zeigt sich, in welchem Mass wir zivilisiert sind.