In Portugal hat die Minderheitsregierung von Sozialistenchef António Costa derzeit keinen leichten Stand. Seit einigen Tagen hat die Zahl der neuen täglichen Covid-19-Diagnosen meist bei über 2000 gelegen (bei gut 10 Millionen Einwohnern). Als wichtige Handhabe im Kampf gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie preist die Regierung derzeit ihr Staatsbudget für 2021. Seit letzter Woche liegt der Entwurf vor, eine parlamentarische Mehrheit ist aber noch längst nicht sicher.
Eine umstrittene neue App
Während das Polit-Gerangel weitergeht – teilweise offen, teils hinter den Kulissen – hat die Regierung ein ganz neues Reizthema lanciert und einen riesigen Wirbel in den Medien ausgelöst. Neben etwas Sympathie erntete sie vor allem Unverständnis. Im Kampf gegen die Pandemie plant sie nämlich nicht nur eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum immer dann, wenn die Einhaltung der Distanz von zwei Metern nicht möglich ist. Gesichtsmasken gibt es aber schon in allen anderen Ländern, und gern preist sich Portugal als Land, das bei der digitalen Innovation mit vorangeht. Warum also nur Masken tragen, wenn eine neue und in gewissen Situationen verbindliche Anwendung für Mobiltelefone helfen könnte, ihre Nutzer zu warnen, wenn sie Kontakt zu infizierten Personen hatten?
„Stayaway Covid“ („bleib fern“) heisst die im August präsentierte App, deren Verwendung, wie Ministerpräsident Costa damals versicherte, freiwillig sein sollte. Ihr englischer Name täuscht darüber hinweg, dass dies eine portugiesische Entwicklung ist. Englisch ist in dem Land, das bis zum Beginn der Pandemie einen touristischen Boom erlebt hatte, aber „in“. Es gibt internationales Flair und soll jetzt auch helfen, das so polyglotte Virus zu verschrecken.
Wie funktioniert diese App? Wer sie auf dem Mobiltelefon installiert, muss zunächst auch die Bluetooth-Funktion aktivieren. Wenn nun jemand positiv auf Covid-19 getestet wird, soll er oder sie einen Code zur Eingabe in dieser App erhalten. Wer sich zuvor mindestens 15 Minuten lang in der Nähe dieser Person aufgehalten hat, bekommt dann – unter Wahrung von deren Anonymität – eine Warnung mit der Aufforderung, sich selbst an die Telefonlinie des nationalen Gesundheitsdienstes zu wenden und sich erst einmal in Isolation zu begeben.
Hier ein Link zu einem kleinen Film (auf Portugiesisch)
Plötzlich soll die Installation und Verwendung der App aber nicht mehr ganz freiwillig sein. Heftige Empörung provozierte die Regierung mit ihrem Gesetzesentwurf 62/XIV und der darin vorgesehenen Pflicht zur Benutzung der App im beruflichen, schulischen und akademischen Milieu, seltsamerweise aber nur durch die Besitzer von Geräten, die dies gestatten – also wohl von Smartphones. Ob deren Besitzer notfalls andere Apps und vielleicht auch Fotos löschen müssten, um Speicherplatz zu schaffen, sagt der Gesetzesentwurf nicht. Er definiert dafür, welche Polizeikräfte über die Einhaltung des Gesetzes zu wachen haben.
Müssten ahnungslose Bürger bei Polizeikontrollen nun das Natel mit der App vorzeigen und noch nachweisen, dass sie das Gerät vor Verlassen der Wohnung aufgeladen und die Bluetooth-Funktion aktiviert haben? In den sozialen Medien brodeln Warnungen vor dem Überwachungsstaat. Manche Nutzer erzählen, dass sie alte Mobiltelefone aus der Prä-Smartphone-Ära hervorkramen und neu in Betrieb nehmen wollen. Im Kampf gegen diese Pandemie sei doch jeder noch so kleine Beitrag zum Unterbruch der Ansteckungsketten wichtig, ist andererseits zu hören. Viele derjenigen, die jetzt so pingelig seien, gäben doch auf Instagram oder Facebook viel mehr aus ihrem Privatleben preis.
Viele Probleme und ein Rückzieher
Fast 2 Millionen Personen haben die App schon heruntergeladen. Wie eine Zeitung am Samstag meldete, hatten bis dahin aber nur 730 infizierte Personen zusammen mit dem Testergebnis auch den anonymen Code zur Eingabe in die App erhalten. Somit war für nicht infizierte Nutzer die Chance, nachträglich über die Nähe zu einer positiv getesteten Person informiert zu werden, relativ gering.
Ob sich eine parlamentarische Mehrheit für das Gesetz findet, erscheint fraglich. Eine Pflicht zur Nutzung der App würde ernste Fragen über die Wahrung der Privatsphäre aufwerfen, fand die nationale Kommission für den Datenschutz CNPD. Ohne inhaltlich eine Position zu beziehen, räumte Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa ein, dass er das Gesetz vom Verfassungsgericht prüfen lassen könnte.
Bis zur Klärung aller Zweifel dürfte also noch Zeit vergehen. Vielleicht findet die Regierung bis dahin wenigstens eine Mehrheit, damit ihr Staatsbudget 2021 die parlamentarischen Hürden nehmen kann.
Update 20.10.2020:
In einem Fernsehinterview am Montagabend rang sich der Regierungschef zu einem teilweisen Rückzug durch. Zunächst solle nur die Maskenpflicht kommen, sagte er, denn darüber bestehe ein breiter Konsens. Wie es mit den Plänen für die App weiter gehen soll, machte er von parlamentarischen Anhörungen abhängig – was irgendwie nach Abgesang klang.