Zu seiner Geburt am 13. September 1923 erhielten die Eltern des im Westfälischen Beckum geborenen Helmut Ostermann von Freunden gemäss zionistischer Tradition eine Urkunde für die Pflanzung eines Baumes in Palästina. Ob sich Helmut Ostermann – der sich im Alter von 18 Jahren einen hebräischen Namen gab: Uri Avnery – heute noch darüber freuen würde, weiss ich nicht. Ich bin skeptisch. Und doch war die frühe Orientierung an dem phantasierten Gelobten Land lebensrettend: Ohne ihre schon 1933 erfolgte Emigration nach Palästina wären Uri Avnery und seine Eltern wohl von den Deutschen ermordet worden.
Kindheit im assimilierten deutschen Judentum
Helmut Ostermann wächst in einem liberalen, vom deutsch-jüdischen Geist geprägten Elternhaus auf. Zehn Jahre zuvor, 1913, hatten seine Eltern geheiratet. Sie bekommen vier Kinder, Helmut war das Jüngste. Die Familie ist in Westfalen verwurzelt. Bereits der Grossvater wirkte als Lehrer an der jüdischen Gemeinde in Beckum.
1924 siedeln sie nach Hannover über. Wenn auch der grösste Teil der familiären Freunde Juden sind, so bilden sie innerhalb ihrer Nachbarschaft doch eine absolute Minderheit. Ihre religiöse Prägung war wohl nicht sonderlich stark. Sie besuchen nur an den hohen Feiertagen die Synagoge. Helmut selbst besucht für ein Jahr das humanistische Kaiserin-Auguste-Victoria-Gymnasium.
Manchmal ist das Leben voller Zufälle, die das zukünftige Leben massgeblich beeinflussen: Helmuts Sitznachbar in der Klasse ist ein gewisser Rudolf Augstein. Die Erinnerungen an diesen Freund, wie auch an Deutschland generell, bleiben für Jahrzehnte in Uri Avnery ausgelöscht. Auch die deutsche Sprache ist ausgelöscht. Es gibt wirklich Wichtigeres, als sich seelisch der Sprache der deutschen Nazis zugehörig zu fühlen.
Verbindung zu Augstein und dem «Spiegel»
Viele Jahrzehnte nach seiner Emigration nach Palästina lernt der linke, höchst streitbare Journalist Avnery in Israel einen Korrespondenten des «Spiegel» kennen und knüpft wieder Kontakte zu Augstein. In der Folge erschien eine grössere Zahl seiner Beiträge über Israel in den 1970er bis 90er Jahren im «Spiegel». In seinem Nachruf auf Augstein im November 2002 bemerkt Avnery:
«Er war mein ältester lebender Freund. (…) Es war eine katholische Schule, ich war der einzige jüdische Schüler in der Sexta und im ganzen Gymnasium. (…) Ich glaube, wir waren die beiden besten Schüler in der Klasse. Wir begleiteten einander auf dem Heimweg, wir besuchten uns gegenseitig. Fünfzig Jahre später behauptete er, er könne sich an die Kuchen meiner Mutter erinnern.»
Avnery, der sich sein Leben lang leidenschaftlich darum bemüht hat, zu dem vielleicht unbeliebtesten Publizisten in Israel zu avancieren, fühlt sich Rudolf Augstein ähnlich: Beide seien sie Herausgeber und Chefredakteure eines Nachrichtenmagazins gewesen, beide hätten sie im heftigen Streit mit ihrer Regierung gelegen, insbesondere mit ihrem jeweiligen Verteidigungsminister (Strauss sowie Shimon Peres). «Wir wurden beide verhaftet, bei ihm gab es Durchsuchungen, bei uns Bomben. Und dann, etwas später, wurden wir beide ins Parlament gewählt.» Lange hielten sie es dort nicht aus; Avnery immerhin, mit Unterbrechungen, zehn Jahre.
Antisemitismus in den 20er und 30er Jahren
Die sich zunehmend aufheizende Stimmung der späten 20er Jahre prägen – neben der Musik Bachs - die Lebenswirklichkeit des jungen Helmut. Das Politische ist ein selbstverständlicher Bestandteil der Gespräche beim Mittagstisch. Ihre existentielle Gefährdung ist den Ostermanns früh bewusst.
1933 versammeln sich alle Schüler seines Gymnasiums, um die deutschen Waffensiege zu feiern. Helmut ist der einzige jüdische Schüler. Diese Szene prägt sich ihm tief ein. 35 Jahre später erinnert er sich in seinem frühen Werk «Israel ohne Zionisten» (1969):
«Einmal (...) stand ich allein inmitten von tausend deutschen Jungen, die das Horst-Wessel-Lied, die blutrünstige Nazihymne, sangen. Ich sang nicht mit und hob auch nicht die Hand zum Nazigruss wie die anderen. Hinterher trat eine Gruppe meiner Klassenkameraden zu mir und sagte, wenn ich noch einmal beim Absingen der Hymne des neuen Deutschland den Arm nicht höbe, „würden sie es mir zeigen“.»
Neue Heimat in Palästina
Zu der angedrohten Prügeln kommt es nicht. Die zionistischen Überzeugungen seines Vaters schärfen dessen Wahrnehmung der existentiellen, scheinbar noch unwirklichen Gefahr. Nach einer antisemitischen Drohung, die seinem Vater im Frühjahr 1933 zugetragen wurde, beantragt dieser bei der Polizeibehörde von Hannover seine Auswanderung.
« ... Zionist sein, das bedeutete auch, dass einem die Leiden der Juden anderer Länder nicht gleichgültig waren und dass man mit Sympathie an dem Bemühen jener wenigen Pioniere Anteil nahm, die im Nahen Osten ein neues Land aufzubauen suchten (...). Der Zionismus rettete uns das Leben. Ich habe das nie vergessen, als ich später ein Nichtzionist, vielleicht sogar ein Antizionist wurde.» (Uri Avnery,1969)
Eine Woche später emigriert die Familie auf Schleichwegen über Frankreich nach Palästina. Ihre Verwandten versuchen sie noch davon abzuhalten: «Du bist völlig verrückt; euch droht keine Gefahr», versuchen sie seinen Vater zu überzeugen. Sie bleiben – und werden alle von Deutschen ermordet.
«Eines Morgens, kurz nach Sonnenaufgang, standen wir alle an Deck und sahen am Horizont einen braunen Streifen, der langsam näher kam. Es war die Küste von Palästina, und ich muss Ihnen sagen, es ist noch heute, Jahrzehnte später, ein erregender Moment für mich, wenn ich vom Flugzeug aus die Wüste sehe.»
Diese Szene ihrer Ankunft in Palästina im November 1933 hat sich in der Seele des seinerzeit zehnjährigen Uri festgesetzt. Er liebt seine neue Heimat sogleich. Deutschland, das Land der Nazis, existiert für ihn nicht mehr.
Vom Bankdirektor zum Landarbeiter
Für seinen Vater ist die Emigration nach Palästina mit einem radikalen Bruch mit seiner Vergangenheit verknüpft. Er beschliesst, nicht mehr im Finanzwesen, sondern in der Landwirtschaft zu arbeiten. Bei Avnery schwingt eine tiefe Bewunderung für seinen Vater mit, wenn er schreibt:
«Aber mein Vater war glücklich hier im Lande und bis zum letzten Augenblick idealistisch. Er, der nie in seinem Leben körperlich gearbeitet hatte, begann hier nicht nur zu arbeiten, sondern zu schuften, zwölf, vierzehn Stunden am Tag. Wir hatten am Ende eine Wäscherei, und er trug die Wäsche mit dem Fahrrad aus, bei Hitze und Regen. Meine Mutter arbeitete genauso. Er war glücklich, und sie war zumindest zufrieden. (… )
Je mehr man von dem hörte, was in Deutschland passierte, umso glücklicher war man, dass man rechtzeitig herausgekommen war. Und dass man vier Kinder gerettet hat. Mein Vater war ein Mensch, den alle Leute furchtbar gern hatten. Ich glaube, sie haben uns die Wäsche hauptsächlich gebracht, damit er zu ihnen nach Hause kommt und sich mit ihnen unterhält. Auf Deutsch natürlich, denn unsere Kundschaft war zum grossen Teil deutschsprachig. (...) Ja, er war glücklich, obwohl er nie ein Wort Hebräisch gelernt hat.»
Dankbarkeit und Optimismus
1969 erinnert sich der 46-jährige Avnery an das schwierige neue Leben seiner Eltern:
«Aber was mögen unsere Eltern in jenem Augenblick empfunden haben? Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Welch einen ungeheuren Mut müssen sie gehabt haben. (...) Als ich später als Journalist über den Eichmann-Prozess zu berichten hatte (1961), dachte ich zurück an meinen Vater, dessen Intuition uns das Leben gerettet hatte. Ich bin ihm zutiefst dankbar. Ich sehe ihn noch, wie er die Wäsche auf seinem Fahrrad transportierte, todmüde, doch von unzerstörbarer Fröhlichkeit, glücklich, wie er es niemals hinter seinem Direktionstisch in Hannover gewesen war. Er war wirklich ein Mensch.»
Sein Vater bleibt ein unverbesserlicher Optimist; dieser Optimismus überträgt sich auf seine neuen – zum grössten Teil deutschstämmigen – Kunden, wie auch erkennbar auf seinen lernbegierigen Sohn Uri. Dieser Optimismus wurde offenkundig zu Uri Avnerys unzerstörbarem inneren Erfahrungskern. Wenn dieser unermüdliche Publizist für etwas steht, dann für unverwüstlichen Optimismus: Nach jeder der Wahlen, die zumindest seit 1977 für die Linke nur mit Niederlagen geendet haben, hat er seine Leser immer wieder aufgefordert, nicht zu resignieren. Der Kampf «für den Frieden» – so eine immer wieder verwendete Formel Avnerys – beginne am nächsten Tag.
Untergrundkampf bei der Irgun
Mit 15 Jahren schliesst sich Avnery – der seinerzeit eine Ausbildung bei einem Rechtsanwalt machte – der rechtsgerichteten illegalen Widerstandsbewegung «Irgun» an. Sie kämpften mit militärischen Mitteln für die Gründung des Staates Israel. Das Waffenlager seiner Kompanie ist in seiner Wohnung untergebracht, worauf die Todesstrafe steht. Für das Bombenlegen selbst ist Uri noch zu jung. Eine Erinnerung an seine etwa vier Jahre überdauernde Tätigkeit beim Irgun aus dem Jahr 2000:
«Von dem Augenblick an war alles ganz, ganz anders. Das Leben bekam einen völlig neuen Mittelpunkt. Tagsüber arbeitete ich beim Rechtsanwalt, und abends war ich im Untergrund. Mein Chef war Jude, aber alle seine Freunde, die auch viel in unserem Büro verkehrten, waren englische Kolonialbeamte. Bei einer Aktion, 1939 gegen das englische Weissbuch, zündeten wir deren Büros an: die Büros, in denen ich sonst für den Rechtsanwalt zu tun hatte. Ja, ja, das waren gewisse Paradoxe!»
Der junge Uri ist von den Gefühlen eines Abenteuers angetrieben: «Eine meiner Aufgaben war, diese Waffen herumzutragen. Es ist ein wunderbares Gefühl, mit einer Pistole unter dem Arm auf der Strasse herumzuspazieren in dem Bewusstsein: Das ist bei Todesstrafe verboten! Du gehst an englischen Polizisten vorbei, und keiner ausser dir weiss, dass du eine Pistole hast – das ist ein herrliches Gefühl für einen Jungen!»
Schuldgefühle hat er hierüber nicht entwickelt, auch später stellen sich keine ein. Die historische Situation lässt ihm den Kampf als gerecht erscheinen.
Distanz zum Nationalismus
Mit 17 oder 18 Jahren kommen ihm Zweifel am eigenen Nationalismus. In einer einsamen Nacht trifft er eine Entscheidung, die er wohl mit niemandem seiner israelischen Altersgenossen teilt: Er verlässt den Irgun, seine seelische Heimat, obwohl deren Hymne doch lautete: «Aus unseren Reihen befreit nur der Tod.»: «So etwas war beinahe unerhört. Man verliess eine Untergrundbewegung nicht.» Eine andere Erinnerung, 1969: «Ich stand auf und ging. Stundenlang lief ich durch die Strassen. Ich fühlte mich allein und verlassen, alle Sicherheit war dahin.»
Uri Avnery setzt sein politisches Engagement fort, nun mit anderem Akzent. 1946, noch vor der Staatsgründung, gründet er mit einigen Freunden eine winzige Gruppierung, die sich «Junges Erez Israel» nennt und eine «neue Nation innerhalb des jüdischen Volkes» gründen will. Sie geben die Zeitschrift «Bamaawak» (Im Kampf) heraus; 1947 publizieren sie eine auf arabisch übersetzte Broschüre, betitelt «Krieg oder Frieden in der semitischen Region».
Missverstandenes Antikriegsbuch
Der 1948er Befreiungskrieg ändert alles. Avnery schliesst sich der «Haganah» an, kämpft in der Kommandoeinheit «Simsons Füchse», verfasst nebenbei ein Kriegstagebuch.
Gegen Kriegsende wird Avnery bei einem Gefecht schwer verletzt. Vier aus Marokko eingewanderte Soldaten retten ihm in einem tollkühnen Einsatz das Leben. Beeinflusst durch die Bücher Erich Maria Remarques publiziert der 25-jährige ein Kriegstagebuch unter dem Titel «In den Feldern der Philister». «Plötzlich war ich der Liebling der Gesellschaft» erinnerte er sich 1995. «Das hat mir sehr geholfen, denn vorher war ich schrecklich unpopulär.» Sein frühes Werk hatte er als Antikriegsbuch verstanden; es wird von der jungen Generation der Staatsgründung jedoch anders gelesen. Sie begeistern sich für Kameradschaft, für den Krieg.
Nationaler Skandal
Ein Jahr später legt der 26-jährige deshalb ein Buch nach, mit dem er seinen fragwürdigen Ruf in Israel verewigte, betitelt mit «Die andere Seite der Münze». Hierin schreibt er auch über Kriegsgreuel, Gewalt, Tote: «Dieses Buch war ein nationaler Skandal ohnegleichen. Ich schrieb darin über Kriegsverbrechen, wie zum Beispiel die Tötung arabischer Flüchtlinge. Das Buch wurde dann boykottiert, und es erschien nur eine Auflage.»
Diese beiden lesenswerten Werke des jungen Avnery erschienen auf Deutsch erst 57 Jahre später unter dem Titel «In den Feldern der Philister».