Mit den im Alter von 25 und 26 Jahren publizierten ersten Büchern über den 1948er Befreiungskrieg in und um Israel ist Uri Avnery in seiner Heimat zum bekannten und heftig umstrittenen Autor geworden. Gustav Schocken, aus Chemnitz stammender legendärer israelischer Verleger und Chefredakteur von «Haaretz», ist von den Aufsätzen des jungen Uri Avnery, der keinerlei reguläre journalistische Ausbildung durchlaufen hat, angetan. Er bietet dem 25Jährigen an, regelmässig Kommentare in «Haaretz» zu publizieren. Nach nur einem Jahr beendet Avnery diese Tätigkeit, da er zu grundlegenden inhaltlichen Konzessionen nicht bereit ist.
Wochenzeitschrift zwischen «Bild-Zeitung» und «Zeit»
1950 übernimmt der inzwischen 27jährige Avnery die Wochenzeitschrift «Haolam Hazeh» (Diese Welt) und verwandelt sie in kürzester Zeit in ein Skandalblatt. Für ihn gelten keinerlei thematische Tabus. Bereits in der ersten Ausgabe bezeichnet er die zweijährige Einberufung von Frauen in die Armee als unzeitgemäss. «Haolem Hazeh», von Avnery selbst als eine «Synthese» von «Bild-Zeitung» und «Zeit» beschrieben, wurde «innerhalb kürzester Zeit zum Unpopulärsten gemacht, was es überhaupt je in Israel gegeben hat», erinnerte sich Avnery 1995.
«Wir stritten uns mit allen Teilen des Establishments. Das führte dazu, dass wir etwa zwanzig Jahre lang nicht einen Millimeter an Anzeigen verkauften.» Und: «Es gab jedoch sehr viele Witze darüber, dass viele Käufer – auch Regierungsbeamte – sie quasi in anderen Zeitungen versteckten. Sie war die Zeitung der Sabras, der neuen Generation, die in Israel aufgewachsen ist. Offiziere und Beamte lasen sie mit grosser Begeisterung, offiziell aber war sie absolut verpönt. Ben-Gurion sprach nie ihren Namen aus.»
Das Blatt setzt sich für einen liberalen, säkularen, modernen Staat ein und deckt immer wieder Skandale und Korruptionsaffären auf. Die Auseinandersetzungen um «Haolam Hazeh» werden teils militant ausgetragen. Es überlebt drei Bombenanschläge, zwei Mordaufträge und zahlreiche Prozesse. 1953 wird Avnery von einem Unbekannten überfallen, dieser bricht ihm beide Hände und alle Finger. Die aus Deutschland gebürtige Krankenschwester Rachel pflegt ihn und wird seine Ehefrau: «Wir haben fünf Jahre in Sünde gelebt und dann geheiratet.» Rachel Avnery starb im Mai 2011.
41 Jahre lang leitet Avnery sein Blatt, 1990 muss er es aus ökonomischen Gründen aufgeben. An dessen Stelle treten seine wöchentlich verschickten, jeweils fünf Seiten langen aktuellen Kommentare. 2003 erscheint eine Auswahl dieser Kommentare in seinem Buch «Ein Leben für den Frieden».
Friedenspolitik ohne Tabus
1965 versucht Ministerpräsident Eshkol, «Haolam Hazeh» mittels eines Pressegesetzes zu ruinieren. Daraufhin gründet Avnery gemeinsam mit Freunden eine Partei, die den Namen seiner Zeitung trägt und «Freiheit für Haolam Hazeh» fordert. Zur allgemeinen Überraschung zieht die Partei mit einem Sitz in die Knesset ein. In zehn Parlamentsjahren hält Avnery über tausend Reden, in hundert davon fordert er die Anerkennung eines palästinensischen Staates – seinerzeit ein absolutes Tabu. Eine intime Feindschaft verbindet ihn hierbei mit der früheren Ministerpräsidentin Golda Meir. Dennoch: Die politischen Kontroversen wurden in der Knesset vorwiegend im Grundtenor eines wechselseitigen Respekts ausgetragen.
Im Rückblick betrachtet wird deutlich, wie sehr Avnery mit seinem singulären Engagement schrittweise die politische Diskusssionskultur in Israel geprägt hat. Als er 1981 aus der Knesset ausscheidet, ist er hierüber nicht sonderlich traurig. Lakonisch bemerkt er in der ihm eigenen Art: «Ich hatte aber keine richtige Lust mehr, denn das Parlament hatte sich sehr verändert. Das Niveau sank von Wahl zu Wahl.»
Verbotene, gefährliche Geheimgespräche
Hauptkennzeichen von Avnerys Lebenswerk dürften seine Geheimgespräche mit kooperationsbereiten Palästinensern bilden. Solche Gespräche waren in den 70er Jahren in Israel noch verboten. Bereits im Juni 1967, am fünften Tag des Junikrieges, appelliert er in einem offenen Brief an Ministerpräsident Eshkol, den unterlegenen Palästinensern als Geste der eigenen Versöhnungsbereitschaft unverzüglich die Gründung eines eigenen Staates anzubieten. 1975 gründet er gemeinsam mit dem legendären israelischen General Matti Peled den «Israelischen Rat für Israelisch-Palästinensischen Frieden». Er führt – vornehmlich in europäischen Hotels – Geheimgespräche mit den PLO-Politikern Said Hamami und Issam Sartawi.
Regelmässig treffen sie sich unter absoluter Geheimhaltung. Diese Kontakte sind für beide Seiten lebensgefährlich und enden für Hamami und für Sartawi tödlich. Sein Freund Hamami wird 1978, Sartawi 1983 am Rande einer Konferenz der Sozialistischen Internationalen in Portugal von palästinensischen Extremisten der Abu-Nidal-Bande ermordet.
Avnery informiert Rabin über den Inhalt dieser Gespräche, und Rabin, obwohl sie seinerzeit in Israel de jure verboten waren, duldet die Kontakte stillschweigend. Sie führen 1982 zu Avnerys weltweit beachtetem, spektakulärem Besuch bei Arafat im seinerzeit belagerten Beirut.
Diese den Zeitraum von 15 Jahren umspannenden Gespräche publiziert Avnery 1988 in seinem teilweise wie ein Krimi zu lesenden Buch «Mein Freund, der Feind». Er beschliesst sein Werk mit dem Kapitel «Gefangene ihrer Geschichte»: «An dieser Stelle beende ich meine Geschichte. Nicht weil sie zu Ende wäre. Im Gegenteil. (...) Ich habe mich bemüht, diese Geschichte so wahrheitsgemäss zu erzählen, wie ich konnte.
Abenteuer von historischer Bedeutung
Vielleicht ist es eine traurige Geschichte, vielleicht macht sie auch Mut. Wir haben eine Unmenge Niederlagen und Rückschläge erlitten. Aber wir sind auch auf menschliche Beharrlichkeit gestossen, auf Hingabe an ein Ideal, auf Mut im Angesicht des Gegners. Menschen haben ihr Leben hingegeben. (...) Ist überhaupt etwas erreicht worden? (...) Für mich ist die Antwort selbstverständlich. Diese lange Mühe, dieses Abenteuer für den Frieden ist von historischer Bedeutung.»
Avnery lässt sich nicht entmutigen, trotz aller Rückschläge. 1993 folgt die Gründung seiner winzigen Friedensgruppe «Gush Shalom». Neben Demonstrationen und gemeinsamen Aktionen gegen israelische Siedlungen erarbeiten sie detaillierte Pläne zu einer friedlichen Regelung kontroverser Themen. 1996 folgt auf Deutsch der gemeinsam mit Azmi Bishara verfasste Interviewband «Die Jerusalemfrage». Der ehemalige Knessetabgeordnete Bishara, der in den 80er Jahren in der DDR studiert hatte, flieht 2007 in den Libanon, weil ihm in Israel eine Anklage wegen Unterstützung der Hizbollah im zweiten Libanonkrieg droht.
Irritationen...
Avnerys enge Verbindung zu Arafat – er tritt meist wie dessen Zwillingsbruder auf – löst grosse Verwunderung auch unter linken Israelis aus. Von der verheerenden Korruption unter Arafat, der Willkür, der Politikunfähigkeit Arafats war bei Avnery nie etwas zu hören.
Die Rezeption von Uri Avnerys radikalem Engagement im deutschsprachigen Raum ist ein eigenes Kapitel. In schon beängstigender Weise findet es vor allem in «israelkritischen» Kreisen – wenn man diesen seltsamen Begriff denn verwenden möchte – Echo. Avnery avanciert hierdurch (ob ihm dies gefällt oder nicht, ist irrelevant) zum Kronzeugen für antiisraelische Kampagnen mit deutlichen Übergängen hin zum unverhüllten Antisemitismus und Antizionismus.
Vom Autor Roland Kaufhold ist 2003 eine biografische Studie über Uri Avnery erschienen, enthalten in: Uri Avnery, Ein Leben für den Frieden. Klartexte über Israel und Palästina, Palmyra 2013, 298 S.
Beim Internetmagazin haGalil erscheint zu Avnerys 90. Geburtstag eine Hommage.
... und Preise
Ab den 90er Jahren wird Uri Avnery geradezu mit Preisen überhäuft. 2003 erhält er in Köln durch Fritz Pleitgen den Lew-Kopelew-Preis; 2005 wird ihm sein einziger israelischer Preis verliehen: der Sokolow Preis für sein lebenslanges journalistisches Wirken.
Uri Avnery, dieser unverbesserliche Optimist, hat Israels Kultur massgeblich geprägt. Er war zeitlebens überzeugt davon, dass sein Weg zu einem Frieden in Nahost führen würde. Ehre, wem Ehre gebührt. Am 10. September feierte er in Tel Aviv seinen 90. Geburtstag.
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Dokumentarfilm über Uri Avnery auf Youtube: Yair Lev: Uri Avnery – Warrior For Peace, Dokumentarfilm, Israel 2002, 75 Minuten