Die Wiederwahl des autokratischen türkischen Quasi-Diktators ist keine gute Nachricht. Die Hoffnungen von Millionen demokratisch gesinnter Türkinnen und Türken sind damit zerstört. Auch für die politischen Häftlinge, die Frauen, die Kurden und die Wirtschaft ist der 28. Mai kein guter Tag.
Zwar hat der Präsident mit gut 52 Prozent der Stimmen keinen Erdrutschsieg errungen, doch das wird ihn nicht daran hindern, seine anti-demokratische, selbstherrliche Politik weiterzuführen.
Zum ersten Mal hatten sich die grossen türkischen Oppositionsparteien zusammengerauft. Zum ersten Mal hatte Hoffnung bestanden, dass der Autokrat vom Thron gestürzt werden kann. Und zum ersten Mal auch nährten Meinungsumfragen während Wochen diese Hoffnung. Doch alles kam anders, die Umfrageinstitute haben versagt. Die Enttäuschung vieler nach dem ersten Wahlgang war enorm. Türkinnen und Türken lagen sich weinend in den Armen: Wieder nichts! Weiter mit Erdoğan.
Nicht nur Zehntausende politische Gefangene und ihre Familien sind am Boden zerstört. Wie hatten sie doch gehofft, dass die Häftlinge, die in schrecklichen Gefängnissen schmachten, endlich freikamen. Erdoğan hatte Tausende, Abertausende, Zehntausende Menschen, die ihm nicht passten und die seine Politik nicht billigten, ins Gefängnis geworfen. Das sind oppositionelle Politiker, Anwälte, Richter, hohe Militärs, Chefredaktoren, Journalisten, Demonstrantinnen und Demonstranten, die die Wiederherstellung der Demokratie verlangen. Sie alle werden jetzt wohl im Gefängnis bleiben.
Die Opposition hatte die Wahl als letztes Aufbäumen der türkischen Demokratie bezeichnet. Der jetzt Wiedergewählte hat die demokratischen Institutionen des Landes ausgehöhlt. Die Mehrheit des Parlaments steht ganz unter der Fuchtel des Präsidenten. Erdoğan hat die Macht der Justiz untergraben. Richter fragen im Präsidentenpalast in Ankara nach, wie sie urteilen sollen. Die Medien sind geknebelt; eine freie türkische Presse gibt es nicht. Meinungen, die von jenen des Präsidenten abweichen, werden unterdrückt und bestraft.
Erdoğan ist auf die Unterstützung rechtsextremer Kreise angewiesen, die die Rechte der Frauen stark einschränken wollen und fast mittelalterliche Vorstellungen haben. So soll ein Gesetz, das Gewalt gegen Frauen unter Strafe stellt, abgeschafft werden. Menschenrechtsorganisationen fürchten, dass die Frauen in der Türkei viel von ihrer ohnehin schon kleinen Freiheit verlieren.
Auch die Kurden, die immerhin 19 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen und die Erdoğan seit Jahren demütigt und quält, können nicht auf eine bessere Zukunft hoffen.
All das wird jetzt wohl so bleiben.
Erdoğan hat fast die Hälfte des Volkes gegen sich (der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu erzielte fast 48 Prozent der Stimmen). Das Land ist tief gespalten. Wird er jetzt, der 69-jährige Mann, nach gewonnener Wahl und der Befriedigung seines Egos weiser und vernünftiger werden? Das liegt nicht in seinen Genen. Im Gegenteil: Nicht nur die Opposition, auch namhafte türkische und ausländische Politologen befürchten, dass er jetzt seine fast diktatorische Macht noch weiter ausbauen könnte. Er hatte sich 2017 mit einer Volksabstimmung zum fast allmächtigen Staatspräsidenten küren lassen (das Amt des Ministerpräsidenten wird in einer Präsidialdemokratie abgeschafft). Seither regiert er wie ein osmanischer Sultan, hat nur Ja-Sager um sich geschart und tritt immer hochmütiger und störrisch auf. Schon spricht er vom «türkischen Jahrhundert».
Wird er das, was von der Demokratie in der Türkei übriggeblieben ist, weiter mit Füssen treten oder gar abschaffen? Wird er sich endgültig zum machtbesessenen türkischen Sultan aufschwingen? Nicht wenige befürchten das.
Vor allem die stark religiöse Mittel- und Unterschicht im tiefen Anatolien ist es, die Erdoğan mit fast verbundenen Augen folgt. Dazu kommen die Ultranationalisten, die Rechtsextremen, die dem grossen Osmanischen Reich nachtrauern und die Türkei zu neuer Grösse führen möchten. Nationalistisch sind viele, auch innerhalb der laizistischen Opposition.
Vor allem etwas könnte Erdoğan bremsen: Die Wirtschaft. Er hatte der Türkei zu Beginn des Jahrtausends einen fast fantastischen Wirtschaftsaufschwung beschert. Jetzt ist er dabei, sein Werk gründlich zu zerstören. Er hat das Land in eine schwere Wirtschaftskrise gestürzt. Wirtschaftswissenschaftler schütteln nur den Kopf wegen seiner Wirtschaftspolitik, vor allem wegen seiner Niedrigzins-Politik. Auch die Wirtschaft hatte sehnlichst auf eine Abwahl des Herrschers gehofft.
In Erwartung eines Sieges Erdoğans reagierten die Finanzmärkte am Freitag mit einem Rekordtief der türkischen Lira gegenüber dem Dollar. Die Nachfrage nach Fremdwährungen ist sprunghaft angestiegen, und die Nettodevisenreserven der Zentralbank sind zum ersten Mal seit 2002 in den negativen Bereich gerutscht. Die Inflation beträgt jetzt 44 Prozent, die Lebenshaltungskosten steigen, die Armut nimmt zu. Den meisten Türkinnen und Türken geht es schlechter als vor einigen Jahren. Wird das Erdoğan endlich zum Umdenken und zu einer realistischen Wirtschaftspolitik zwingen? Viele glauben nicht daran, dass der sture Egomane zugeben wird, dass es seine abenteuerliche Politik ist, die zum Desaster geführt hat.
Aussenpolitisch wird er wohl weiter gegen den Westen zündeln und ihn ärgern. Das erwarten seine nationalistischen und ultranationalistischen Freunde. Sie sind stolz darauf, dass ihr Präsident eine «TurkeyFirst-Politik» führt und damit das türkische Volk aufwertet. So bringt er sich ins Gespräch, was das Ziel jedes Populisten ist. Er sucht die Schlagzeilen. Er will hofiert werden von den Grossen dieser Welt. Einige hegen die Hoffnung, dass er jetzt nach gewonnener Wahl dem Westen einen Knochen hinwerfen und der Aufnahme Schwedens in die Nato zustimmen könnte. Doch das ist längst nicht sicher.
Auch wenn die säkulare Opposition unter der Führung von Kemal Kılıçdaroğlu da und dort im Westen fast zum Heilsbringer emporstilisierte wurde: Wunder wären mit ihr nicht zu erwarten gewesen. Das Oppositionsbündnis bestand aus sechs völlig verschiedenen Parteien und Strömungen. Einige davon waren klar rechtsextrem. Unter diesen Umständen wäre das Regieren wohl schwierig geworden – und der Sozialdemokrat Kılıçdaroğlu wäre nicht zu beneiden gewesen. Aber immerhin hat er glaubhaft versprochen, die demokratischen Institutionen und Gepflogenheiten wieder herzustellen. Seine jüngste Anbiederung an die Rechtspopulisten und Rechtsextremen, um vielleicht doch noch zu gewinnen, hat sein Image angekratzt. Seine Devise war offenbar: In der Not paktiert man auch mit dem Teufel.
Die Grossmannssucht Erdoğans verurteilte er. «Ich habe kein Interesse daran, in Palästen zu leben. Ich werde wie das breite Volk leben, bescheiden … und eure Probleme lösen.»
Erdoğan hingegen, der immer wieder betont, wie ihm das einfache Volk am Herzen liege, wohnt in einem tausend Zimmer zählenden Palast bei Ankara, den er für sich bauen liess. Seine Frau schmückt sich mit Accessoires der teuersten westeuropäischen Modedesigner.
Natürlich müssen ein Präsident und sein Frau nicht in Armut leben. Aber ein Palast mit tausend Zimmern? Sagt das etwas darüber aus, wie er sich in der Geschichte sehen möchte? Als bis zu seinem Tod herrschenden Sultan?