Es war Montag, der 22. Mai, 14.35 Uhr. Sechs Tage vor der Wahl. Die türkische Nachrichtenagentur «Anadolu» verbreitete eine Eilmeldung. Damit schien die Wahl am kommenden Sonntag entschieden.
Anadolu meldete, dass der rechtsextreme türkische Politiker Sinan Oğan seine Wählerinnen und Wähler aufgerufen hat, in der Stichwahl an diesem Sonntag für Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu stimmen. Oğan, der mit seiner Splitterpartei «Ata İttifakı» in der ersten Wahlrunde überraschend über 5 Prozent der Stimmen erhalten hatte, galt als Königsmacher. Er war früher Mitglied der rechtsextremen, ultranationalistischen MHP, wurde dann aber aus der Partei ausgeschlossen und gründete eine eigene Formation. Dass er, der Ultranationalist, sich jetzt offiziell für Erdoğan ausgesprochen hat, überrascht nicht wirklich. Im Geiste sind sich die beiden ähnlich.
Erdoğan war als überraschend klarer Sieger aus der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen hervorgegangen. Er erhielt 4,6 Prozent mehr Stimmen als der sozialdemokratische Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu. Wenn jetzt noch einige Prozentpunkte der Oğan-Partei dazukommen, scheint der Wahl Erdoğans nichts im Wege zu stehen. Es müsste schon sehr viel, sehr Unvorhergesehenes in den nächsten Stunden geschehen, wenn der neu türkische Präsident nicht der alte wäre.
Kreise innerhalb der Opposition haben bereits viele Illusion verloren. «Unser Wählerpotential ist ausgereizt», heisst es. Es ist nicht anzunehmen, dass für die Stichwahl 6, 7 oder 8 Prozent zusätzliche Erdoğan-Gegner mobilisiert werden können. Dies wäre umso schwieriger, weil die Wahlbeteiligung in der ersten Runde bereits fast 90 Prozent betragen hatte.
AKP beherrscht das Parlament
Endlich, endlich, zum ersten Mal war es den grossen Oppositionsparteien gelungen, sich gegen Erdoğan zu vereinigen. Dieses Sechserbündnis wird nun nach der erwarteten Niederlage wohl auseinanderfallen, was Erdoğans Position weiter stärken würde.
Bei den gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen stattgefundenen Parlamentswahlen hatte Erdoğans AKP eine komfortable Mehrheit errungen. Deshalb wären Kılıçdaroğlu ohnehin die Hände gebunden, das Land wieder in Richtung einer funktionierenden Demokratie zu führen.
Erdoğans erwarteter Sieg erstaunt viele
Bereits finden Siegesfeiern für Erdoğan statt. In den Strassen von Istanbul und Izmir schwenken am Donnerstagabend Tausende Fahnen und tanzen bei patriotischer Musik. Der Sieg ihres Champions gilt ihnen als sicher.
Erdoğans vermutlicher Triumph ist – vom Westen aus gesehen – umso erstaunlicher, als er das Land wirtschaftlich ins Chaos geführt hat. Der Lebensstandard der meisten Türkinnen und Türken ist in den letzten Jahren wegen Erdoğans abenteuerlicher Wirtschaftspolitik deutlich gesunken. Die Preise steigen, die Inflation liegt bei 40 Prozent. Die Landeswährung Lira hat innerhalb von zwei Jahren 50 Prozent an Wert verloren. Dass er sich zu einem Quasi-Diktator entwickelt, die Menschenrechte mit Füssen tritt, Zehntausende ins Gefängnis wirft und die Medien knebelt – all das scheint die Mehrheit des Volkes zu schlucken. Selbst die dilettantisch organisierte Hilfe nach dem Erdbeben vom 6. Februar hat ihm nicht geschadet.
Kılıçdaroğlu ist «kein guter Muslim»
In den grossen Agglomerationen, in den städtischen, gebildeten Kreisen, in Istanbul, Ankara, Izmir und Adana hat Erdoğan verloren. Seine Machtbasis sind die eher ungebildeten, ärmeren, sehr religiösen, nationalistisch aufgepeitschten Bürgerinnen und Bürger, die vor allem im tiefen Anatolien und an der Schwarzmeerküste leben. Die Religion spielte offenbar eine grosse Rolle. «Wir wollen gläubige Muslims bleiben», sagten viele nach der Wahl. Der oppositionelle säkulare sozialdemokratische Kandidat sei «ungläubig». Kılıçdaroğlu gehört zwar den eher liberalen (muslimischen) Aleviten an, doch in den Augen der AKP-Anhänger ist er «kein guter Muslim».
Erdoğan, dem begnadeten Populisten, gelingt es immer wieder, die tief religiösen Muslims anzusprechen und Angst vor westlichen Einflüssen heraufzubeschwören. Schon 2008 setzte Erdoğan durch, dass das Kopftuchverbot an Universitäten aufgehoben wurde. Damit erntete er in weiten religiösen Kreisen viel Lob. 2013 dann folgte die Aufhebung des Hidschabverbots im öffentlichen Dienst. Auch dass er 2020 die Istanbuler Hagia Sophia von einem Museum wieder in eine Moschee verwandelte, brachte ihm bei den religiösen Muslims viel Sympathie ein.
«Eigentlicher Terror»
Ein in Genf lebender türkischer Oppositioneller, der aus Sicherheitsgründen nicht möchte, dass sein Name bekannt wird, erklärte, in den Dörfern in Anatolien hätte Erdoğans AK-Partei einen «eigentlichen Terror» ausgeübt. Die Leute hätten sich nicht getraut, eine andere Partei als die AKP zu wählen. AK-Vertreter seien zu den Leuten nach Hause gegangen und hätten sie eingeschüchtert.
Doch es sind nicht nur zurückgebliebene Landleute, die für Erdoğan stimmen. Es gibt emanzipierte junge Frauen, die Universitäten besucht haben, die freiwillig und stolz ein Kopftuch tragen als Protest gegen die «arrogante» westliche Welt. Viele sind gar nicht religiös. Für manche ist das Votum für Erdoğan ein Votum gegen die Verwestlichung, gegen die Amerikanisierung und gegen die EU, die die Türkei nicht will. Die Beitrittsverhandlungen hat Brüssel wegen der Menschenrechtsverletzungen längst aufs Eis gelegt.
Und jetzt?
Erdoğan wird jetzt also vermutlich für fünf weitere Jahre gewählt. Vielleicht werden es dann auch mehr, denn viele befürchten, er könnte sich nun endgültig zum «ewigen Alleinherrscher» entwickeln.
Was ist zu erwarten? Nichts Gutes.
Die politischen Gefangenen werden wohl im Gefängnis bleiben. Erdoğan hatte Zehntausende Oppositionelle, unter ihnen Richter, Anwälte, Journalisten, Politiker, festnehmen lassen. Sie schmachten teils seit Jahren im Gefängnis und hatten sehnlichst auf einen Machtwechsel gehofft. Die gleichgeschalteten, geknebelten Medien werden weiterhin im Dienste Erdoğans schreiben und senden. Von Pressefreiheit keine Spur. Auch gesellschaftspolitisch schaltet der Präsident den Rückwärtsgang ein. Vor allem Frauen befürchten nach einem Sieg des Präsidenten eine Verschlechterung ihrer Situation. Auch die Kurden, die immerhin fast zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen und die seit jeher von Erdoğan gegängelt werden, können wohl nicht auf bessere Zeiten hoffen. Sie wurden, so der Genfer Oppositionelle, zum Teil physisch daran gehindert, an den Wahlen teilzunehmen.
Das einzige, was Erdoğan gefährlich werden könnte, ist die Wirtschaftslage. Er hat bereits angekündigt, er werde die bisherige Wirtschaftspolitik, vor allem die Niedrigzinspolitik, weiterführen. Das könnte früher oder später zu einem Kollaps führen. Doch die religiösen, nationalistischen anatolischen Mittel- und Unterschichten werden dafür kaum ihr Idol Erdoğan verantwortlich machen.
Tanz auf vielen Hochzeiten
Aussenpolitik spielt im Wahlkampf eine untergeordnete Rolle. Doch die meisten nationalistischen und religiösen Türkinnen und Türken sind stolz darauf, dass ihr Präsident immer wieder dem Westen die Stirn bietet. Er, der vor einer Woche sagte, er habe «privilegierte Beziehungen zu Putin», tanzt bewusst und geschickt auf mehreren Hochzeiten: auf der westlichen, der russischen, der chinesischen, der nahöstlichen und der afrikanischen. Lange Zeit wurde die Türkei im Westen nicht ganz ernst genommen, worunter die Nationalisten litten. Erdoğan ist es jetzt gelungen, zu einem wichtigen Akteur auf verschiedenen geopolitischen Schauplätzen zu werden, vom Nahen Osten und dem Kaukasus bis nach Afrika und Zentralasien. «Unser Präsident spielt international eine wichtige Rolle,» freuen sich seine Fans. Das färbt auf das Selbstbewusstsein vieler Türkinnen und Türken ab.
Es ist nicht anzunehmen, dass er mit seinen Sticheleien und seinen Provokationen gegen den Westen aufhört. Vielleicht, so vermuten einige, könnte er nach der Wahl als Zeichen des guten Willens dem Westen einen Knochen hinwerfen und seinen Widerstand gegen die Aufnahme Schwedens in die Nato aufgeben. Doch das ist noch längst nicht sicher.
3,5 Millionen syrische Flüchtlinge
Die Türkei unter Erdoğan hatte 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Diese sind im Land unbeliebt. Der Präsident kündigte seit langem an, die Syrerinnen und Syrer ins Asad-Land zurückzuschicken zu wollen. Doch bisher geschah wenig.
Letzte Woche nun versuchte Kılıçdaroğlu in einer fast verzweifelten Aktion Erdoğan zu übertrumpfen. Der Oppositionskandidat kündigte an, er werde die Geflüchteten «sofort» und «definitiv» ausschaffen. Ob diese nicht gerade sozialdemokratische Offensive ihm Stimmen einträgt, ist fraglich. Viele Syrerinnen und Syrer in der Türkei fürchten sich nun plötzlich mehr vor Kılıçdaroğlu als vor Erdoğan.
Atatürk würde sich im Grabe drehen
Viele Oppostionelle haben sich bereits mit ihrer Niederlage abgefunden. Sie hofft zumindest, dass der Präsident nicht einen Erdrutschsieg erringt. Denn ein solcher könnte ihm Tür und Tore für noch mehr Diktatur öffnen.
Die «moderne» säkulare Türkei feiert im kommenden Herbst ihr hundertjähriges Bestehen. Am 29. Oktober 1923 hatte Kemal Atatürk eine grosse Verfassungsänderung durchgesetzt und damit die laizistische Türkei gegründet. Während der grossen Feierlichkeiten im Oktober könnte klar werden, dass die Trennung von Religion und Staat unter Erdoğan wieder mehr und mehr verwischt wird. Der Gedenktag könnte zu einem Fest der Wiedergeburt der muslimischen Türkei werden. Atatürk würde sich im Grabe drehen.