Seit Präsident Macron seine heftig umstrittene Rentenreform mangels Mehrheit ohne Abstimmung durchs Parlament geboxt hat, sind Spannungen, Wut und Gewalt im Land nur noch grösser geworden. Es braucht dringend einen Ausweg aus dieser Krise.
Es war am Montag der 10. landesweite Aktionstag innerhalb von 11 Wochen, in denen der Kampf gegen Macrons Rentenreform jetzt schon quer durchs Land tobt.
Zehn Tage, an denen jeweils zwischen 500’000 und 1,3 Millionen Demonstranten (nach Angaben des Innenministeriums) oder zwischen 2 und 3,5 Millionen (nach Angaben der Gewerkschaften) durch Frankreichs Städte zogen und gegen ein zusammengeschustertes, nicht zu vermittelndes und zu einem katastrophalen Zeitpunkt eingebrachtes Gesetz protestierten, dessen absolute Dringlichkeit so gut wie niemand erkennen kann. Grossdemonstrationen, die bis Mitte März, zum Erstaunen aller, weitgehend friedlich verlaufen waren und für die die Unterstützung der französischen Bevölkerung auch nach elf langen Wochen und zahlreichen Unannehmlichkeiten nicht abgenommen, ja eher zugenommen hat. In den allerletzten Umfragen sind 70 Prozent aller Franzosen gegen die Reform und 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Sollte Präsident Macron – was viele für eine Tatsache halten – darauf gesetzt haben, dass die Franzosen im Grunde resigniert sind, sich die Proteste mit der Zeit verlaufen werden und er einfach zur Tagesordnung übergehen könne, so hat er sich gründlich getäuscht. Für viele seiner Gegner und Kritiker ein weiteres Zeichen dafür, dass der jüngste Präsident der 5. Republik sein Land und vor allem seine Bevölkerung sehr schlecht kennt und nicht wirklich versteht.
Falsche Priorität
Bis heute kann der Hausherr im Elysée seinen Bürgerinnen und Bürgern nicht erklären, warum nicht die Klimakrise, die extreme Herausforderung des ökologischen Umbaus, die Energiekrise und die Inflation die grossen Prioritäten am Beginn seiner zweiten Amtszeit sind, sondern ausgerechnet diese Rentenreform, die er ohne echte Verhandlungen mit den Gewerkschaften und Oppositionsparteien in den Monaten davor am 10. Januar dieses Jahres auf den Weg gebracht hat. Zumal zum Beispiel eine staatliche Institution wie der «Beobachtungsrat der Rentenentwicklung» damals klar formuliert hatte, dass für die Reform keine unmittelbare Dringlichkeit bestehe. Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften, die den Eindruck hatten, überhaupt nicht gehört zu werden und sich erniedrigt fühlten, ganz unzweideutig ihren Widerstand angekündigt. Ja sie hatten, was für Frankreich sehr ungewöhnlich ist, über Nacht eine Einheitsfront aus acht Arbeitnehmerverbänden zustande gebracht, welche auch nach elf Wochen immer noch Bestand hat. Doch Macron liess nicht ab von seinem Motto: Augen zu und durch.
Zunehmende Spannungen
Doch bereits seit geraumer Zeit und endgültig seit dem 16. März, als der Präsident darauf bestanden hat, im Parlament den Verfassungsartikel 49.3 anzuwenden und sein Gesetz damit ohne weitere Parlamentsdebatte und vor allem ohne jede Abstimmung in der Nationalversammlung durchzusetzen, geht es bei den Protesten längst nicht mehr nur um die Rentenreform. Seit fast zwei Wochen häufen sich spontane Aktionen im ganzen Land, werden Treibstoffdepots und Raffinerien, See- und Flusshäfen weiter blockiert und nach 24 Tagen fahren immer noch nur rund 80 Prozent der Züge. Die Wahlkreisbüros von Abgeordneten der Macron-Partei werden gestürmt, ja die Eingänge zu ihren Privathäusern vermauert.
Diese Proteste, ja inzwischen die Wut, richten sich erneut, wie schon in den langen Monaten der teils sehr gewalttätigen Gelbwestenbewegung 2018/19, ganz direkt gegen den Präsidenten und seine verächtlichen, geringschätzenden, ja provokativen Attitüden, die hypervertikale Art seiner Machtausübung, an der er auch – trotz gegenteiliger Versprechen und grosser Worte – absolut nichts geändert hat, seitdem er im Juni letzten Jahres bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verloren hat.
Dabei war die Botschaft der Franzosen im April und Juni 2022 denkbar einfach und klar: Ja, wir haben dich bei den Präsidentschaftswahlen wiedergewählt, hauptsächlich weil wir die rechtsextreme Marine Le Pen nicht im Elysée sehen wollten, aber wir haben dir bei den Parlamentswahlen keinen Freifahrschein ausgestellt, indem wir deiner Partei, gemeinsam mit zwei Partnerparteien, keine absolute Mehrheit erteilt haben. Punkt.
Emmanuel Macron hindert das seitdem nicht im Geringsten, so zu tun, als wäre im Grunde nichts geschehen und als hätte er die absolute Mehrheit seiner ersten Amtszeit immer noch.
Provokateur und Brandstifter
Fünf Monate lang hatte sich der Präsident nicht mehr per Fernsehansprache oder Interview an seine Mitbürger gewandt. Ein ungewohnt langes Schweigen des Vielredners Macron, just in der Zeit, in der diese umstrittene Rentenreform auf den Weg gebracht wurde. Er hat in jenen Monaten gehandelt, als müsse er sich für nichts rechtfertigen und als seien Frankreichs Gewerkschaften eine Quantité négligeable, die man im Herbst 2022 zwar mehrmals empfangen hat, für die Kommunikation und die Fernsehbilder, um so zu tun, als ob, mit denen man im Grunde aber nie wirklich verhandelt hat.
Nun, am Tag nachdem er das Rentengesetz ohne Abstimmung durchs Parlament gepeitscht hatte, meldete sich der Präsident wieder einmal und gab den zwei grossen Fernsehanstalten ein Interview in den Mittagsnachrichten um 13 Uhr, die vor allem von Rentnern geschaut werden, während der Grossteil der aktiven Bevölkerung zu der Zeit eben arbeitet.
Wer gedacht hatte, Emmanuel Macron würde sich versöhnlich zeigen und leisetreten, hatte sich gründlich getäuscht.
Schon am Vorabend, nachdem das Durchboxen des Gesetzes ohne Abstimmung im Parlament, im Land für einen Aufschrei gesorgt hatte, liess er aus dem Elysée durchsickern: «Die Menge hat keine Legitimität gegenüber der Bevölkerung, welche sich via der Stimmen ihrer Abgeordneten Ausdruck verschafft.» Nichts weniger als eine Provokation, angesichts der Tatsache, dass er sich eben nicht mal sicher sein konnte, eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich zu haben und gerade deswegen eine Abstimmung im Parlament umging.
Den Gewerkschaften warf er vor, keine Alternativlösungen für eine Rentenreform angeboten zu haben. Ein Affront, angesichts der Tatsache, wie die Proforma-Verhandlungen im Herbst letzten Jahres verlaufen sind: ein Präsident, der wortreich erklärte, wo es langgehen wird und die Gewerkschaften, die kaum zu Wort kamen und ins Leere redeten. Am Ende gingen sie nur noch in den Elysée, um nicht unhöflich zu sein.
Und schliesslich sprach der Präsident im Zusammenhang mit den Millionen von Demonstranten der vergangenen Wochen von Aufrührern und schreckte nicht davor zurück, sie in die Nähe von Trump- oder Bolsonaro-Anhängern zu rücken, die die Parlamente ihrer Länder gewaltsam gestürmt hatten.
Dementsprechend orteten die Gewerkschaften in Macrons Äusserungen unisono in erster Linie Lügen und eine gute Portion Verachtung.
Der Präsident jedenfalls hatte mit seinen Äusserungen in der Tat kräftig Öl ins Feuer gegossen, dabei nochmals diejenigen bestärkt, die sein Vorgehen schlicht als brutal und autoritär bezeichnen und vor allem nichts gegen das getan, wovon ihn die Gewerkschaften schon seit Wochen gewarnt haben: vor einer zusehends explosiven Stimmung im Land. Der Präsident, der ein Land und seine Bevölkerung zusammenhalten soll, hat bislang absolut nichts zur Befriedung beigetragen, ja im Gegenteil, er hat eher eine Lunte gelegt, vor allem durch die Art und Weise, wie er in den letzten Tagen den Gegnern seiner Reform gleich mehrmals die kalte Schulter gezeigt hat.
Kritik an der Polizeigewalt
Seit das Reformgesetz am 16. März ohne Abstimmung und mit der Brechstange durchs Parlament gebracht wurde, hat die Gewalt im Land, sowohl bei spontanen Aktionen als auch bei den Grossdemonstrationen deutlich zu genommen. Gewiss, hier und dort sind die «Black Blocs» wieder aufgetaucht und auch Schüler und Studenten, die sich zunehmend der Bewegung angeschlossen haben, sind schwerer zu kanalisieren .
Aber was Frankreich in den letzten zwei Wochen an brutaler Polizeigewalt erlebt hat, deren Ausmass erst nach und nach bekannt wird, ist eines demokratischen Rechtsstaates nicht würdig. Von höchster Stelle wird in Frankreich eine Strategie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung abgesegnet, wie man sie kaum in einem anderen europäischen Land akzeptieren würde. Die Ordnungskräfte, unter denen die Gendarmen den im Grunde schönen Beinamen «Gardiens de la Paix» tragen, setzen inzwischen wieder eine Motorradtruppe ein, die nichts anderes tut, als Angst einzuflössen, zu verfolgen und zu knüppeln, einem Demonstranten am Boden sind die gar über die Beine gefahren. Ausserdem praktizieren sie neuerdings am Ende der Demonstrationen regelmässig die Methode der Einkesselung der letzten Verbliebenen, was ganz besonders martialisch wirkt. Und sie sind mit Granaten ausgestattet, die in anderen europäischen Ländern verboten und als Kriegswaffen katalogisiert sind. Inzwischen gibt es dutzende Videoaufnahmen oder Tonaufzeichnungen von absolut unakzeptabler Gewaltanwendung, Einschüchterungen und Erniedrigungen von Demonstranten durch die quasi militärisch ausgerüsteten Einsatztruppen .
Präsident Macron schweigt und sein Innenminister leugnet die Polizeigewalt ganz einfach. Die Strategie scheint ebenso klar wie klassisch: Wir, Präsident und Regierung, sind die Partei der Ordnung, unsere Gegner und Kritiker die Chaoten und Aufrührer. Und die Linkspartei von Jean Luc Melenchon beschuldigen wir, die Gewalt bei Demonstrationen durch ihre öffentlichen Äusserungen bewusst anzustacheln.
Frankreichs Präsidenten ist dabei völlig egal, dass mittlerweile bereits die UNO und der Europarat, sowie nationale und internationale Menschenrechtsligen oder Amnesty International , ja sogar die Ombudsfrau im eigenen Land, die für die Einhaltung der Rechte der einzelnen Bürger zuständig ist, mit deutlichen Worten den unverhältnismässigen Einsatz von Polizeigewalt im Lauf der letzten zwei Wochen verurteilt haben.
Der Gipfel
Am vergangenen Wochenende haben über 3000 Gendarmen und Bereitschaftspolizisten die Unverhältnismässigkeit der Gewaltanwendung seitens der Ordnungskräfte dem ganzen Land vor Augen geführt .
Eine Demonstration von rund 15’000 Umweltschützern, Alternativen und Grünen gegen den Bau eines riesigen Rückhaltebeckens für 400 Grossbauern in Westfrankreich, das aus dem Grundwasser gefüllt werden soll, geriet zum Fiasko.
Die Demonstranten zogen über Wiesen und Felder Richtung Rückhaltebecken, im Grunde ein grosses Loch im weiten Land. Natürlich gab es Scharmützel, aber dann erschienen 200 Quads – vierrädrige Geländemotoräder, die für Panik sorgten und deren Beifahrer Granaten – insgesamt wurden in nur zwei Stunden 4’000 verballert – in Richtung der Demonstranten abfeuerten. Am Ende gab es unter den Demonstranten 200 Verletzte, drei davon sehr schwer, einer schwebt mit einem Schädelbruch immer noch zwischen Leben und Tod.
Seitdem und angesichts der Strategie und der Härte der Polizeieinsätze fragen sich viele, wann es bei einer der nächsten Demonstrationen oder Spontanaktionen den ersten Toten geben wird .
Kein Ausweg aus der Krise?
Laurent Berger, Chef der grössten französischen Gewerkschaft CFDT, hatte angesichts zunehmender Gewalt in den letzten zehn Tagen am letzten Freitag die Regierung und den Präsidenten aufgefordert, die Pausetaste zu drücken, sich sechs Monate Zeit zu nehmen, um alles nochmal auf den Tisch zu legen und zu einer Lösung zu kommen, die der extremen Spannung im Land ein Ende bereitet.
Die Antwort aus dem Elysée war ein klares Njet, schliesslich habe der Präsident doch gesagt, die Reform werde weiter ihren «demokratischen Weg» gehen und werde am Ende des Jahres in Kraft treten.
Am Tag darauf formulierte der Chef der anderen grossen Gewerkschaft, CGT, Philippe Martinez, den Gedanken, der Präsident möge doch einen, zwei oder drei Vermittler ernennen, um einen Ausweg aus der Situation zu finden. Die Antwort kam postwendend: Man brauche keine Vermittler, um miteinander zu reden.
Das Problem dabei: in den Ohren der Gewerkschaften klingt das wie purer Hohn. Denn seit bald zweieinhalb Monaten, seit die Reform, nach mehrmaliger Verschiebung des Termins, am 10. Januar vorgestellt worden war, haben sich sowohl der Präsident als auch die Premierministerin, Elisabeth Borne, strikt geweigert, die Gewerkschaften zu empfangen.
Auch als Letztere am 8. März einen offenen Brief an Emmanuel Macron gerichtet hatten und dringend um eine Unterredung ansuchten aus Sorge um die zusehends explosivere Lage und die Radikalisierung der Proteste im Land, erhielten sie – erst 48 Stunden später – einen weiteren, ablehnenden Bescheid.
CGT Chef Martinez erwiderte, der Elysée habe den Arbeitnehmervertretern damit signalisiert, sie sollten gefälligst schauen, wo sie herkommen und habe ihnen und der gesamten sozialen Bewegung den Stinkefinger gezeigt.
Gestern, nach dem zehnten landesweiten Aktionstag, hat Premierministerin Borne dann doch für Anfang nächster Woche eine Einladung an die acht Gewerkschaften ausgesprochen. Unklar bleibt, ob sie bereit ist, wirklich über das Reformgesetz und die Anhebung des Renteneintrittsalters zu diskutieren. Noch in der Nacht stellten die Gewerkschaften klar, dass, falls nicht, sie in diesem Fall das Treffen sofort wieder verlassen würden.
Macron steht allein
Emmanuel Macron ist im Grunde, spätestens seit knapp zwei Wochen, seit seinem desaströsen Fernsehinterview am Tag nach der Anwendung des Paragraphen 49.3 in der Nationalversammlung, unendlich einsam in seinem Amtssitz in der Rue Sainte Honoré. Nur die Regierungschefin und einige wenige Minister scheinen ihm in seiner unnachgiebigen Haltung noch zu folgen.
Andere Minister und ein Gutteil der Parlamentsabgeordneten seiner Partei sind auf Tauchstation gegangen, manche geben zu verstehen, dass sie die Unnachgiebigkeit des Staatsoberhaupts nicht mehr verstehen und mittragen, wenige sagen es inzwischen auch öffentlich. Kaum jemand in Macrons Umgebung scheint momentan noch zu wissen oder sagen zu können, wohin der Präsident steuert, wohin er das Land führen möchte und wie er gedenkt, aus dieser verfahrenen und blockierten Situation wieder herauszukommen.
Abgesang
So mancher, selbst aus seinem eigenen Lager, atmet derzeit tief durch bei dem Gedanken, dass der Staatspräsident nach dieser Krise ja noch vier lange Jahre zu absolvieren haben wird. Denn kaum jemand kann sich bei der derzeitigen Stimmung im Land vorstellen, wie Macron diese Zeit über die Bühne bringen wird und was der angeschlagene Hausherr im Elysée eigentlich noch wird bewegen können.
Denn wie jeder französische Präsident will auch Macron aus seinen zwei Amtszeiten etwas für die Geschichte zurücklassen. Die Rentenreform hat er seit seiner Wiederwahl zum zentralen Thema seiner zweiten Amtszeit erklärt. Aktuell steht er damit aber, mehr oder weniger, vor einem Scherbenhaufen und wird eher als derjenige in die Geschichte der Präsidenten der 5. Republik eingehen, dem die zwei grössten und längsten sozialen Unruhen seit Mai 68 um die Ohren geflogen sind. Erst die Gelbwesten, deren Bewegung und Bedeutung Macron offensichtlich nicht wirklich verstanden hat, sonst hätte er sich nicht erneut in eine ähnliche Situation gebracht, und nun der Aufstand gegen seine Rentenreform. Eine etwas magere Ausbeute.
Und, vielleicht noch tragischer: Macron, der selbsternannte Jupiter, könnte als der Präsident in Erinnerung bleiben, unter dessen Regentschaft, wenn nicht alles täuscht, die Franzosen signalisiert haben, dass sie von ihrem überkommenen System mit dem wahrlich allmächtigen Präsidenten an der Spitze des Staates genug haben und sich eine weniger angestaubte Form der Demokratie wünschen, in der Alleingänge des Präsidenten in der jetzt erlebten Form nicht mehr möglich wären.