In diesen Tagen gilt das Augenmerk dem Gipfel der Nato in Madrid. Auf viel weniger Interesse stösst eine in Lissabon abgehaltene Konferenz der Uno über ein oft ausgeblendetes Thema von globaler Bedeutung – der Schutz der Ozeane und ihre nachhaltige Nutzung.
«Die Ozeane – ein Erbe für die Zukunft» lautete vor 24 Jahren das Thema von Lissabons Weltausstellung «Expo ’98». Just 1998 hatten die Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr des Ozeans erklärt, also zum Jahr eines Ökosystems, das immerhin 71 Prozent der Erdoberfläche einnimmt. Auf dem früheren damaligen Expo-Gelände befassen sich in dieser Woche (27. Juni bis 1. Juli) rund 7000 Frauen und Männer aus 143 Ländern bei der «Ocean Conference» der Uno wieder mit dem Schutz des Ozeans, unter anderem also mit Verschmutzung, Versäuerung, und Überfischerei, aber auch mit nachhaltiger «blauer Ökonomie». Als ein Ausgangspunkt bleibt indes die ernüchternde Feststellung, wie wenig in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, obwohl alle Gefahren bekannt sind.
Der Schutz des Meeres, eine Utopie?
Bei einem internationalen Treffen junger Leute am Tag vor Beginn der Konferenz bat Uno-Generalsekretär António Guterres – der im Expo-Jahr 1998 die Regierung in Portugal geführt hatte – um Entschuldigung bei der Generation, die «einen Planeten mit Problemen erben» werde. Und noch immer verschlechtere sich der Zustand der Meere, sagte er zum Auftakt der grossen Konferenz in der «Altice Arena», die im Expo-Jahr noch «Pavillon der Utopie» hiess. Zu sehen gab es da Inszenierungen von Legenden und Mythen rund um das Meer. In diesen Tagen geht es in dieser grössten Konzerthalle des Landes nun um Ideen und Projekte, die keine Utopie bleiben sollen. Immerhin betrifft auch das 14. von 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der Uno definiert wurden, «das Leben unter Wasser».
Portugal firmiert gemeinsam mit Kenia als Gastgeber dieser zweiten Uno-Konferenz über die Ozeane (nach einer ersten Konferenz in New York im Jahr 2017). Sie kann keine bindenden Beschlüsse fassen, soll jedoch Impulse geben. Mit von der Partie sind immerhin rund 25 Staats- und Regierungschefs wie auch zahlreiche Ministerinnen und Minister, dazu fast 1200 Nichtregierungsorganisationen, gut 400 Unternehmen – unter ihnen internationale Riesen wie auch Startups –, rund 150 Universitäten sowie nationale und internationale Agenturen. Als Uno-Mitglied ist auch Russland durch einen Gesandten vertreten. Am Ende soll eine «Erklärung von Lissabon» stehen, und die Veranstalter hoffen auf freiwillige Selbstverpflichtungen von Regierungen und Unternehmen.
Bedrohte Biodiversität und viel Plastik
Eine wenigstens verbale Einigkeit herrscht darüber, dass weder die Covid-Pandemie noch der Krieg in der Ukraine das Wegschauen rechtfertigen können. Immerhin, so verlautet aus diversen Quellen, erzeugt der Ozean 50 Prozent des Sauerstoffs, den die Menschheit atmet, und 14 Prozent ihrer Nahrung; er absorbiert ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen und weist eine hohe Biodiversität auf. Aber die Ozeane sind «krank», diagnostiziert Portugals Minister für Wirtschaft und Meer, António Costa Silva, mit dem Hinweis auf die Erwärmung der Meere, die schmelzenden Pole, den Verlust an Sauerstoff und jährlich 11 Millionen Tonnen an Plastikmüll, die irgendwie im Ozean landen.
Zur Diskussion stehen Massnahmen gegen die illegale Fischerei wie auch die Nutzung der Meere für die Aquakultur oder die Gewinnung neuartiger Nahrungsmittel aus Algen, die Nutzung von Mineralien, die unter dem Meeresboden lagern, und die Erzeugung von «sauberer» Elektrizität. Ein erklärtes Ziel ist, dass bis 2030 ein Anteil von 30 Prozent der Ozeane zu geschützten Zonen («marine protected areas») gehören soll, gegenüber 7,5 Prozent im Jahr 2019 und gar nur 0,7 Prozent im Jahr 2000. Irgendetwas bewegt sich also doch.
Wie das Meer in Portugal aus der Mode kam
Für Portugal ist diese Konferenz natürlich ein grosser Auftritt, fühlt sich die Nation der Entdecker und Seefahrer doch durch ihre Geschichte dazu berufen, sich für den Schutz der Ozeane stark zu machen. Aus Portugal kamen hierfür immer wieder Rufe und Impulse. Mit der Nutzung des Potenzials, das die Meere bieten, tut sich das Land aber schwer.
Just auf dem Meer hatten grosse Seefahrer wie Vasco da Gama, der 1448 den Seeweg nach Indien entdeckte, dem Land zu Ruhm verholfen. Portugal war Europas erste und letzte grosse Kolonialmacht. Um ihre Besitzungen in Afrika zu halten, verwickelte der faschistoide Diktator Salazar das Land in die aussichtslosen Kriege der Jahre 1961–74. Nach dem Sturz der Diktatur im Jahr 1974 entliess das Land seine Kolonien in die Unabhängigkeit, und da kam auch der Blick auf das Meer aus der Mode.
«Zurück auf das Meer»
Schon bald begannen Niedergänge von traditionellen Branchen, die mit dem Meer verbunden waren, vom Schiffbau bis zur Fischerei. Längst passé ist die Zeit, da die Söhne von Fischern ebenfalls ihr Auskommen auf dem Meer verdienten. Seit dem Ende des Fanges von Kabeljau durch heimische Schiffe kommt der so begehrte Stockfisch zum Grossteil aus Norwegen. In so manchen traditionsreichen Fischerorten stechen die Surfer mittlerweile mehr ins Auge als die Fischer und ihre Frauen.
Die Regierung von António Guterres nahm sich eine «Rückkehr auf das Meer» vor. Zur Verabschiedung eines entsprechenden Programms tagte das Kabinett an einem sonnigen Tag im Frühling des Expo-Jahres 1998 auf einer Fregatte, die zu einer kleinen Tour in See stach, mit Medienleuten an Bord. Noch auf See erklärten Kabinettsmitglieder, was sich im Verhältnis des Landes zum Meer alles ändern sollte. Unter Leitung von Mário Soares, dem Staatspräsidenten der Jahre 1986–96, erarbeitete eine unabhängige Kommission von Fachleuten derweil einen Bericht «Save the Ocean – our Future», den sie im Sommer 1998 der Uno zuleitete. Sie unterbreitete darin konkrete Vorschläge für eine bessere internationale Kooperation für den Schutz und das Management der Meere. Zu den gut 40 Mitgliedern der Kommission, die aus 35 Ländern kamen, gehörte aus der Schweiz der Völkerrechtler Lucius Caflisch.
Das Meer als «Wüste»
Im Frühjahr 2004 führte José Manuel Durão Barroso, der spätere Präsident der EU-Kommission, die Regierung, als in Portugal eine «strategische Kommission» für die Ozeane ihren mehr als 300-seitigen Abschlussbericht vorstellte. Wer ihn las, musste sich an den Kopf fassen und sich fragen, wie Portugal das feuchte Element so sehr vernachlässigen konnte. Immerhin zählt die exklusive Wirtschaftszone des Landes – dazu gehören das Meer vor der Küste des portugiesischen Festlandes und um die Inselregionen Azoren und Madeira zu den grössten von Europa. Mit 1,6 Millionen Quadratkilometern ist sie 17-mal so gross wie das Staatsgebiet.
Portugal will jetzt zwar noch mehr Meeresgrund beanspruchen. Über die 200-Meilen-Grenze der exklusiven Wirtschaftszone hinaus will das Land seinen «Kontinentalsockel» («continental shelf») auf bis zu 350 Seemeilen erweitern, womit dessen Fläche auf mehr als 4 Millionen Quadratkilometer wachsen würde. Im Jahr 2017 reichte das Land bei den Vereinten Nationen einen entsprechenden Antrag ein. Unter portugiesische Kontrolle käme damit nicht das Meer jenseits der 200-Meilen-Grenze, wohl aber der entsprechende Boden mit den darunter lagernden Schätzen.
Mit der Nutzung des Meeres tut sich das Land aber schwer. «Unser Meer ist eine Wüste» überschrieb die Tageszeitung «Público» 2017 einen Kommentar zu diesem Thema. Wie der Minister für Wirtschaft und Meer kürzlich sagte, trägt die Nutzung des Meeres 5,1 Prozent zum Bruttoinlandprodukt des Landes bei – also nicht gerade viel.
Der Krieg als Chance?
Nachdem die Handelsflotte enorm geschrumpft ist, wirbt das Land wenigstens für seine Seehäfen, besonders für den von Sines, rund 150 Kilometer von Lissabon, als Umschlagplätze. Sines eroberte gar schon einen Platz unter den 100 grössten Güterhäfen der Welt und unter den 20 grössten in Europa, obwohl die Bahnverbindungen für den Gütertransport nach Spanien zu wünschen übrig lassen. Portugal hatte Sines schon vor dem Krieg in der Ukraine als Umschlagplatz (für «transshipment», das Umladen von grösseren auf kleinere Schiffe) für Flüssiggas aus anderen Ländern ins Gespräch gebracht. Und nun, da Länder in Mitteleuropa nach Ersatz für russisches Erdgas suchen, böte sich für Portugal womöglich eine Chance.