„Der schwärzeste Tag der Justiz“ lautete am Samstag die Schlagzeile der portugiesischen Wochenzeitung „Sol“. Nicht zum ersten Mal war der 9. April in der Landesgeschichte ein düsterer Tag gewesen. An diesem Tag im fernen Jahr 1918 hatten die portugiesischen Streitkräfte, die im Ersten Weltkrieg auf alliierter Seite kämpften, in Flandern traumatisierende Verluste verzeichnet. 103 Jahre danach hat das Vertrauen in die Justiz einen empfindlichen Schlag erlitten. Viele Menschen im Land wissen dabei noch nicht richtig, gegen wen sich ihre Fassungslosigkeit richten soll. Gab es viel Lärm um nichts oder kann sich ein Gauner die Hände reiben?
Der Prinz und die Pandemie waren zweitrangig
Der Tod des britischen Prince Philip ging am Freitagnachmittag in den portugiesischen Medien fast unter, und für einen Tag erschien sogar die Covid-19-Pandemie fast vergessen. In den Abendnachrichten drehte sich fast alles um das bisher spektakulärste Strafverfahren wegen mutmasslicher Korruption in der Landesgeschichte. Seit Freitag geht es in der sogenannten „Operação Marquês“ aber nur noch um kleinere Delikte und eben nicht mehr um die Korruption. Nach Sócrates’ Vorverurteilung durch die öffentliche Meinung schwand damit die Hoffnung auf einen Schauprozess mit exemplarischer Strafe.
Die Hauptfigur in dem Verfahren ist kein geringerer als der sozialistische Regierungschef der Jahre 2005-2011, José Sócrates Pinto de Sousa, jetzt 63 Jahre alt, der sich gern philosophisch gibt und seinen zweiten Vornamen wie einen Nachnamen verwendet. Enorm war der Wirbel, als er am Abend des 21. November 2014 am Flughafen von Lissabon bei der Rückkehr aus Paris verhaftet wurde. Mehr als neun Monate sollte er in Untersuchungshaft verbringen. Im Oktober 2017 erhob die Staatsanwaltschaft endlich Anklage gegen ihn sowie 18 weitere natürliche Personen und 9 Unternehmen, unter anderem wegen Korruption, Geldwäsche, Steuerbetrug und der Fälschung von Dokumenten.
Anklage mit „Spekulationen“ und „Fantasien“?
Unter den Angeklagten war unter anderem auch der jetzt 76-jährige Ricardo Salgado, der als „DDT“ (dono disto tudo – Herr über dies alles) bekannte Chef der im Jahr 2014 kollabierten Gruppe Espírito Santo, zu der Portugals damals zweitgrösste private Bank gehörte (Banco Espírito Santo). Diese Gruppe war auch Grossaktionärin der Portugal Telecom, die ebenfalls mit den früheren Spitzenmanagern Henrique Granadeiro und Zeinal Bava in der Liste der Angeklagten vertreten war.
Ein Grossteil der rund 4000 Seiten langen Anklage basierte allerdings auf „Spekulationen“ und „Fantasien“, urteilte am Freitag der Ermittlungsrichter Ivo Rosa, der fast dreieinhalb Stunden lang das Ergebnis der sogenannten „instrução“ resümierte. Es handelt sich dabei um ein im portugiesischen Strafprozessrecht vorgesehenes Verfahren, das nur auf Verlangen von Angeklagten hin stattfindet. Es gibt ihnen die Möglichkeit, die Anklage richterlich auf ihre Stichhaltigkeit prüfen zu lassen. Es liegt in der Hand des Ermittlungsrichters, die Anklage abzuschwächen oder ganz fallen zu lassen, so dass sich die Hauptverhandlung erübrigt.
Ermittlungsrichter Rosa hat die ursprüngliche Anklage geradezu verrissen und dabei die Zahl der Angeklagten von 28 auf 5 reduziert. Ihnen werden insgesamt nur noch 17 Delikte zur Last gelegt. Von Korruption ist nun gar keine Rede mehr. Viele andere Delikte waren nach Ansicht des Richters entweder nicht bewiesen oder verjährt. So sinkt die Zahl der Delikte, die Sócrates begangen haben soll, von 31 auf 6, wobei es jeweils dreimal um Geldwäsche und Dokumentenfälschung geht.
Ein Verfahren mit überraschender Breite
Sócrates hatte bis 2011 die Regierung geführt. Nachdem Portugal an den Finanzmärkten unter unerträglichen Druck geraten war, hatte er im April jenes Jahres die internationale „Troika“ auf den Plan gerufen und mit ihr, als Bedingung für einen Notkredit, ein schmerzhaftes Anpassungsprogramm ausgehandelt. Seine Sozialisten mussten nach einer Wahlniederlage im Juni 2011 aber in die Opposition wechseln. Sócrates begann ein Studium der „Sciences Po“ an der Sorbonne in Paris.
Der sportliche Strahlemann mit einer Vorliebe für Markenanzüge lebte überwiegend in der Seine-Metropole, als im Jahr 2013 die Ermittlungen gegen ihn begannen. Auslöser waren verdächtige Bewegungen auf seinem Bankkonto, die das Geldinstitut den Behörden meldete. Als die Polizei ihn im November 2014 festnahm, war die Breite des Verfahrens dabei noch gar nicht absehbar. Im Blickfeld standen zunächst Sócrates’ Kontakte zur portugiesischen Baugruppe Lena und der Verdacht, dass er diese begünstigt habe. Als Freund hatte er einen Manager dieser Gruppe, der laut Anklage von 2017 als Strohmann gedient und für Sócrates bestimmte Zahlungen empfangen hatte. Als verdächtig galt auch Sócrates’ aufwendiger Lebensstil in der Seine-Metropole. Er lebte in einem luxuriösen Appartement, das fast drei Millionen Euro gekostet hatte. Offiziell gehörte es seinem Freund. Als wahren Eigner vermuteten die Ermittler aber Sócrates.
Dann aber weitete sich die Affäre aus. Vor allem in zwei Situationen, so die Anklage, soll Sócrates im Interesse der Gruppe Espírito Santo bei Portugal Telecom interveniert haben, unter anderem 2006/7 bei der Abwehr einer milliardenschweren feindlichen Übernahmeofferte. Und bald kreuzte sich die Affäre um Sócrates mit jener um den Kollaps der Gruppe Espírito Santo im Sommer 2014.
Sind schmutzige Gelder steuerfrei?
Insgesamt, so glaubte die Staatsanwaltschaft, seien mehr als 24 Millionen Euro zugunsten von Sócrates auf Konten in der Schweiz eingezahlt worden, und zwar von Espírito Santo, von der Baugruppe Lena und von den Betreibern einer Luxus-Ferienanlage in der Südregion Algarve. Unter Anklage steht neben Sócrates unter anderem immer noch der frühere Bankier Salgado, aber nicht mehr wegen Korruption. Zwar fand der Ermittlungsrichter, dass Zahlungen in Millionenhöhe von Salgado an andere Beschuldigte „obskure Konturen“ aufwiesen. Er sah aber keine Beweise für Korruption. So soll Salgado in diesem Verfahren nur noch wegen Untreue auf die Anklagebank (der Kollaps des Banco Espírito Santo ist Gegenstand eines anderen Verfahrens). Die zwei Ex-Manager der Portugal Telecom sind nicht mehr angeklagt.
Damit ist nicht gesagt, dass es keine Korruption gab. Immerhin sprach der Ermittlungsrichter noch von einer Zahlung der Baugruppe Lena in Höhe von 1,7 Millionen Euro an Sócrates. Allfällige Delikte, so der Richter, seien aber verjährt. Steuerbetrug könne Sócrates nicht angelastet werden, fand der Richter, denn Geld aus illegalen Geschäften könne man nun einmal nicht deklarieren – eine Rechtsauffassung, die Finanzexperten seltsam finden.
Erst hohe Erwartungen – und dann viel Frust
Die Erwartungen in der Gesellschaft an dieses Verfahren waren hoch. Über Jahre schien es so, als sei die Korruption ein Kavaliersdelikt, gegen das die Justiz ohnehin nichts ausrichten könne. In den letzten Jahren hatten die Ermittlungsbehörden derweil einige neue Zeichen gesetzt und dabei auch Hoffnungen geweckt. Ein persönlicher Freund von Sócrates, der auch jetzt mit angeklagt war, wurde in einem anderen Verfahren rechtskräftig verurteilt und musste ins Gefängnis.
Vielleicht, so mutmassen Juristen, habe die Anklage tatsächlich hier und da auf wackeligen Füssen gestanden. Wie bei spektakulären Verfahren fast üblich, sickerten während der Ermittlungen laufend vertrauliche Details an die Medien durch – wohl nicht zuletzt mit dem Ergebnis, dass die Justiz unter den „Druck der Strasse“ geriet. Vielleicht, ist zu hören, habe auch ein Hauch von Übermut die Ermittler gepackt. Kommentatoren finden aber auch, dass Richter Rosa in manchen Situationen das Gesetz etwas zu grosszügig zugunsten der Angeklagten ausgelegt haben könnte.
Hilflos gegen die Korruption?
War die mehrjährige Arbeit von Staatsanwälten in dieser Sache also für die Katz? Sollte der jüngste Richterspruch das letzte Wort in dieser Sache sein, so werde in Portugal niemals auch nur eine einzige Person wegen Korruptionsdelikten verurteilt werden, meinte Manuel Carvalho, Chefredaktor der Tageszeitung „Público“.
Endgültig ist der Spruch des Ermittlungsrichters allerdings nicht. Schon am Freitag kündigte die Staatsanwaltschaft an, dass sie in Berufung gehen werde. Kommentatoren hoben hervor, dass Entscheidungen von Richter Rosa wiederholt nicht das letzte Wort gewesen seien. Weil die Mühlen der Justiz in Portugal langsam mahlen, dürften noch etliche Jahre vergehen, bis in dieser Sache ein rechtskräftiges Urteil vorliegt.
War alles nur „politisch motiviert“?
Sócrates, der stets seine Unschuld beteuert hatte, riskiert auch mit der stark geschrumpften Anklage eine lange Haftstrafe. Nach dem Richterspruch am Freitag äusserte er sich vor den Fernsehkameras aber wie ein Sieger. Er sprach von „Lügen“ und einer Anklage, die total kollabiert sei. Von Anfang an sei dieses Verfahren „politisch motiviert“ gewesen. Sócrates gab keine klare Antwort auf die Frage, ob er an ein politisches Comeback denke – womit er dieses nicht ausschloss.
Er stünde dabei wohl nicht allein. Er hatte sich von seiner Partei, dem Partido Socialista (PS), zwar im Stich gelassen gefühlt. Politik sei Politik und Justiz sei Justiz, hatte der jetzige Generalsekretär und Regierungschef, António Costa, nach Sócrates’ Festnahme 2014 erklärt. Sócrates trat später aus der Partei aus. In den sozialen Netzwerken gab es in den letzten Tagen aber Kommentare von Personen, die den Richterspruch korrekt fanden und nach Konsequenzen in der Justiz riefen.
Unvergessen ist auch, was Sócrates in der Politik mit in Bewegung gebracht hat. Er hatte vor rund 20 Jahren, damals als beigeordneter Minister von Regierungschef António Guterres, einen wichtigen Anteil an der Entkriminalisierung des Drogenkonsums, mit der Portugal international ein Beispiel gab. Mit Sócrates als Spitzenkandidat errangen die Sozialisten 2005 zum bisher einzigen Mal eine absolute Mehrheit im Parlament. In seine Regierungszeit fielen unter anderem die Einführung der Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch und die Zulassung der Homo-Ehe – aber eben auch ein finanzielles Desaster.
Ein Justizopfer wie Lula?
Als Ministerpräsident verwarf just Sócrates zudem vehement die auch von manchen Genossen vorgeschlagene Schaffung eines Straftatbestandes der ungerechtfertigten Bereicherung als Handhabe gegen die Korruption. Wer auf unerklärliche Art reich würde, sähe sich mit einer Umkehrung der Beweislast konfrontiert und müsste den legitimen Ursprung des Geldes oder der Güter nachweisen. Gerade die Sozialisten tun sich mit dieser Idee bis heute schwer.
Am Sonntag berichteten die Medien derweil über ein Buch von Sócrates über dieses Verfahren, das in den nächsten Tagen erscheinen soll. Wie schon bekannt wurde, vergleicht sich Sócrates darin mit dem früheren brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, der ungerechtfertigt verurteilt und inhaftiert worden war. Und er bezeichnet den jetzigen PS-Chef und Ministerpräsidenten, António Costa, als „Verräter“. „Só agora começou“ – Es hat erst angefangen – lautet der Titel des Buches. Und wenigstens das dürfte niemand bestreiten.