In Portugal, wo die Politik oft beim Mittag- oder Abendessen ausgekocht wird, setzte sich Jorge Sampaio gern auch mit einfachen Leuten an einen Tisch, auch ohne Fernsehkameras. Zu einem seiner letzten Mittagessen als Staatspräsident der Jahre 1996–2006 lud er zwei junge Frauen ein, die er 1998 beim Besuch in einem abgelegenen Dorf kennengelernt hatte. Seit dem Ende der Grundschule arbeiteten die damals zehnjährigen Zwillinge im landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern, die sich den Transport zur weiterführenden Schule nicht leisten konnten. Sampaio legte ein Wort für sie ein, also sorgte die Gemeinde für den Transport. Als Sampaio sie wieder traf, studierte eine von ihnen Jura, die andere machte eine Ausbildung zur Radiologin.
Besser Fussball spielen als über Schiedsrichter klagen
Sampaio war ein linker Sozialist, der aber ohne ideologische Scheuklappen ganz pragmatisch auf Tuchfühlung mit der Realität ging, ohne Probleme auszublenden oder rosarot zu malen. Er sprach selten Machtworte, wohl aber Klartext und bekannte sich als Optimist, der Probleme angehen wollte, anstatt nach Schuldigen zu suchen. Er war Fan des Fussballclubs Sporting Lissabon.
Bei einem Treffen des Autors dieser Zeilen mit Sampaio kam das Gespräch nebenbei auf diesen Club, der damals über widrige Entscheide von Schiedsrichtern klagte. Anstatt über Schiedsrichter zu klagen, müsse man besseren Fussball spielen, fand Sampaio. Mitmachen und dabei sein, erwiderte er nach gleicher Logik den EU-Skeptikern, die meinten, dass Portugal in der EU unweigerlich unter die Räder kommen werde.
Als Staatspräsident war er manchen Landsleuten zu lasch. In Portugal kann das Staatsoberhaupt etwa ein Veto gegen Parlamentsbeschlüsse einlegen, das Parlament vorzeitig auflösen und Neuwahlen anberaumen. Von seinen institutionellen Vollmachten im semipräsidialen System machte er nur sparsam gebrauch. Er profilierte sich mehr als Mahner, der mitunter mehr Zweifel als Gewissheiten an den Tag legte, aber gerade das bekräftigte sein Image als ehrlicher und aufrichtiger Politiker. Sampaio war sehr viel diskreter als sein ebenfalls sozialistischer Amtsvorgänger Mário Soares (1924–2017), Präsident der Jahre 1986–96, der oft wie ein republikanischer Monarch auftrat und die „Bäder in der Menge“ genoss. Sampaio war aber sehr viel näher am Volk als sein Nachfolger der Jahre 1996–2006, der konservative Aníbal Cavaco Silva (*1939), dem seine bieder-spröde Art den Beinamen „a múmia“ (die Mumie) eintrug.
Ein Mann des Dialogs und der Toleranz
Sampaio gab sich, ganz gleich ob an der politischen Front oder in der zweiten Linie, stets als Mann des Dialogs und der Toleranz. 1939 in Lissabon als Sohn eines Arztes und einer Englischlehrerin mit jüdischen Vorfahren geboren, absolvierte er einen Teil seiner Schulbildung in England und in den USA. Er blickte damit schon früh über den Horizont der damaligen faschistoiden Salazar-Diktatur hinaus. Noch Jahre später sagte man ihm nach, dass er sich auf Englisch mitunter leichter ausdrücke als auf Portugiesisch. Ihm sei, so vermutete man, die Elite des eigenen Landes etwas zu provinziell.
Als Jurastudent handelte er sich im Jahr 1962 durch Aktivitäten gegen diese Diktatur gar eine kurze Inhaftierung ein, ehe er später als Anwalt politische Gegner des Regimes vor Gericht verteidigte. Nach dem Sturz der Diktatur durch die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 engagierte sich Sampaio zunächst bei einer kleinen linken Gruppe, ehe er zum heute regierenden Partido Socialista (PS) fand. Er brach 1989 ein Tabu, indem er in Lissabon auf lokaler Ebene ein Wahlbündnis von Sozialisten und Kommunisten schmiedete. Er zog als Bürgermeister ins Rathaus der Hauptstadt ein.
Es sollten 26 Jahre vergehen, bis sich der jetzige, seit 2015 amtierende PS-Regierungschef António Costa ebenfalls die Unterstützung weiter links angesiedelter Parteien sicherte, um eine Minderheitsregierung für das ganze Land bilden zu können. Sampaio selbst bewarb sich 1991 vergeblich für das Amt des Ministerpräsidenten. An die Spitze seiner Partei trat an seiner Stelle bald António Guterres, Regierungschef der Jahre 1995–2002 und seit 2016 Generalsekretär der Vereinten Nationen, der innerhalb der Partei für einen weniger linken Kurs stand.
Das Ende der Kolonialzeit besiegelt
In Sampaios Amtszeit als Präsident ging die portugiesische Kolonialzeit definitiv zu Ende. Im Spätsommer 1999 wollte er einen Staatsbesuch in der Schweiz nicht absagen, er verkürzte diesen aber wegen einer Welle brutaler indonesischer Gewalt in Portugals ehemaliger, 1976 von Indonesien annektierter Kolonie Osttimor, die 2002 die Unabhängigkeit erlangen sollte. Mit viel Fingerspitzengefühl trug Sampaio dazu bei, dass die Rückgabe des Fernost-Territoriums Macau an China im Dezember 1999 glatt über die Bühne ging.
In den Jahren 2002–2005 erlebte Portugal eine Kohabitation des linken Präsidenten mit einer bürgerlichen Regierung. Während Regierungschef Durão Barroso im März 2003 kurz vor dem „Azoren-Gipfel“ über die wenige Tage später erfolgte Invasion des Irak den Gastgeber spielte, stellte Sampaio klar, dass er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte die Endsendung von Truppen nicht erlauben werde. Portugal entsandte letztlich Gendarmen, die dem Innenministerium unterstehen.
Auf diskrete Art prinzipientreu
Sampaio war in der Innen- und Aussenpolitik ein Präsident gegen den Fatalismus. Er befürwortete auch die Aufnahme der Türkei in die EU, die kein „Klub von Christen“ sei. Im eigenen Land erhob Sampaio stets seine Stimme gegen Rassismus und Xenophobie. Portugal, sagte er, müsse Einwanderer so empfangen, wie die zahlreichen portugiesischen Emigranten in ihren Aufnahmeländern gern empfangen würden.
Er fand immer wieder Wege, auch in komplizierten Situationen auf diskrete Art seinen Prinzipien treu zu bleiben. 1997 verzichtete der Agnostiker – ohne dies an die grosse Glocke zu hängen – auf eine Audienz bei Papst Johannes Paul II, weil seine Frau vor der Tür hätte warten müssen. Weil Sampaio in zweiter Ehe verheiratet war, hatte diese aus päpstlicher Sicht keinen Bestand. Einige Jahre später gab sich derselbe Papst weniger päpstlich und empfing Sampaio mitsamt Gattin.
Im Jahr 2001 fand der Präsident eine elegante protokollarische Zwischenlösung, um sich in Lissabon mit dem Dalai Lama treffen zu können, ohne China übermässig zu erzürnen. Er empfing das spirituelle Oberhaupt der Tibetaner nicht etwa in seinem Amtssitz, dem Palácio de Belém, sondern führte den Dalai Lama ins Nationalmuseum für Alte Kunst mit seinen künstlerischen Zeugnissen von Begegnungen von europäischen und orientalischen Kulturen.
Bis zuletzt aktiv
Nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit im Jahr 2006 setzte sich Sampaio nicht zur Ruhe und wirkte auch bei den Vereinten Nationen. Im Jahr 2006 ernannte ihn Generalsekretär Kofi Annan zum Gesandten im Kampf gegen die Tuberkulose. Ban Ki-moon erkor ihn 2007 zusätzlich zum ersten Hohen Vertreter für die Allianz der Zivilisationen mit dem Auftrag, Initiativen für die Verständigung zu entwickeln.
Zuletzt stand er an der Spitze einer 2013 ins Leben gerufenen Globalen Allianz für syrische Studenten mit dem Ziel, diesen zu fachlichen Qualifikationen zu verhelfen und damit zur Mitwirkung am Wiederaufbau ihres Landes zu befähigen. Noch am 26. August veröffentlichte Sampaio in einer portugiesischen Tageszeitung einen Artikel über Pläne für die Bereitstellung ähnlicher Stipendien für junge Leute aus Afghanistan.
Das war der letzte öffentliche „Auftritt“ des Ex-Präsidenten, von dem bekannt war, dass er gesundheitlich angeschlagen war. Am nächsten Tag machten ihm während eines Urlaubs in der Südregion Algarve schwere Herz- und Atemprobleme zu schaffen. Er wurde daher in eine Klinik bei Lissabon geflogen. Er verstarb dort auf der Intensivstation. Sein Land ehrt ihn mit einer dreitätigen Staatstrauer.