Die roten Nelken galten dieses Jahr nicht nur den Soldaten, die damals eine marode Diktatur stürzten, sondern auch einem Konsul, der sich 1940 über Anweisungen hinwegsetzte und Tausenden von Verfolgten zur Flucht vor dem Nazi-Regime verhalf.
Frankreich im Juni 1940. Seit dem Einfall der Nazi-Wehrmacht haben sich unzählige Personen, unter ihnen etliche Juden wie auch politisch Verfolgte, auf die Flucht nach Süden begeben. Als ein halbwegs sicheres Ziel, oder als Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika, gilt das im Krieg neutrale Portugal. Aber ohne ein Visum für dieses Land ist schon an die Überquerung der Grenze von Frankreich nach Franco-Spanien kaum zu denken. In Portugal hat der faschistoide Diktator Salazar seinen Konsulaten die Ausstellung von Visa für diese Personen untersagt. Was tun?
Der Geheimtipp in Bordeaux
Ein Geheimtipp gibt Hoffnung – ein Geheimtipp, der sich schnell herumspricht. In Bordeaux setzt sich der portugiesische Konsul, Aristides de Sousa Mendes (1885–1954), über die Anweisungen von Salazar hinweg und vergibt Visa an alle Personen, die sie beantragen. Laut Schätzungen könnte er bis zu 30’000 Personen die Flucht erleichtert haben.
Salazar ruft ihn deshalb nach Portugal zurück und enthebt ihn seines Amtes. Sousa Mendes stirbt völlig verarmt. Die meisten seiner 13 Kinder (zwei weitere sterben früh) haben keine Alternative zur Emigration.
Lissabon, 25. April 1974. Ein Militärputsch, der als „Nelkenrevolution“ in die Geschichte eingeht, beendet die 48-jährige Diktatur, deren Sturz der im Jahr 1970 gestorbene Salazar nicht mehr erlebt. Für inhaftierte Gegner des Regimes öffnen sich die Tore der Kerker, so auch die des trutzigen Forts in der Fischerstadt Peniche, 100 Kilometer nördlich von Lissabon.
Seit 2019 beherbergt dieses alte Gemäuer direkt am tosenden Meer, das ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert stammt, das Nationalmuseum für Widerstand und Freiheit (Museu Nacional da Resistência e Liberdade).
Vom Sternenhimmel zum Kronleuchter
Gerade hat Portugal einen weiteren Jahrestag, es war der 47., der festlichen Nelkenrevolution begangen. Und da kam im alten Fort von Peniche auch Konsul Sousa Mendes zu Ehren – mit roten Nelken wie auch mit künstlerischer Kreativität. Im Beisein der Ministerin für Kultur, Graça Fonseca, und Nachfahren des Konsuls wurde zu dessen Ehren eine „Videoskulptur“ in der Form eines Kronleuchters vorgestellt.
Warum ein Kronleuchter? Einer der zahlreichen Enkel des Konsuls, der in den USA aufgewachsene Sebastian Michael Mendes (1948–2018), belauschte als Kind mitunter Gespräche seines Vaters mit ehemaligen Flüchtlingen, die den Todesmärschen der Nazis entkommen waren. Sie erzählten, wie sie nachts nur den Sternenhimmel über sich sahen, und der erinnerte sie an Kronleuchter ihrer früheren Häuser – und dieses Bild liess den künstlerisch tätigen Sebastian nicht los, erläutert die in Toronto tätige Sprachwissenschafterin Jennifer Hartog, die mit der in den USA ansässigen Sousa Mendes Foundation kooperiert und einer Gruppe zur Umsetzung des künstlerischen Projektes angehört.
Sebastian wollte diese seine Erinnerung künstlerisch umsetzen, kam aber nicht dazu. Ehe er 2018 starb, teilte er seine Idee mit dem deutsch-amerikanischen Künstler Werner Klotz (1956 in Bonn geboren). Klotz schuf nun den 3.60 Meter hohen Kronleuchter mit aufgezwirbelten Streben aus Edelstahl und mehreren innen angebrachten kleinen Bildschirmen mit Video-Sequenzen über Sousa Mendes’ Entscheidungsprozess. Die deutsche Sängerin und Komponistin Almut Kühne (1983 in Dresden geboren) unterlegte die Video-Sequenzen mit einer Audio-Collage aus Tönen, unter anderem von Wasser, von Zitaten aus Werken von Beethoven und Mendelssohn Bartholdy, von Texten sowie von Namen aus einer scheinbar endlosen Liste von Flüchtlingen, die dank den Visa des Konsuls der drohenden Verhaftung und Deportation in die Konzentrationslager des Nazi-Regimes entkamen.
Drei Tage der Grübelei – und eine Skulptur auf Tournee
Klotz war fasziniert von einer Überlieferung, laut der sich der Konsul drei Tage lang zurückgezogen haben soll, ehe er sich dafür entschied, seinem Gewissen anstatt dem Diktator zu gehorchen. „I would rather stand with God against Man than with Man against God“, so wird Sousa Mendes in drei Sprachen – Englisch, Portugiesisch, Französisch – auf dem Kronleuchter zitiert.
An diesem 25. April galten die roten Nelken in Peniche also auch einer eher konservativ eingestellten Figur, die eigentlich im Dienste des Regimes stand, aber teuer für den Ungehorsam bezahlte. Nach der Nelkenrevolution mussten zudem mehrere Jahre bis zur Rehabilitierung von Konsul Sousa Mendes vergehen. Im Jahr 1987 verlieh ihm der damalige Staatspräsident, Mário Soares, posthum den Orden der Freiheit. Im Jahr 2020 billigte das nationale Parlament einstimmig seine Umbettung ins Nationalpantheon in Lissabon, wo auf Wunsch der Familie aber nur ein Kenotaph ihn würdigen soll. Sousa Mendes ruht in seinem Geburtsort Cabanas de Viriato, im nordportugiesischen Distrikt Viseu. Nur wenige Autominuten entfernt liegt kurioserweise das Dorf Vimieiro, wo Diktator Salazar zur Welt kam und beigesetzt ist.
Der „Kronleuchter“ soll bis Ende Oktober im Museum in Peniche und dann vorübergehend in Bordeaux zu sehen sein. Anschliessend ist geplant, dass er zunächst in den USA und dann wieder in Europa „auf Tournee“ geht, ehe er in Portugal eine noch nicht ausgewählte permanente Bleibe bekommt.