Letzte Woche lief im Bayerischen Rundfunk ein „Tatort“ mit dem Titel „Ein Tag wie jeder andere“. Es könnte keine bessere Überschrift geben für den Tatbestand der fernsehkriminellen Programmüberfrachtung, die uns derzeit an jedem – und selbst am siebten – Tag der Woche heimsucht. Am gleichen Abend gab es auf SRF1 den „Kommissar und das Meer“ und auf SRF2 den bayrischen Krimi „Griesnockerlaffäre“. Wer krimimüde zu ORF1 zu entfliehen suchte, der lief der „Soko Kitzbühel“ in die Fänge. Auf 3Sat gab es „Die Tote aus der Schlucht“ und später noch „Schnell ermittelt“, auf RTS die „Capitaine Marleau“ – nicht zu reden von von den spätnächtlichen Thrillern und dem täglichen US-Serienfutter wie CSI Las Vegas, CSI Miami, Navy CIS, MacGyver oder Hawaii Five-0. Ohne Krimi gehe die Mimi nie ins Bett, sang in den sechziger Jahren Bill Ramsey. Der Mann konnte nicht ahnen, dass sein Hit ein halbes Jahrhundert später flächendeckende Realität geworden ist.
Wenn das TV-Publikum mit Mord und Totschlag in Köln, Frankfurt oder Zürich bedient ist, dann kann es auf andere Kulissen ausweichen: Verbrecherjagd auf dem Canale Grande in Venedig, auf den Ramblas in Barcelona, Ermittlungen in Istanbul, auf den Nordseeinseln oder wo der Pfeffer wächst.
Die Einschaltquoten müssen gut oder ausreichend sein, sonst würden die Sender sich nicht allabendlich gegenseitig mit Krimis überbieten. Warum schaut das Publikum diese Filme, obwohl sie sich doch alle gleichen? Ein Mord geschieht, und nach einer Menge dramaturgisch notwendiger falscher Fährten wird am Ende der Täter gestellt. Oder die Täterin. Ziemlich langweilig, könnte man denken, aber offenbar gibt es Elemente, die an diesen Geschichten faszinieren.
Krimi als Wohlfühl-Produkt
Schon Bert Brecht suchte Erklärungen: „Wir bekommen im Kriminalroman jeweils ausgezirkelte Lebensabschnitte vorgesetzt, isolierte, abgesteckte, kleine Komplexe von Geschehnissen, in denen Kausalität befriedigend funktioniert. Das ergibt genussvolles Denken.“ (1)
Im wirklichen Leben ist es genau umgekehrt: Die Daten sind so verwirrend wie vielfältig, die Indizien tausendfach, die Kausalzusammenhänge erschliessen sich uns selten, wir handeln oft auf Grund von Ahnungen und Wahrscheinlichkeiten. Wir machten unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form, sagt Brecht:
„Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen müssen wir, denkend, die ‚inside story‘ erschliessen. Wir fühlen schon beim Lesen der Zeitungen (aber auch der Rechnungen, Entlassungsbriefe, Gestellungbefehle und so weiter), dass irgendwer irgendwas gemacht haben muss, damit die Katastrophe eintrat. Wer also hat was gemacht? Hinter den Ereignissen, die uns gemeldet werden, vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet werden. Es sind dies die eigentlichen Geschehnisse. Nur wenn wir sie wüssten, verstünden wir.“
Die Kriminal-Story bildet also Brecht zufolge nicht das wirkliche Leben ab, sondern eine eng begrenzte Scheinwelt, ein übersichtliches Gesellschafts-Biotop. In diesem funktioniert die Moral mit mathematischer Logik, Überblick und Kontrolle sind möglich, gezieltes Handeln führt am Ende zum Erfolg.
Das ist der Grund, warum der Krimi als ideologisches Paket ein Wohlfühl-Produkt ist. Er versetzt die TV-Konsumenten nach allen Regeln der dramaturgischen Kunst eine Stunde lang in den Genuss von Spannung und unterhaltsamem Angst-Stress, und am Ende der Geschichte werden die Probleme zuverlässig gelöst. Sei es ein erfahrener Polizeipsychologe, der die Motive des Täters herleitet oder eine luzide Kommissarin, die auf die entscheidenden Indizien stösst.
Am Schluss spielen die Polizisten die Rolle von einem lieben Gott, der die Wahrheit herausfindet. Ob die Ermittlerinnen und Ermittler Bulle von Tölz, Pfarrer Braun, Miss Marple, Marie Brand oder Maigret heissen, tut nichts zur Sache: Die Welt ist nach rund sechzig Minuten wieder in Ordnung.
Folgerichtig sah der Publizist und Filmkritiker Willy Haas in klassischen Kriminalgeschichten einen „Ersatz für den fehlenden religiösen Glauben“, denn „der Böse wird am Ende bestraft, der Gute belohnt“.
Der gute Bulle und die Mächtigen
So war es jedenfalls früher. Heutzutage ist die Wahrheit, die am Schluss herauskommt, nicht immer ein Happy End, und da wird die Sache dann etwas komplizierter als bislang geschildert. Es gibt Krimis, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Da kommt es zwar am Schluss zur Aufklärung, aber diese Aufklärung kann heissen: Gewisse Herrschaften können mächtiger sein als Polizei und Justiz. Auch kann die Raison d’Etat höher gewertet werden als die Interessen eines Opfers oder das individuelle Verlangen nach Gerechtigkeit. Da kommen die staatlichen Hierarchien oder die Geheimdienste ins Spiel, zum Beispiel das BKA oder der BND in Deutschland, die einen Fall an sich reissen und den wackeren Ermittlern und „kleinen Polizisten“ die Arbeit schwer machen.
Die Epoche der Krimis als abstrakte „Ratespiele“ à la Edgar Allan Poe ist lange vorbei. Detektive vom Typ Hercule Poirot oder Sherlock Holmes, die mit messerscharfer Logik triumphieren, hatten schon in den dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts ausgedient. In „The Maltese Faulcon“ (1941) gibt Humphrey Bogart den abgebrühten und zynischen Detektiv Sam Spade, der sich wenig um Gesetze und Verordnungen schert, wenn es gilt, einen Mörder oder eine Mörderin zu finden.
In den Filmen dieser Jahre, die vage als „Serie noir“ bezeichnet wurden, ist der Ermittler vom lieben Gott zum Mensch geworden, der Kriminalfilm ist – wie vorher seine literarischen Quellen – in der wirklichen Gesellschaft angekommen. Dies ist zumindest das Ziel, das die Regisseure verfolgen.
Die beiden Weltkriege, die Wirtschaftskrisen und andere Faktoren mögen dazu beigetragen haben, dass das Filmschaffen sich mit einem zunehmend pessimistischen Weltbild auseinandersetzt und Protagonisten zeichnet, die verbittert und angeschlagen ihren Weg im Asphaltdschungel suchen. Der italienische Neorealismus gehört in diesen Kontext.
Im französischen Kriminalfilm der siebziger Jahre wird der Kommissar vollends zur kleinen Nummer im Geschäft der grossen Bosse und korrupten Politiker. Der Plot endet dann oft in Bitterkeit. Die hohe Politik lässt die Ermittler meist auflaufen, und schliesslich wirft ein wütender Kommissar die letzte Zigarettenkippe weg, trinkt sein Glas aus, quittiert seinen Dienst und geht unter dem Abspann in die Dunkelheit. Oder er wird am helllichten Tag erschossen, wie Lino Ventura als Commissario Rogas in „Cadaveri eccellenti“ (1976).
Die Regisseure wollen dem Publikum eine neue Geschichte erzählen, und diese Geschichte heisst: Wir leben in einer ungerechten Gesellschaft, und deshalb muss ein gerechter Kommissar eine tragische Figur sein. Viele Zuschauer goutieren auch dieses neue Narrativ. Das anarchische Element in der französischen Kultur und die Wut der 68er-Generation auf das Establishment und „die da oben“ waren die Rezeptoren, die dieser Art von Krimi zum Erfolg verhalfen. Natürlich war dieser Erfolg nicht nur dem Drehbuch und seiner ideologischen Fracht zu verdanken, sondern der schauspierischen Brillanz von Stars wie Jean Gabin, Simone Signoret, Lino Ventura, Alain Delon, Catherine Deneuve, Jean Paul Belmondo und vielen anderen.
Die heutigen Krimis bieten beide Varianten: auf der einen Seite Polizisten von der Sorte der Rosenheim Cops mit ihrer jugendfreien Bayern-Folklore, auf der anderen Seite den unerbittlich psychologisierten Tatort, in dem Kommissarin und Kommissar traurige Antihelden sind: Polizeibeamte, die mit Herzschwäche oder dem Hang zu Alkoholismus zu tun haben, mit Ehekrisen oder Kindern ausser Kontrolle, und so durch die Niederungen des Alltags stolpern.
Die Schauplätze sind immer noch die klassischen aus dem Film Noir: Nachtclubs im Rotlicht-Milieu, Fabrikhallen abgewickelter Unternehmen und düstere Hafenanlagen. Und als Kontrapunkt die Luxusvillen der Reichen und die Flashbacks auf eine traumatische Vergangenheit, die nicht selten alles erklärt, also auch den Mord.
Als neues Genre hat der Landkrimi sein Publikum gefunden, nicht nur in Bayern, sondern auch an der Nordsee oder in Niederösterreich. Da entpuppt sich das stille Dorf mit seiner Dorfgemeinschaft als Vorhölle auf Erden, wo die soziale Kontrolle eine Omertá auferlegt, gegen die die Ermittler anrennen wie gegen eine Mauer.
Vergnügen an der Leiche: Unterhaltung und Zerstreuung
Die Schriftstellerin Dorothy Sayers hielt 1935 in Oxford einen später oft zitierten Vortrag über Detektivliteratur, in dem sie darauf hinweist, dass schon im antiken griechischen Volkstheater Mord und Totschlag gefragt waren. Sie zitiert Aristoteles, der ihrer Ansicht nach „einen kräftigen Appetit auf das Grausame“ hatte:
„Was wir nämlich in der Wirklichkeit nur mit Unbehagen anschauen, das betrachten wir mit Vergnügen, wenn wir möglichst getreue Abbildungen vor uns haben, wie etwa die Gestalten von abstossenden Tieren oder von Leichnamen.“ (2)
Der Philosoph wäre also heutzutage weder erstaunt über die industrielle cineastische Produktion von Monstern, Mutanten und Riesenungeziefern noch über die Flut von Kriminalfilmen. Selbstverständlich geht es beim Krimi auch um diese Lust am Aussergewöhnlichen und Furchtbaren.
Krieg, Mord und Verbrechen waren seit jeher das, was uns am meisten betrifft, also das „Erzählenswerte“, und folglich Gegenstand der Literatur in ihrer epischen oder dramatischen Form. Von Homers Odysseus über Shakespeares Hamlet bis Dürrenmatts Kommissar Bärlach sind Mord und Totschlag gesellschaftsfähig als literarische Fiktion.
Der nette Herr aus der Tiefgarage
In der modernen Kriminalstory geht es indessen nicht nur um den „thrill“ und die Unterhaltung. Wir akzeptieren einen „Tatort“ , weil er auf seine besondere Art ein fiktionales Sinnbild unserer Welt ist. Denn wir halten es durchaus nicht für weit hergeholt, dass ein millionenschwerer CEO oder ein Politiker 88 Minuten lang als hochangesehener Ehrenmann gilt und in der 89. Minute als skrupelloser Halunke entlarvt wird. Es könnte der nette Herr sein, dem man schon in der Tiefgarage begegnet ist.
Insofern zeigt uns der Kriminalfilm am Abend, was wir morgens in der Zeitung gelesen haben. Wir wissen, dass wir in einer Welt leben, in der mächtige Baukonzerne Regierungen ganzer Länder im Griff haben und Mafiosi radioaktioven Müll im Mittelmeer oder irgendwo in Afrika entsorgen. Eine Welt, in der Rüstungskonzerne und ihre Lobbyisten jedes neue Spannungsgebiet und jeden neuen Krieg begrüssen. Eine Welt, in der hinter glänzenden Fassaden schmutziges Geld gewaschen wird.
Der Krimi ist somit seit langem in der Politik angekommen. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg reflektierte er die Ideologien des Kalten Krieges hüben und drüben. Im Osten galt der frühe Krimi als Affirmation des Kapitalismus, weil der Ermittler die bürgerliche Gesellschaftsordnung wiederherstellt. Später sahen Literatur- und Filmwissenschafter der DDR im amerikanischen Gangsterfilm ein Sinnbild für die Brutalität des untergehenden Kapitalismus. Im Westen wurde dagegen hohnlachend konstatiert, der sozialistische Realismus lasse keine anderen Krimis zu als solche, in denen westliche Spione, Saboteure und Gangster von wachsamen Werktätigen entlarvt werden.
Man darf bezweifeln, dass sich viel geändert hat. Der Kalte Krieg zwischen dem Westen und dem neuen Osten wird heute fortgesetzt als eine Konfrontation, in der es um hegemoniale Strategien und den Zugang zu Märkten und Ressourcen geht, aber auch um die Eröffnung oder Blockierung von Gasleitungen, Handelsrouten und Schifffahrtswegen. Und nicht zuletzt um den Zwist über den Dollar als Leitwährung.
In den Krimis westlicher Produktion haben die notorischen Oligarchen und die russische Mafia eine feste Rolle, während das Fernsehpublikum in Moskau vermutlich Kommissare sieht, die gegen CIA-Agenten, Immobilienhaie und andere Bösewichte aus dem Westen kämpfen. Die westlichen Oligarchen heissen in Moskau „Bisnismeni“.
Gesellschaftskritik und Geschichtsunterricht
Bei all dem ist festzuhalten, dass das Genre in seinen besten Stücken über alle ideologischen und strukturellen Zwänge hinauswächst und grossartige Filme hervorbringt. Und das ist sicher einer der Gründe, warum der Kriminalfilm, aber auch der Kriminalroman, der oft als Vorlage für das Drehbuch dient, ein so grosses Publikum haben.
Von den Meisterwerken unter den Krimis lernt man oft mehr über Politik und Zeitgeschichte als in vielen akademischen Studien. Im Roman „Der stille Amerikaner“ (1955) schildert Graham Greene den Mord an einem CIA-Agenten in Saigon. Greene war selbst Korrespondent in Vietnam und nahm wahre Ereignisse als Vorbild. Die zuletzt 2002 von Regisseur Phillip Noyce verfilmte Story ist eine Geschichts-Lektion über die Anfänge des Vietnamkrieges, wie ich keine zweite kenne.
Ähnlich lehrreich ist „Der Feind im Schatten“ von Henning Mankell. Er verarbeitet dort die historisch dokumentierte U-Boot-Affäre der achtziger Jahre. Die NATO schaffte es damals , die Regierung Olof Palme innerhalb von Monaten zu diskreditieren und Palmes Entspannungspolitik zu stoppen. Unterseeboote der NATO liessen sich als sowjetische U-Boote getarnt vor der schwedischen Küste blicken. Die „russische Bedrohung“ generierte eine Medienhysterie.
„Es war kein russisches U-Boot, sondern ein amerikanisches“, sagt Kommissar Wallander im gleichnamigen Film zu dem US-Geheimdienstmann, und dieser antwortet: „Zu der Zeit hielt man eine Destabilisierung der schwedischen Regierung für überaus wichtig. Man nahm sie als kommunistisch wahr. Es hat funktioniert. Nach dem falschen russischen U-Boot schrumpfte die Unterstützung (der Regierung Palme) für den Osten. Und so war wieder eine Grenze sicher, wieder eine Front dichtgemacht.“
Letztlich erfüllt ein guter Krimi die gleichen Bedingungen wie jeder Spielfilm und jedes Buch: Ablenkung und Zerstreuung sind Teil der Kulturtechniken des „homo ludens“.
Raymond Chandler, der Schöpfer des amerikanischen „Hardboiled Detective“ Philip Marlowe, äusserte sich in einem Essay über diese merkwürdige Sache, die wir „Zerstreuung“ nennen: „Alle Menschen, die lesen, fliehen vor etwas anderem in das, was hinter den gedruckten Worten steht; man kann über das Wesen des Traumes streiten, aber dass Träume ausgelöst werden, hat seine funktionelle Notwendigkeit. Alle Menschen müssen von Zeit zu Zeit dem tödlichen Rythmus ihrer eigenen privaten Gedanken entfliehen. Das ist Teil der Lebensweise unter denkenden Menschen. Es gehört zu den Dingen, die uns von den dreizehigen Faultieren unterscheiden.“ (3)
(1) Vgl. Jochen Vogt: Der Kriminalroman, München 1971
(2) Ebenda
(3) Ebenda