Gegen den Rechtspopulismus sei Portugal doch immun, war noch vor zwei oder drei Jahren im fernen Südwesten von Europa zu hören. Immerhin habe das Land 48 Jahre lang, von 1926 bis zur Nelkenrevolution vom 25. April 1974, eine faschistoide Diktatur gehabt, und solche Zeiten wünsche sich niemand zurück. Fast überall in der EU zogen Rechtsextremisten in die nationalen Parlamente ein. Zu den Ausnahmen zählte Portugal, bis bei der Parlamentswahl im Oktober 2019 die neue Rechtspartei „Chega“ („Es reicht“) ihren ersten und bisher einzigen Sitz errang.
Am letzten Sonntag war das Stimmvolk nun zur Direktwahl seines Staatspräsidenten für die kommenden fünf Jahre aufgerufen. Niemand feierte das Ergebnis so euphorisch wie Chega-Gründer André Ventura, obwohl er unter sieben Kandidatinnen und Kandidaten nur den dritten Rang belegte.
An „Marcelo“ führte kein Weg vorbei
Der Sieger stand freilich schon praktisch fest. Mit einer klaren Mehrheit von 60,7 Prozent der Stimmen (gegenüber 52 Prozent 2016) entschied der 72-jährige Marcelo Rebelo de Sousa, der aus dem bürgerlichen Lager stammt, die Wahl für sich. Obwohl die Wahlbeteiligung in dem von der Corona-Pandemie hart gezeichneten Land auf ein Rekordtief von 39,5 Prozent (2016: 48,7 Prozent) fiel, erhielt er sogar fast 122’000 Stimmen mehr als vor fünf Jahren.
„Marcelo“, so ist der überaus populäre ehemalige Journalist, Juraprofessor und langjährige TV-Kommentator bekannt, hat dabei links, rechts und in der Mitte „abgeräumt“. Er genoss viel Sympathie im Apparat und in der Wählerschaft des Partido Socialista (PS). Er verstand sich überwiegend gut mit Sozialistenchef António Costa, der seit 2015 ohne absolute Mehrheit regiert. Eine Wahlempfehlung gab diese Partei zwar nicht, Costas Präferenz für Marcelo war aber klar.
Auch die beiden herkömmlichen Parteien des bürgerlichen Lagers, also der einst von Marcelo geführte Partido Social Democrata (PSD), und, weiter rechts, der kleinere Partido Popular (CDS-PP), sahen Marcelo mangels Alternative als ihren Mann. Sie hätten sich von ihm oft härtere Forderungen gegen die linke Regierung gewünscht und deshalb immer wieder schlucken müssen. An Marcelo führte aber kein Weg vorbei.
Der Kampf um Platz zwei
Spannend war der Kampf um den zweiten Platz. Hier gewann die 66-jährige Ana Gomes, ein Basismitglied des Partido Socialista. Sie kandidierte aber auf eigene Faust, ohne Unterstützung der eigenen Partei. Nur zwei kleinere Parteien riefen zu ihrer Wahl auf. Ana Gomes kam mit knapp 13 Prozent auf das beste Ergebnis, das je eine Frau bei einer Präsidentenwahl im Land erzielt hatte. Sie erreichte damit aber nur einen knappen Vorsprung vor dem Chega-Mann Ventura mit seinen 11,9 Prozent der Stimmen.
Auf den vierten Platz kam der Kommunist João Ferreira mit eher enttäuschenden 4,3 Prozent der Stimmen. Ihm und seiner Partei blieb aber der Trost, etwas besser abgeschnitten zu haben als Marisa Matias vom alternativen Linksblock mit knapp unter 4 Prozent. Sie hatte schon 2016 für das höchste Amt im Staat kandidiert und damals über 10 Prozent erhalten.
Das Wahlergebnis reflektiert regionale Kontraste
In den jüngsten Umfragen über Präferenzen für Parteien lagen nach wie vor die Sozialisten klar vorn. Als Indiz für einen allgemeinen Rechtsruck im Volk dürfte sich der Ausgang der Wahl am Sonntag also nicht deuten lassen. Unabhängig von seiner politischen Herkunft geniesst Marcelo als volksnaher Präsident sehr viel Sympathie. Und schon öfter hielt sich das Stimmvolk bei Präsidentenwahlen an eine Volksweisheit, nach der man „nicht alle Eier in denselben Korb legen“ soll. Mehrmals haben seit 1976 rechte Regierungen mit linken Präsidenten kohabitiert, oder umgekehrt.
Was aber erklärt den Erfolg des Rechtspopulisten? Hier stellen sich wohl ähnliche Fragen wie der immer noch hohe Stimmenanteil für Donald Trump bei der jüngsten Präsidentenwahl in den USA. Ventura mag insgesamt auf Platz drei gelandet sein. In 11 der insgesamt 18 Verwaltungsdistrikten von Festland-Portugal sowie in der Inselregion Madeira belegte er jedoch den zweiten Platz, stets hinter Marcelo. Erfolg hatte Ventura vor allem in den bevölkerungsmässig kleineren Distrikten des Hinterlandes, von denen die meisten von Strukturschwäche, Abwanderung und Überalterung gezeichnet sind. In zwei Distrikten der oft als „rot“ apostrophierten Alentejo musste sich Ana Gomes gar hinter dem Kommunisten Ferreira mit dem vierten Platz begnügen. Auf den zweiten Platz, hinter Marcelo und vor Ventura, kam die Sozialistin in 7 Distrikten – zu denen die besser entwickelten Grossräume Lissabon, Setúbal, Porto, Aveiro und Braga zählen – sowie auf den Azoren.
Eine „Desertion“ der Sozialisten
Um ihren zweiten Platz musste Ana Gomes am Wahlabend zittern. Noch bis etwa 22 Uhr lag sie bei den Zwischenergebnissen hinter Ventura, da die Stimmenauszählung im Hinterland schneller ging. Nachdem Gomes den Rechtspopulisten endlich überholt hatte, trat sie mit abgeschlagener Miene vor die Fernsehkameras. Sie räumte ein, das Ziel einer Stichwahl – die am 14. Februar stattgefunden hätte – verfehlt zu haben und übernahm dafür selbst die Verantwortung, zeigte aber doch mit dem Finger auf Sozialistenchef Costa. Unter Anspielung auf die Tatsache, dass die Sozialisten auf eine eigene Kandidatur verzichtet hatten, sah sie ihn als Hauptverantwortlichen für die „Desertion“ der Partei, die zum Sieg des Kandidaten der „demokratischen Rechten“ beigetragen habe.
Ventura hatte Ana Gomes im Wahlkampf vorgeworfen, „hysterisch“ und „von ihren Gegnern besessen“ zu sein. Schon im September hatte er für den Fall, dass er selbst nicht auf den zweiten Platz komme, seinen Rücktritt als Chega-Vorsitzender angekündigt. Aber dieser Fall werde nicht eintreten, meinte er. Nur trat er doch ein. Ventura versprach am Wahlabend, den Mitgliedern das Wort zu geben, aber das war nicht mehr als Rhetorik, denn er sprach wie ein Sieger, der sich nebenbei über Glückwünsche aus Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland freute.
Die Rechte „neu konfiguriert“
Seine Partei, versicherte er, habe die Rechte in Portugal „komplett neu konfiguriert“. Zum ersten Mal habe sich eine „erklärtermassen Anti-System-Kraft“ durchgesetzt und die extreme Linke „zermalmt“. Als Kandidat habe er sogar im Alentejo besser abgeschnitten als der kommunistische Rivale. In Portugal, rief er enthusiastisch, werde es keine Regierung „ohne uns“ geben. Und er rief nach einer „vierten Republik“. Ventura wünschte dem wiedergewählten Präsidenten eine „zweite Amtszeit in Würde“, was einen Bruch mit der ersten Amtszeit erfordere.
Als Sieger trat Marcelo, gemäss einer ungeschriebenen Regel, als Letzter vor die Kameras. Er zeigte sich „zutiefst geehrt“ über das erneuerte Vertrauen, das kein „Blankoscheck“ sei, und er wolle auch künftig der „Präsident aller Portugiesen“ sein. Marcelo gab sich als Mann der Stabilität, der Einheit und, brandakut, des Kampfes gegen die Corona-Pandemie. Just unter Hinweis auf die Pandemie hatte er im Wahlkampf vor einem Wechsel im Amt des Präsidenten gewarnt.
Eine einfache zweite Amtszeit dürfte ihn nicht erwarten. Wenigstens bis zum Ausbruch der Pandemie war seine erste Amtszeit noch von einem wirtschaftlichen Aufschwung geprägt. Vor diesem Hintergrund hielt sich die erste Minderheitsregierung des Sozialisten Costa für die vier Jahre von 2015 bis 2019, also eine volle Legislaturperiode lang, mit Tolerierung durch Kommunisten und Linksblock. Nun schrumpft die Wirtschaft, also gibt es weniger zu verteilen.
Links und rechts wehen rauere Winde
Aus der Parlamentswahl 2019 gingen die Sozialisten zwar gestärkt hervor, sie regieren aber nach wie vor ohne absolute Mehrheit im Parlament. Sie können sich, anders als vorher, auch nicht mehr auf Vereinbarungen mit kleineren Parteien über gemeinsame Positionen stützen. Im letzten Herbst votierte der Linksblock gegen das Staatsbudget für 2021, für den sich nur dank Stimmenthaltung der Kommunisten und kleinerer Parteien eine Mehrheit fand. Links hat sich die Verständigung also erschwert.
Was könnte im Falle einer politischen Krise bevorstehen? Marcelo könnte dann das Parlament auflösen und vorzeitige Neuwahlen ansetzen. Als ein Präsident, der den Sozialisten alles nachgesehen hat, würde er wohl auch ungern in die Geschichte eingehen. Im Falle von Neuwahlen wäre eine rechte Mehrheit ohne Chega aber schwer denkbar, und da dürfte die Sicherung politischer Stabilität nicht leicht sein. Nach dem Coronavirus dürfte also der Virus des Rechtspopulismus die am 9. März beginnende zweite Amtszeit des alten und neuen Präsidenten überschatten. Gegen den Rechtspopulismus gibt es dummerweise auch noch keine Impfung.