Deprimierender als in diesem Jahr war ein 1. Mai in Frankreich wohl schon lange nicht mehr. Die wieder einmal heillos zerstrittene, gespaltene und vor sich hin schwächelnde Gewerkschaftsbewegung organisierte am Tag der Arbeit gleich drei verschiedene Hauptdemonstrationen, eine davon irgendwo in der Nähe von Reims. Doch zu allen dreien ging kaum jemand hin, deshalb fanden sie auch in den Medien so gut wie keine Beachtung. Ein Bild, das letztlich dem tatsächlichen Gewicht der französischen Gewerkschaften entspricht: Nur rund 8 % der französischen Arbeitnehmer sind in einer der unzähligen, mehr oder weniger machtlosen Gewerkschaften organisiert. Wie angesichts einer derartigen Landschaft die Arbeitnehmervertreter jemals eine Art Mitbestimmung zustande bringen sollen, bleibt ein Rätsel.
Jeanne d'Arc am Tag der Arbeit
Auch vom 1. Mai 2013 bleibt also, wie von so vielen vorhergehenden schon, in erster Linie der anachronistische Aufmarsch der rechtsextremen Nationalen Front zu Ehren der Heiligen Johanna von Orléans: martialisch und unter blau-weiss-rotem Fahnenmeer. Den Gründer der Partei, Vater Jean-Marie Le Pen, hatte man dieses Jahr zum ersten Mal definitiv leise gestellt – ein weiteres Symbol für den angeblichen Wandel der Partei, die sich dank Tochter Marine Le Pen hoffähig gibt, im Grunde aber von ihren rechtsextremen Fundamenten kein Stück weit abgewichen ist - sieht man einmal davon ab, dass antisemitische Tiraden in der 20 %-Partei inzwischen nun wirklich verpönt sind. Parteichefin Marine Le Pen gab sich vor der Kulisse der alten Pariser Oper pathetisch und deklamierte, die Nationale Front sei für die Franzosen heute der einzige und wahre Lichtblick in der Finsternis. Ein 1. Mai, an dessen Ende man eigentlich nur noch „Gute Nacht“ sagen konnte.
Hollande bei 25 %
„La Vie en Rose“ hatte François Hollandes Lebensgefährtin am Abend des Wahlsiegs im zentralfranzösischen Städtchen Tulle vor einem Jahr aufspielen lassen und ein paar Sekunden lang das Tanzbein geschwungen. Ein Jahr später ist vom Leben in rosaroten Farben keine Spur mehr übriggeblieben. Und zu feiern gibt es schon gar nichts. Nur noch jeder 4. Franzose schenkt dem „normalen Präsidenten“ sein Vertrauen. So schnell nach einer Wahl und so tief ist noch kein einziger Präsident der 5. französischen Republik in den Keller geschlittert. Und wie seine Popularitätskurve so zeigen praktisch alle wichtigen sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren streng nach unten. Die offizielle Arbeitslosenzahl von 3,2 Millionen, das heisst fast 11 %, ist doppelt so hoch als beim Nachbarn Deutschland. Das Vertrauen der französischen Verbraucher und Unternehmer ist seit Monaten ebenso tief im Keller wie die Popularität von François Hollande.
Am schlimmsten aber für Frankreichs Präsidenten ist die Tatsache, dass er nicht einmal den Anspruch einlösen konnte, seine Regierung werde in jedem Fall moralisch unanfechtbar sein. Die immer und immer wieder hochgehaltene tadellose Republik, die unter seiner Regentschaft existieren sollte, ist mit der Affäre um das Schweizer Schwarzgeldkonto seines ehemaligen Budgetministers Cahuzac laut krachend zusammengebrochen. Kaum etwas Schlimmeres hätte passieren können, um die ohnehin schon weitverbreitete Volksmeinung, wonach alle Politiker des Establishments mehr oder weniger korrupt seien, noch weiter zu nähren. Die Extremen dürfen sich gelassen zurücklehnen und sich die Hände reiben.
Zumal François Hollande, seine Regierung und Teile der sozialistischen Partei noch in einigen weiteren Punkten, die mit der Wirtschaftskrise nicht das geringste zu tun haben, in den letzten Monaten enttäuscht haben.
Das angekündigte und längst überfällige Ende der desaströsen Ämterhäufung unter französischen Politikern ist auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben worden – hauptsächlich weil der Präsident erleben musste, dass so mancher Baron seiner eigenen sozialistischen Partei von seinen zahlreichen Ämtern nicht lassen wollte, egal ob er dadurch das unappetitliche Image der Machtgier transportierte und ein Verhalten an den Tag legte, das sich in nichts von dem seiner konservativen Kollegen unterscheidet.
Und auch der Regierungsstil von François Hollande hat enttäuscht. Von der Normalität ist immer weniger zu spüren und wie unter Sarkozy scheinen im Elysée erneut die Kommunikationsstrategen das Ruder in die Hand genommen zu haben. Auch Hollandes kurze, durchgeplante und streng überwachte Ausritte in die Provinz erinnern immer mehr an die seines Vorgängers. Und wie Sarkozy sagt auch François Hollande jetzt ständig „Ich“ und nicht mehr „Wir“.
Und schliesslich sind da die ständigen Misstöne in der Regierungsmannschaft und der Partei. Zeitweise vergeht kein Tag, ohne dass verschiedene Minister oder Parlamentarier nicht verschiedene Signale in die Öffentlichkeit senden. Jüngstes Beispiel: Der umtriebige und stets laut tönende Industrieminister Montebourg hat die Übernahme des französischen Videoportals Dailymotion durch den US-Riesen Yahoo verhindert. Der ihm vorgesetzte Finanzminister Moscovici kritisierte dies am nächsten Tag in aller Deutlichkeit, und Unternehmer aus der Internetszene beklagten, Frankreich habe sich mit diesem Verhalten wieder einmal zum Gespött in der globalisierten Welt des Internetgeschäftes gemacht.
Links von der Linken
Pünktlich zum ersten Jahrestag des Wahlsiegs hatten dann gestern die Linksfront und ihr Chef, Jean-Luc Mélenchon, zu einer Grossdemonstration gegen die Finanzwelt und die Sparpolitik in Frankreich und Europa aufgerufen. Mélenchon, der bei den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr 11 % der Stimmen erzielt hatte, verlangte eine neue, eine 6. Republik. Es wurde ein Aufmarsch gegen den sozialdemokratisch-zentristischen Kurs des Präsidenten, bei dem sich auch einige Vertreter der französischen Grünen sehen liessen. Sie, wie die Linksfront auch, sind gleichzeitig aber Teil der erweiterten, linken Parlamentsmehrheit von Präsident Hollande.
Eine Demonstration der Linken unter einer linken Regierung gegen eine sozialliberale Politik, so die Formel von Jean-Luc Mélenchon. Er zelebrierte sich gestern selbst. Mit zwei roten Nelken im Knopfloch und einem roten Schal um den Hals produzierte er sich in der Rolle des Volkstribuns auf dem Platz der Bastille. Er war bemüht, einen Hauch von 1789 zu verstreuen, sprach vom Ende der Schonzeit für Hollande, vom Willen des Volkes und konstituierenden Versammlungen.
Nicht die Konservativen und die Arbeitgeber hätten in diesem Land die letzte Wahl gewonnen, wetterte er. Auch nicht jene, die den Aktionären Geschenke machen wollen. Diese Demonstration sei ein Beweis, dass es in diesem Land noch eine echte Linke gebe. Man sei nicht bereit, mit dem wirklichen Wandel bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2017 zu warten, zu gross sei das Leiden der Menschen in diesem Land, und ein Präsident der Linken habe sich gefälligst um die Menschen zu kümmern, denen es schlecht geht.
Immer häufiger weht François Hollande jetzt aber auch der Wind vom linken Flügel seiner eigenen sozialistischen Partei ins Gesicht. Ein Flügel, der mit dem Entwurf eines Positionspapiers zu Europa letzte Woche für große Aufregung gesorgt hatte, weil darin die rigide Sparpolitik Europas sowie die - so hieß es wörtlich – „egoistische Unnachgiebigkeit von Angela Merkel“ heftig kritisiert worden war. Zudem hatte dann auch noch der Parlamentspräsident dazu aufgerufen, die politische Konfrontation mit der deutschen Kanzlerin über die Sparpolitik in Europa zu suchen.
Der gemäßigte Innenminister Manuel Valls pfiff daraufhin die Parteifreunde zurück und meinte, diese Debatte müsse zwar durchaus geführt werden, es gehe aber nicht an, einen Sündenbock zu suchen, der die Züge von Angela Merkel trägt. Man könne nicht Deutschland als Sündenbock hinstellen, um über die eigenen Unzulänglichkeiten hinwegzutäuschen.
Deutschlands Sparkurs - für Europa gefährlich
Gleichzeitig werden in Frankreich die Stimmen aber eindeutig zahlreicher und lauter, die darauf verweisen, dass mittlerweile neben mehreren Nobelpreisträgern sogar der Internationale Währungsfond, die OECD und selbst die Brüsseler Kommission davor warnen, der von Deutschland auferlegte Sparkurs könne für ganz Europa gefährlich werden.
Jacques Attali zum Beispiel, einst Berater von Präsident Mitterrand und bis heute eine einflussreiche Stimme in der öffentlichen Diskussion, hat jüngst geschrieben, man könne es nicht länger hinnehmen, dass das europäische Flickwerk nur dank des Wohlwollens von Monsieur Draghi und Madame Merkel weiterhin Bestand habe. Die beiden übten tagtäglich größeren Druck auf die anderen Regierungen in Europa aus und schränkten deren Souveränität ein, indem sie ihnen ein Defizitniveau genehmigten oder verweigerten. Ganz abgesehen davon, dass Draghis und Merkels Kurs die Arbeitslosigkeit und die Rezession in der EU verstärkten.
Noch etwas frappiert an diesem tristen ersten Geburtstag der Präsidentschaft Hollande. Es sind die Töne und die Regelmässigkeit der Misstöne, die in diesen Tagen aus Deutschland herüberwehen. Dass der Kanzlerkandidat der Liberalen, das Urgestein Brüderle, beim Parteitag der FDP an diesem Wochenende wiederholt Frankreich als das absolut abschreckende Beispiel einer verfehlten Wirtschaftspolitik darstellt und den wichtigsten Partner Deutschlands im Jahr der offiziellen Freundschaftsfeiern zum 50. so unverblümt in den beginnenden deutschen Bundestagswahlkampf hineinzerrt, hat neue Qualität.
Wie es auch vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen wäre, dass sich eine deutsche Bundeskanzlerin, wie im vergangenen Jahr geschehen, weigert, den französischen Präsidentschaftskandidaten vom anderen politischen Ufer während seines Wahlkampfs in der deutschen Hauptstadt zu empfangen. Und dass anders herum Präsident Hollande der Troika der SPD zu Beginn des deutschen Wahljahres im Elyséepalast den roten Teppich ausrollte - auch dies war in den letzten Jahrzehnten beim berühmten deutsch-französischen Paar nicht Usus.
Marine Le Pen: "Wir wollen an die Macht"
Präsident Hollande steht an diesem Jahrestag seines Wahlsiegs angesichts des Zustands der französischen Wirtschaft, der historisch niedrigen Umfragewerte und der nicht enden wollenden Misstöne in seiner eigenen, linken Mehrheit mit dem Rücken zur Wand, und ein grosser Befreiungsschlag ist nicht in Sicht. Er hat den Franzosen vor der Wahl deutlich gesagt, dass es keine Alternative gibt zu einer Sanierung des Staatshaushalts. Daran wird er auch festhalten, selbst wenn Frankreich angesichts der Quasi-Rezession 2013 dafür ein wenig mehr Zeit braucht, als ursprünglich angekündigt. Dass die EU-Kommission Frankreich nun offiziell zwei Jahre mehr eingeräumt hat, um die 3 %-Defizitgrenze zu erreichen, ist zumindest ein klein wenig Balsam für den Hausherrn im Elysée.
Frankreichs Präsident scheint zu lavieren, so gut er kann. Eines weiss er aber ziemlich genau: Er kann die Sparschraube in diesem Land momentan nicht mehr allzu stark anziehen und die weitgehend resigniert wirkende Bevölkerung Frankreichs nicht überstrapazieren. Denn niemand sollte unterschätzen, dass auch in der zweitgrössten Volkswirtschaft der EU dieser Tage die Extreme Rechte in den Startlöchern hockt und angesichts täglich neuer Betriebsschließungen, historisch hoher Massenarbeitslosigkeit, fehlender Perspektiven für die junge Generation und eines grassierenden Pessimismus in der Bevölkerung derzeit nur die Hände aufzuhalten braucht.
Marine Le Pen und die Nationale Front erfreuen sich momentan bester Umfragewerte und registieren einen spektakulären Zulauf neuer Parteimitglieder: Mit 65'000 hat die Partei zehn Mal mehr Mitglieder als Frankreichs Grüne. Die Parteichefin erkärt ganz eindeutig – anders als ihr Vater Jean-Marie Le Pen dies während zwei Jahrzehnten tat: "Wir wollen an die Macht."