Die Beschäftigung mit den alten Sprachen scheint im Zeitalter der Digitalisierung unnütz und unnötig. Das Gegenteil ist der Fall.
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der neuen Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Elsa Nautsch wurde im Jahr 2003 geboren und lebt in Zürich. Sie besucht das Realgymnasium Rämibühl im altsprachlichen Profil mit Latein und Altgriechisch. Sie ist Mitglied der AG Theater Rämibühl und interessiert sich für Geschichte und Literatur. Bei der "Erzählnacht 2016" gewann ihr Beitrag den Hauptpreis.
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“Was, du hast Altgriechisch gewählt? Das ist doch vollkommen unnötig! Lern’ besser Business-Englisch, das bringt dir mehr.”
Solche Aussagen, gepaart mit irritierten Blicken, muss man heute in Kauf nehmen, wenn man Altgriechisch wählt. Und sie kommt immer wieder, diese verflixte Frage nach dem Nutzen. Alles muss heutzutage einen klar ersichtlichen Nutzen haben. Spanisch- oder Chinesisch-Kenntnisse seien nützlich, heisst es, weil man damit mit künftigen Geschäftspartnern florierende Deals abschliessen könnne, und auch angewandte Mathematikkenntnisse seien heutzutage in den Teppichetagen jeder Boni ausschüttenden Grossbank hochgeschätzt.
Nur die verflixten alten Sprachen bringen nichts.
Diese Einschätzung wird zunehmend auch bildungspolitisch gepusht. Das Gymnasium müsse sich weiter entwickeln und modernisiert werden. Im Rahmen von “Gymnasium 2022” sollen deshalb die Fächer im MINT Bereich – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – mehr Stunden bekommen und das Fach Informatik als Obligatorium im Obergymnasium eingeführt werden. In vielen Schulen wird bereits heute verlangt, dass die Schüler und Schülerinnen stets einen eigenen Laptop auf sich tragen. “Das ist wegen der Digitalisierung”, heisst es dann. Doch eines scheint nicht mehr Platz in dieser fortlaufenden Digitalisierung zu haben, die alles wie von Zauberhand richten soll: die alten Sprachen, die mittlerweilen in vielen Kantonen wie etwa Bern ganz abgeschafft werden.
Im heutigen Zeitalter der Digitalisierung scheint das Altgriechisch ein Relikt aus vergangenen Zeiten zu sein: überflüssig und unnötig. Dem ist aber nicht so. Im Gegenteil: Es fördert sogar Qualitäten, die angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen zunehmend wichtiger werden.
Dass man lernt, wie eine Sprache aufgebaut ist, liegt auf der Hand. Da der Satzbau im Griechischen aber deutlich anders als in modernen Sprachen funktioniert, lernt man beim Übersetzen von Texten die Syntax auf eine komplett andere Weise als im gewohnten Unterricht. Weit wichtiger sind aber andere Qualitäten, die gefordert und gefördert werden. Man lernt ganz grundsätzlich, länger als einen Mausklick lang an einer Sache dranzubleiben und an der gleichen Stelle am Satz zu arbeiten. Man geht der Sache auf den Grund und darf nicht einfach schon nach wenigen Minuten abschweifen und aufgeben; etwas, das heute allzu schnell passiert.
Doch damit nicht genug: Wenn man sich auf die Texte der Griechen einlässt und etwa Sophokles’ Tragödien zur Hand nimmt, wird schnell klar, dass sie uns nicht nur sprachlich nützen, sondern dass sie uns noch etwas viel Bedeutenderes beibringen. Empathie nämlich: In einer Welt, in der wir zunehmend isoliert vor unseren Computern sitzen, elektronisch kommunizieren und drohen, den Anschluss an unsere reale Lebenswelt zu verlieren, ist es wichtiger denn je, dass man fähig ist, sich mit den Gefühlen und Leiden anderer auseinanderzusetzen.
Unsere ganze Kultur und all unsere Denkweisen sind gestützt auf Namen wie Platon, Aristoteles oder Herodot. Sie setzten damals den Rahmen und die Grundlage für unsere heutige Welt und die Art, wie wir sie nach wie vor sehen: Sei es Demokrit, der das erste Atommodell aufstellte oder sei es Hippokrates, der die Grundlagen für unsere Medizin legte und dessen Eid in leicht abgeänderter Form noch heute die ärztliche Ethik definiert. Man dringt zum Ursprung der europäischen Kultur vor und nur dadurch versteht man, wie die grossen Themen und Probleme unserer Zeit funktionieren.
Die Auseinandersetzung mit den Anfängen der Demokratie und ihrer Kritik daran liefert uns ein vertieftes Verständnis für die Probleme unserer aktuellen demokratischen Prozesse, und durch die Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Gedankenmodellen erweitert sich der eigene Horizont um ein Vielfaches. Man sieht Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln und erlangt die Fähigkeit, mehrere Perspektiven gleichzeitig zu sehen, und genau diese Auseinandersetzung mit verschiedenen Sichtweisen ist Voraussetzung für deren Akzeptanz.
Das Wissen, das man sich so aneignet, ist kein oberflächliches. Heutzutage können die Tugenden, wie sie Platon verstanden hat, innert Sekundenbruchteilen gegoogelt werden, und wenn man etwas über Weltverständnis der Stoiker in Erfahrung bringen muss, liefert Wikipedia umgehend die wichtigsten Stichworte in leicht verdaulichen Häppchen. Wir kriegen via Social Media eine unendliche Vielzahl vorgekauter Meinungen direkt vor unsere Füsse gespuckt, und die meisten “verstehen“ den Schulstoff nur dann, wenn sie die Inhalte der Videos von Youtube-Kanälen wiederkauen, wo ihnen den Stoff portionenweise eingelöffelt wird.
In einer Zeit, in der uns jederzeit eine Überfülle von ungeordnetem Wissen per Knopfdruck zur Verfügung steht, stärkt das Altgriechische vor allem auch eine geistige Unabhängigkeit, die wichtiger ist denn je.
Die Fähigkeit, verschiedene Dinge miteinander zu verknüpfen und zu verstehen, wie komplexe Inhalte zusammenhängen, gehen verloren, wenn man nur noch kleine Bruchstücke eines grösseren Themenfeldes auswendig lernt, ohne das grosse Ganze dahinter zu begreifen. Selbst zu erkennen, was hinter einem Thema steckt, sich selbst differenziert damit auseinanderzusetzen, das gehört zu dieser Unabhängigkeit.
Es gehört mehr denn je eine gehörige Portion Mut und Ehrgeiz dazu, Altgriechisch zu wählen; besonders heute, wo sich alles um schnellen vordergründigen Nutzen und vor allen Dingen ums Geld dreht. Griechisch zu wählen, kann man definitiv nicht als eine ökonomische Entscheidung bezeichnen. Und das soll sie auch nicht sein.
Aber es braucht Mut und Biss und Unabhängigkeit, dieses Fach zu meistern: Qualitäten, die angesicht der gegenwärtigen weltweiten Herausforderungen mehr den je vonnöten sind. Deshalb soll es weiterhin Fächer geben, die einem die Möglichkeit bieten, sich vertieft mit den Ursprüngen unserer Kultur auseinanderzusetzen, die Empathie und Perspektiven fördern und die zu geistiger Unabhängigkeit beitragen. Es braucht mehr Altgriechisch und Latein – nicht weniger. Wie man einen Computer bedient, lernen wir auch sonst noch.
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Die Schülerinnen und Schüler wählen die Themen, die sie im Journal21.ch behandeln, selbst.
Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected]).
Das Realgymnasium Rämibühl (RG, bis 1976 Realgymnasium Zürichberg) ist ein Langzeitgymnasium. Es ist neben dem Literargymnasium die einzige öffentliche Schule des Kantons Zürich, die einen zweisprachigen Bildungsgang in Verbindung mit dem International Baccalaureate anbietet, wobei die Fächer Geographie, Biologie und Mathematik auf Englisch unterrichtet werden. Zu den berühmten Schülern gehören Max Frisch und Elias Canetti.
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.rgzh.ch