Der Franzose Jacques Delors war der erfolg- und einflussreichste Kommissionspräsident in der Geschichte der EWG/EG/EU. Mit dem Binnenmarktprogramm und der Einheitlichen Europäischen Akte hauchte er der EG ab 1985 neues Leben ein. Zudem zeichnete er für den Plan verantwortlich, der um die Jahrtausendwende zur Schaffung der Einheitswährung Euro führte.
Jacques Delors war von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission. Gleich bei seinem Amtsantritt in Brüssel lancierte er das Programm zur Vollendung des Binnenmarkts bis Ende 1992. Damit das möglich wurde, forderte er eine Reform der Grundverträge der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Entscheidungsverfahren in der EG.
Delors hatte festgestellt, dass die Einstimmigkeitsregel bei Abstimmungen im Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedstaaten, ein wesentlicher Grund für die jahrelange Stagnation der EG war. Die Reform wurde in der Folge durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit eingeführt. Das beschleunigte den Entscheidungsprozess in der EG enorm. Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit seien der «Tiger im Motor» der europäischen Integration gewesen, sagte Delors später einmal in einem Interview.
Damit das Binnenmarktprogramm und der revidierte EG-Vertrag, der den sperrigen Namen Einheitliche Europäische Akte erhielt, Wirkung erzielen konnten, schlug Delors 1987 auch neue budgetäre Bestimmungen vor. Die Staats- und Regierungschefs der EG nahmen das Massnahmenbündel, das später «Delors Paket I» genannt wurde, Anfang 1988 an. Damit war gemäss Delors ein «Triptychon» von Reformen für die EG Tatsache geworden.
Der EWR – eine Fehlkalkulation
Die EG ritt nun auf einer Erfolgswelle. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), einer Art Konkurrenzorganisation zur EG, sahen die Dynamik, die diese Reformen ausgelöst hatten, mit Argwohn. Sie befürchteten wirtschaftlich abgehängt zu werden. Manche EFTA-Länder überlegten sich deshalb, der EG beizutreten. Das war auch Delors nicht entgangen. Um die EFTA-Staaten von einem Beitritt abzuhalten, schlug er ihnen 1989 die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) vor. Die EFTA-Länder hätten sich dabei am Binnenmarkt beteiligen können, wären aber nicht Mitglied der EG geworden. Für Delors hatte die Vertiefung der europäischen Integration nämlich Vorrang vor der Erweiterung. Er hatte immer noch die Ergänzung des Binnenmarkts mit einer einheitlichen EG-Währung im Hinterkopf.
Doch der Plan schlug fehl. Österreich, Norwegen, Schweden, Finnland und auch die Schweiz bewarben sich trotz EWR um eine EG-Mitgliedschaft. Der EWR wurde schliesslich nur mit Norwegen (dessen Bevölkerung einen EG-Beitritt in einer Abstimmung abgelehnt hatte), Island und Liechtenstein verwirklicht. Die Schweizer Bevölkerung sagte 1992 in einer denkwürdigen Abstimmung Nein zum EWR. Der Bundesrat legte daraufhin das EG-Beitrittsgesuch auf Eis und zog es Jahre später ganz zurück. Österreich, Schweden und Finnland traten der EU, wie die EG inzwischen hiess, 1995 bei.
Der Euro – Ergänzung zum Binnenmarkt
Fast gleichzeitig mit dem EWR trieb Delors die Idee einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) mit einer einheitlichen Währung voran. Die Staats- und Regierungschefs der EG machten ihn in der Folge zum Vorsitzenden eines Ausschusses, der dieses Vorhaben vorbereiten sollte. 1989 legt der Ausschuss seinen Rapport vor, der den Namen «Delors-Bericht» erhielt. Er postulierte, dass die WWU mit der einheitlichen Währung in drei Stufen realisiert werden sollte. Der Bericht wurde zur Blaupause für Verhandlungen unter den EG-Mitgliedstaaten, die 1992 in Maastricht zu einem neuen Grundvertrag führten. Die Europäische Union (EU) und die Einheitswährung Euro waren geboren. Diese wurde 1999 als Buchgeld und 2002 auch als Bargeld eingeführt.
Für den Sozialisten und ehemaligen Gewerkschafter Delors war seit seinem Amtsantritt als Kommissionspräsident im Jahr 1985 klar gewesen, dass der Plan für einen Binnenmarkt um eine soziale Dimension ergänzt werden musste. 1989 gelang es ihm dabei, die Staats- und Regierungschefs der EG zur Verabschiedung einer Charta der sozialen Rechte zu bewegen. Und 1992 konnte er in Maastricht durchsetzen, dass ein Kapitel über Sozialpolitik in den neuen EU-Grundvertrag aufgenommen wurde.
Ein letztes Mal machte Delors von sich reden mit einem zweiten Budgetpaket. Dieses hatte zum Ziel, die finanziellen Mittel zur Umsetzung des Vertrags von Maastricht bereitzustellen. Das sogenannte Delors-Paket II wurde Ende 1992 von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten abgesegnet.
Die Kommission unter Delors – eine One-Man-Show
Delors war Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre das Gesicht der EG/EU. Sein Erfolg und Einfluss als Kommissionspräsident beruhten darauf, dass er eine Vision der EG/EU hatte, es verstand, diese Vision zu verkaufen – nicht zuletzt den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten – und ein guter Kompromisseschmied war. Doch seine Vision eines immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Nationen sowie einer föderal und supranational organisierten EG/EU wurde ihm – vor allem in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit – auch zum Verhängnis. Er überschätzte den Willen der Mitgliedstaaten zu einer solchen EG/EU, und er sah den Widerstand in der Öffentlichkeit gegen eine immer einflussreichere EG/EU nicht kommen.
Delors war jedoch nicht nur ein Mann der weitreichenden Visionen. Er beschäftigte sich auch mit den Details der EG/EU. So arbeitete er oft persönlich an den Dokumenten, die die Kommission dem Ministerrat und dem Parlament vorlegte. Dabei pflegte er einen eher autoritären Stil und griff oft – die offiziellen Wege vernachlässigend – auf persönliche Netzwerke zurück. Die Kommission machte er zu einer One-Man-Show. Gleichwohl ist es vermessen, die Erfolge der Kommission von 1985 bis 1995 nur Delors allein zuzuschreiben. Herausragende Figuren während seiner Amtszeit waren etwa auch der Brite Lord Arthur Cockfield (zuständig für den Binnenmarkt), der Ire Peter Sutherland und der Brite Sir Leon Brittan (beide zuständig für die Wettbewerbspolitik) sowie der Belgier Karel van Miert (nacheinander zuständig für die Transport- und Wettbewerbspolitik).
Verzicht auf Präsidentschaftskandidatur in Frankreich
Nach seinem Ausscheiden aus der Kommission im Jahr 1985 zog sich Delors aus der Politik zurück und setzte sich in Frankreich zur Ruhe. Er verzichtete auf eine Kandidatur zur Nachfolge von Staatspräsident François Mitterrand, obwohl er als aussichtsreichster Bewerber des Parti socialiste gegolten hatte. «Nach Überlegung bin ich zum Schluss gekommen, dass die Absenz einer kohärenten Mehrheit es mir nicht erlauben würde, die Reformen durchzuführen, die ich für unerlässlich halte», begründete Delors seinen Entscheid in seinen Memoiren. «Er wollte nicht König sein», schrieb die Zeitung «Le Monde» dazu. Delors starb am Mittwoch, 27. Dezember 2023, im Alter von 98 Jahren.