Der Südostgrat des Piz Mitgel bei Savognin wurde bereits 1908 erstmalig bestiegen. Heute wird er aber selten begangen. Die lange Kletterei öffnet viel Raum für Gedanken und Fragen.
Folgsame Rinder
Aus dem Nebel taucht der Zackengrat auf, und wir können die Stirnlampen ausschalten. Auf der Alp Tigiel ob Savognin liegen die Kühe im Halbdunkel regungslos im nassen Gras, für das Schweizer Braunvieh ist offenbar noch nicht Frühstückszeit. Zwei Rindli erheben sich aber und fangen an, hinter uns her zu trotten. Sie lassen sich nicht mehr abschütteln. Von Zeit zu Zeit spüre ich einen Stoss von hinten an den Rucksack. Sollen wir schneller laufen oder ist es die Andeutung eines Gesprächsversuchs? Für Hunde hätte ich ein Stück Medelser Wurst dabei, aber wie kommuniziert man mit Kühen morgens um halb sechs?
Wenig später beginnt der Aufstieg durch steile Schutthalden in ein Couloir, das auf den Grat führt. Oben finden wir einen kleinen Platz, um Seil und Klettergurt anzulegen. Aufpassen aufs Gleichgewicht. Der Grat mit seinen Türmen ragt vor uns schwarz in den hellen Himmel, als wollte er sagen: Passt auf Jungs, wer hier weiter geht, wird sein blaues Wunder erleben. Der Morgenwind kühlt angenehmen den Schweiss des Aufstiegs.
Man fragt sich in solchen Momenten stets von neuem: Warum mache ich das? Was ist die Motivation? Warum habe ich mich jetzt eine Stunde lang über nasses Geröll diese verdammt schlüpfrige, düstere Schlucht hochgewürgt, in der noch ein paar verrostete Stücke Drahtseil hängen aus frühen Zeiten? Warum wache ich nicht jetzt im warmen Bett auf und freue mich auf Morgenzeitung und Kaffee?
Terra incognita
Das Verlassen des sicheren Weges, das Vordringen in die Zone der Unsicherheit und Gefährdung ist selbstverständlich auch eine Tour nach innen, in die eigene Psyche. Ist es Erlebnishunger in einer überversicherten und langweiligen Gesellschaft? Ist es Leistungszwang, Geltungsbedürfnis und Rollenkonstruktion nach der Devise: Ich kann, was andere nicht können? Es ist sicher ein wenig von all dem.
Terra incognita: Der Begriff evoziert mindestens zwei widersprüchliche Regungen. Zum einen die Entdeckungslust des Kindes, das sich die Welt aneignet, das Klettervergnügen als spannendes Spiel, zum andern die Angst vor dem Unbekannten, vor dem Risiko. Klettern sei die Kunst, den schmalen Grat zwischen Wahnwitz und Feigheit zu begehen, schrieb einmal der Kletterer und Schriftsteller Roland Heer.
Neueste Sicherungstechnik
Der Südostgrat des 3157 Meter hohen Piz Mitgel wurde laut SAC-Führer am 5. Juli 1908 zum ersten Mal begangen. Einen Moment lang streift mich ein Tagtraum: Zwei Gestalten mit ihren Filzhüten und ihren Jägerrucksäcken auf dem langen Zackengrat. Es ist kaum zu glauben. Wieviel Wagniskompetenz und Angstkontrolle müssen diese Bergsteiger gehabt haben, die mit den damaligen Mitteln solche Touren machten? Mit ihren Nagelschuhen, ihren dicken Hanfseilen, ihrer schweren Ausrüstung. Ob sie schon Hammer und Eisenhaken mit sich führten, ist unklar. Sie waren wahrscheinlich so trittsicher, dass sie frei gingen und nur an wenigen exponierten Stellen das Seil um Steinzacken laufen liessen, um auf Reibung zu sichern.
So macht es Bergführer David Hefti nun zwar auch, wir gehen meist frei am kurzen Seil. Aber an den ausgesetzten Stellen klettert er eine halbe Seillänge voraus und baut einen Stand mit Klemmkeilen und Friends, modernem Hightech-Gerät, das eine hohe Sicherheit garantiert. Also kann keine Rede sein von grossem Wagnis und Gefahr. Ich bin in diesem Augenblick ein „User“ der Berge und Konsument in der Erlebnisindustrie wie viele andere auch. Und für einmal bin ich der oft kritisierten Outdoor-Branche dankbar für die wunderbaren Leichtmetall-Geräte, die das Sportklettern sicher und genussvoll machen können.
Der SAC-Führer stuft den Südostgrat als „ziemlich schwierig“ (ZS) ein und kommentiert: „Dieser zum Teil scharfe Grat bietet abwechslungsreiche Kletterei; allerdings ist die Felsqualität keineswegs hervorragend.“ Tatsächlich ist das einzig Unangenehme, wie wir bald merken, das stark erodierte, splitternde Dolomitgestein, das typisch ist für die Bergüner Gipfel. Hier und da brechen Griffe aus, und dann hört man die Steine tief unten aufschlagen.
Was ich an dem jungen Bergführer beobachte, ist seine Ruhe und Gelassenheit. Natürlich fühlt er sich bei dieser für ihn leichten Kletterei völlig sicher. Ein äusseres Gleichgewicht, das dem inneren entspricht. Eine Sentenz, die einem Zen-Meister zugeschrieben wird, kommt mir in den Sinn: „Wenn du den Ball treffen willst, musst du in dich hinein schauen.“
Schöner Aussichtsplatz
Ein paar Türme werden überklettert, und nach etwa drei Stunden steht man – wie es im SAC-Führer heisst – „vor der grossen gelben Plattenwand am Beginn des Steilaufschwungs des Südostgrates. Diesen Aufschwung kann man entweder schwierig direkt über die Kante ersteigen oder leichter, gleichwohl ausgesetzt, auf der Südseite umgehen.“
„Hoppla, was ist denn das?“ sagt David. „Da hat es ja ein paar neue Bohrhaken.“ Also kein Problem, direkt hinauf über die Platte. Oben geht es zwei-drei Meter nach rechts an die Kante, wo David Stand eingerichtet hat. „Ist das nicht ein wunderschöner Aussichtsplatz?“ ruft er. Wir stehen auf einer fussbreiten Rippe, unter mir sind gefühlte tausend Meter Luft.
Die Grenze des Alters
„Die Fortsetzung über den Grat zum Gipfel bietet keine besonderen Schwierigkeiten mehr“, sagt der SAC-Führer, und so ist es. Auf dem Gipfel hocken ein paar Leute, die über den Normalweg hochgestiegen sind. Einer hält sich am Gipfelkreuz fest und sagt: „Ich habe nicht hinschauen können, wie ihr über den Grat geklettert seid.“ Die Tour sei mein wunderschönes Geburtstagsgeschenk gewesen, erkläre ich. Und während ich dies sage, kommt mir in den Sinn, dass das Klettern ein Ende nehmen wird mit dem zunehmenden Alter und seiner Gebrechlichkeit. Aber natürlich verhält es sich mit der Kletter-Passion wie mit jeder anderen Liebe: Sie ist nie intensiver als angesichts ihrer Endlichkeit.
Ein Apfel, ein Stück Käse und ein Rest Tee. Tief unter uns auf der Südseite liegt Savognin in der Mittagshitze, im Osten steht das Tinsenhorn, und auf der Nordseite sieht man hinab ins Albulatal. Die Finger sind aufgerissen vom scharfkantigen Gestein. Das nächste Mal nehme ich ein Paar Velohandschuhe mit. Die hätten sicher einen guten Dienst getan.