Das Städtchen Dieulefit, an der Grenze zwischen dem Dauphiné und der Provence, 30 Kilometer östlich von Montélimar im Rhonetal, ist ein Ort der Gerechten. 15 Personen sind hier im Lauf der letzten Jahrzehnte von Yad Vashem zu «Gerechten unter den Nationen» ernannt worden, weil sie in den Jahren 1940 – 44 Juden versteckt und gerettet hatten. Mitte März werden posthum noch zwei weitere hinzukommen.
«Un Juste – ein Gerechter»
Ausgerechnet an diesem Ort die Nachricht vom Tod Stéphane Hessels zu erhalten, geht unter die Haut, um so mehr, als man am nächsten Morgen beim Kauf der Tageszeitung «Liberation» unter dem Photo des Verstorbenen, das die gesamte Titelseite einnimmt, die zwei Worte liest: «Un Juste – ein Gerechter». Er hätte gut nach Dieulefit gepasst, meinte wenig später ein dort ansässiger Historiker beim Blick auf die Zeitung.
Dabei ist ein kleiner Teil von Stéphane Hessels turbulenter Lebensgeschichte ohnehin mit dieser 3000 Einwohnergemeinde im Departement Drôme verknüpft. Unter den rund 1500 politisch und rassisch Verfolgten, die sich während der Besatzung durch Nazideutschland in das beschütztende Dieulefit gerettet hatten, befand sich auch der Kunstsammler und Schriftsteller, Henri-Pierre Roché. Er hat hier 1943 mit der Niederschrift seines später von Francois Truffault verfilmten Romans «Jules et Jim» begonnen – die Geschichte der Dreierbeziehung zwischen ihm, Roché und Stéphane Hessels Eltern - Helen Grund und Franz Hessel. An diesem Ort hatte Henri-Pierre Roché auch die Nachricht vom Tod seines Freundes Franz Hessel ereilt. Dessen Sohn, Stéphane, war damals, 1941, bereits bei De Gaulle in London gewesen.
Der aufrechte Gang
Es mag abgedroschen klingen und doch war es so. Stéphane Hessel ist gestorben, wie er gelebt hat, nämlich aufrecht. Noch vier Monate vor seinem Tod sass er über mehrere Stunden im Pariser «Theatre de la Ville» bei einer Podiumsdiskussion auf der Bühne und wurde vom prall gefüllten Saal gefeiert. Liess es sich auch da nicht nehmen, einige von hunderten Gedichten, die er noch auswendig kannte, zu rezitieren – auf englisch, französisch oder deutsch – Gedichte, die er seiner Mutter, Helen Grund, zu vedanken hatte. Wenn Stéphane Hessel sprach, wenn er in den letzten Jahren in hunderten Interviews tausende Fragen beantwortete, dann war es - besonders im deutschen – so, als würde er Gedichte rezitieren – es klang, es schwebte und war prononciert, auch wenn es um ganz banale Themen ging. Vom Tod, der da jetzt kommt, sprach er seit gut einem Jahr ganz offen und ausgesprochen unspektakulär. Ein plötzlicher Tod wäre natürlich der schönste, hat er zuletzt mehrfach geäussert. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt.
Bescheidenheit in Person
Stéphane Hessels Wohnung in einer unauffälligen Seitenstrasse des 14. Pariser Arrondissement sprach Bände über die Person des alten Herrn und über seine Bescheidenheit, zu der wahrlich nicht passt, dass einige Intellektuelle und Politiker am Tag nbach seinem Ableben eine Initiative gestartet haben, um Stéphane Hessel ins Pantheon zu überführen. Der ehemalige Widerstandskämpfer, langjährige Diplomat und Botschafter Frankreichs lebte in einer 2 Zimmer Wohnung auf knapp 50 Quadratmetern – Wände mit warmen Farben, gedämpftes Licht aus schönen Stehlampen, ein prächtiger Blumenstrauss, in den Regalen die Bücherrücken alter Gesamtausgaben, einige von der Mutter überlieferte Gemälde an den Wänden und Möbel aus der Zeit der vorhergehenden Jahrhundertwende im Wohn- und Esszimmer, wo in den letzten Jahren sicher hunderte Kamerateams ihre Stative und ihr Licht aufgebaut hatten, empfangen von einem Stéphane Hessel, der ihnen stets in Anzug und Krawatte entgegen trat – in diesem Punkt war er ein Herr der alten Schule geblieben, mit Haltung und perfekten Manieren. Hatte seine Frau während der Interviews das Pech, zu Hause zu sein, musste sie sich in das einzig verbleibende andere Zimmer, ins Schlafzimmer zurückziehen. Sie wird in diesen Jahren das kleine Bändchen und seinen unerwarteten Erfolg sicher mehr als ein Mal verdammt haben.
Empört Euch !
«Indignez-vous» war eigentlich kein Essay, sondern eine Art Aufschrei, eine Anhäufung von einigen grundlegenden, fast banalen Wahrheiten über Recht und Unrecht, Auseinanderdriften von Arm und Reich, über die Bedeutung der Menschenrechte oder über die Finanzwelt, welche die Politik in eine Statistenrolle gedrängt hat - Sentenzen, die offensichtlich haargenau den Nerv der Zeit trafen und diesen unglaublichen Wiederhall fanden, vielleicht auch, weil sie aus der Feder eines Mannes stammten, der wie kaum ein anderer Zeuge des gesamten 20. Jahrhunderts war und durch seine persönliche Lebensgeschichte ein hohes Mass an Glaubwürdigkeit verkörperte.
Mehrere Leben
In Berlin geboren, im Alter von 7 in Paris, nur wenige Jahre nach Ende des ersten Weltkriegs, eingeschult, weil seine Mutter Henri Pierre Roché- Jim in Truffaults Film - gefolgt war, schaffte er es auf die berühmte Ecole Normale Supérieur, begegnete in jungen Jahren dank der Kontakte seiner Mutter, die u.a. als Kunstkritikerin arbeitete, der Welt der Künstler von Montparnasse, Picasso einbegriffen. Hessel wurde im Alter von 20, zur Zeit der Volksfront, französischer Staatsbürger und ging bereits Ende 1940 in den Widerstand zu De Gaulle nach London. Anfang 1944 wurde er bei einer Geheimaktion in Paris von der Gestapo verhaftet, in der Avenue Foche tagelang brutal gefoltert - darüber hat er niemals gesprochen - und anschliessend nach Buchenwald verschickt. Dort stand er schon fast vor dem Hinrichtungskommando, als ihm kein geringerer als Eugen Kogon das Leben rettete, indem er Stéphane Hessel half, seine Identität mit einem gerade verstorbenen Häftling zu tauschen.
Jahrzehnte später sollte Eugen Kogons Sohn einen Band von Stéphane Hessels Lieblingsgedichten ins Deutsche übersetzen.
Die Quelle seines Engagements
Die Nachkriegszeit war für den Verstorbenen bestimmt gewesen durch die jahrelange Beschäftigung mit dem Thema der Menschenrechte. Als junger Beamter arbeitete er in der Umgebung von René Cassin, bis die „Universelle Erklärung der Menschenrechte“ 1948 in Paris verabschiedet wurde. Seine diplomatischen Tätigkeiten führten ihn mehrere Jahre nach Vietnam, anschliessend ins unabhängig gewordene Algerien und schliesslich mehrere Jahre nach Genf. Francois Mitterrand erhob den Weltbürger Stéphane Hessel 1981 kurz vor seiner Pensionierung in den Stand eines Botschafters, der sich bis ins hohe Alter für die Menschenrechte, die Integration von Ausländern und ganz besonders für die Regularisierung von illegalen Einwanderern engagieren sollte.
Die Quelle seines Engagements bis in die letzten Monate seines Lebens waren die Erfahrungen in der Résistance und im Konzentrationslager Buchenwald. „Ich empfinde mich als einen verantwortlichen Überlebenden“, hat er in einem Interview gesagt, „und das bedeutet, dass ich mich in Erinnerung an die Verstorbenen einsetzen muss für eine demokratische, eine bessere und eine sichere Welt. Deshalb ist es für mich ganz natürlich, dass ich mich engagiere, wenn es Gelegenheiten dazu gibt.„
Problem für Kritiker
Die jedenfalls, die den Inhalt seiner kleinen Schrift «Indignez vous« auf Herz und Nieren prüfen wollten, wie man das bei einem wirklichen Essay eben so tut, und zu dem Schluss kamen, das Ganze sei nicht sonderlich gehaltvoll, haben sich letztendlich lächerlich gemacht. Stéphane Hessel hatte mit der Herausgabe dieses «Büchleins», wie er es nannte, nie den Anspruch erhoben, einen Essay oder ein durchdachtes Konzept vorzulegen, beileibe keine Strategie verfolgt und mit damals fast 93 Jahren bestimmt nicht nach einer Möglichkeit gesucht, noch einmal berühmt zu werden.
Er hatte diesen, im übrigen handgeschriebenen, seit geraumer Zeit existierenden Text, auf Anfrage einer kleinen, am Existenzminimum lebenden Verlegerin in Montpellier zur Verfügung gestellt, sie hat den Titel «Indignez-vous« erfunden, das Bändchen für 2,50 Euro herausgegeben und damit basta. Danach geschah, was geschah – über vier Millionen Exemplare in 100 Ländern wurden verkauft und die Indigniados in Spanien, in Griechenland, in Israel und den USA waren Monate lang das praktische, das lebende Pendant zu Hessels 30 seitigen Text.
Sarkozy – der Auslöser
Was man dabei allerdings schon wieder fast vergessen hat, ist die Tatsache, dass man Stéphane Hessels Streitschrift letztlich dem ehemaligen französischen Präsidenten, Nicolas Sarkozy und seinem flegelhaften Verhalten zu verdanken hat.
Wenige Wochen bevor er 2007 zum Präsidenten gewählt worden war, hatte er sich, ohne jemanden zu fragen und mit einem Tross von Kameras im Schlepptau, auf das Glières- Hochplateau in den Alpen von Hochsavoyen begeben – neben dem Vercors der wichtigste symbolische Ort des französischen Widerstands gegen die deutschen Besatzer während des 2. Weltkriegs. Als eilig herbeigeeilte ehemalige Widerstandskämpfer dem angehenden Präsidenten erklären wollten, was sich hier 1944 wirklich zugetragen hatte, liess Sarkozy vor laufenden Kameras die Veteranen mehr oder weniger links liegen, begann mit einigen Frauen in der Nähe zu schäkern und vom Wetter zu sprechen.
Das berühmte "Büchlein"
Für alle ehemaligen Widerstandskämpfer im Land war dieser Auftritt Sarkozys auf dem Hochplateau in Savoyen ein echter Affront. Diesen Ort für Wahlkampfzwecke einfach so für sich vereinnahmt und zu seiner künftigen Pilgerstätte erklärt zu haben, hat man Sarkozy in diesen Kreisen nie verziehen. Ja mehr noch: ein «Verein der Widerstandkämpfer von damals und heute» wurde gegründet, der seit 2008 ein Mal jährlich im Mai zu einem Treffen auf das Hochplateau lädt, an dem zuletzt bis zu 5.000 Menschen teilgenommen haben – nach dem Motto: diesem Präsidenten überlassen wir diesen Ort nicht kampflos.
Eine Art Gegenveranstaltung zu Sarkozys jährlichem Besuch, bei der es in Reden und Seminaren u.a. um die Macht des Finanzsektors, um die Grundfreiheiten oder den Sozialabbau ging, wobei die ehemaligen Widerstandskämpfer gerne an das generöse sozialpolitische Programm erinnerten, das der Nationale Widerstandsrat in den damals so schwierigen Zeiten entworfen hatte. Ein Programm, das unter dem Zeichen der sozialen Gerechtigkeit stand und die Grundlage für weite Bereiche der Sozialpolitik im Nachkriegsfrankreich bilden sollte. Bei der 2. Ausgabe dieser Gegenveranstaltung, am 17. Mai 2009, hatte Stéphane Hessel eine flammende Rede gehalten, sich besonders an die jungen Teilnehmer gewandt und sie dazu aufgerufen, sich doch zu empören über die Zustände in unserer Welt. Aus dieser Rede war dann, 8 Monate später, das berühmte «Büchlein» hervorgegangen.
Moral und Politik
Der Erfolg des Buchs hat Stéphane Hessel ein schier unglaubliches Gewicht nicht nur in der französischen Öffentlichkeit gegeben und er hat es geschafft, dass plötzlich, nach Jahre langem Zynismus, nach der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise das Wort «Moral» in der Politik nicht mehr nur einfach müde belächelt werden kann. Stéphane Hessel selbst lächelte eigentlich ständig, zumindest strahlten seine Augen ein permanentes Lächeln aus, er war die personifizierte Höflichkeit und Umgänglichkeit, zuvorkommend und sanftmütig. Um so stärker wirkten seine Worte, seine Empörung. »Wenn man sieht“, so Stéphane Hessel in einem Interview, „dass die Politik, die gemacht wird, nicht in Richtung Gerechtigkeit und gerechte Verteilung der Reichtümer geht, dann kommt Wut auf.“
Sicher hätte er dieser Tage geradezu schelmisch über den Erfolg der Abzocker-Initiative in der Schweiz gegrinst und darüber, dass ausgerechnet das Land der Geheimkonten und Banksafes, das Synonym für grössten Reichtum und das ganz grosse Geld, etwas konkret und schnell getan hat, während in anderen Ländern wie Frankreich und ganz besonders in Brüssel nur viel und blumig geredet wird. Er hätte sich bestätigt gefühlt, dass trotz aller Unkenrufe doch noch etwas zu machen ist, dass die Dinge sich in unseren Gemeinwesen auch ins Positive wenden können, wenn man von einer Sache nur genügend überzeugt und der Atem genügend lang ist.
Alter zorniger Mann
Hessel hat die Empörung als Voraussetzung für das Kreative und den Wandel verstanden. War denn nicht gerade eine gewisse „Empörung“ über astronomische Gehälter und Prämien für Manager letztlich der Ausgangspunkt fûr die Abzocker- Initiative ?
Im deutschen Sprachraum war man versucht, in Erinnerung an die Haltung eines Heinrich Bölls oder Helmut Gollwitzers während der 70-er Jahre, Stéphane Hessel mit dem Prädikat «alter zorniger Mann» zu belegen. Dies liess der Zeuge des Jahrhunderts aber nicht gelten. Zorn, das habe ihm, während seiner ersten Lebensjahre in Berlin, schon sein Kindermädchen beigebracht, Zorn sei nicht gut und führe zu nichts. Du musst versuchen, die Menschen mit Argumenten zu überzeugen, habe sie ihm, dem Berliner Kindl, immer wieder gesagt. Der umgängliche, stets vermittelnde, elegant – höfliche Stéphane Hessel hatte diesen Ratschlag seines deutschen Kindermädchens ganz offensichtlich bis an sein Lebensende nicht vergessen.