Im Grunde haben die laufende Parlamentsdebatte über ein neues, umfassendes Sicherheitsgesetz mit seinem höchst umstrittenen Artikel 24 und die öffentliche Debatte in Frankreich über zunehmend beunruhigende Formen von Polizeigewalt nicht direkt etwas miteinander zu tun. Doch sie fielen nun mal zeitlich zusammen und bildeten innerhalb weniger Tage ein äusserst explosives Gemisch, das die französische Regierung und die Parlamentsfraktion von Präsident Macrons Mehrheitspartei LREM ins Wanken bringt und sie wie einen aufgescheuchten Hühnerhaufen aussehen lässt. Ja, Gérald Darmanin, erst seit Juni Frankreichs neuer Innenminister, der bei beiden Themen im Zentrum der Kritik steht, sieht sich fast täglich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert.
«Sécurité globale»
Im Grunde sollte dieser von langer Hand vorbereitete Gesetzestext zur «umfassenden Sicherheit» in erster Linie die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichsten Ordnungskräften besser regeln, also zwischen Polizei, Gendarmerie, Gemeindepolizisten, privaten Ordnungskräften und auch zwischen den verschiedenen Gerheimdiensten. Eine längst überfällige Initiative, die für Polemik im Grunde keinerlei Anlass gab. Doch dann kam Innenminister Gerald Darmanin.
Freund der Polizei
Der junge und ehrgeizige Minister, der 2017 als Konservativer auf den Zug von Emmanuel Macron aufgesprungen war und seit dessen Wahlsieg das Schatzministerium bekleidete, ist ein waschechter Sarkozy-Boy, der sich seit seinen Lehrjahren im Schlepptau des ehemaligen Staatspräsidenten die Themen Innere Sicherheit und Law and Order auf seine Fahnen geschrieben hatte und schon seit langem mit den weit rechts stehenden Polizeigewerkschaften beste Kontakte pflegte.
Mit dieser Vita und diesen Empfehlungen ist er von Präsident Macron bei der letzten Regierungsumbildung im Juni nicht zufällig, sondern sehr bewusst in das Schlüsselministerium des Inneren berufen worden, bereits mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 und der Hoffnung, dank dieser Personalentscheidung Wähler, deutlich rechts von der Mitte, für sich gewinnen zu können.
Und dieser Innenminister war es nun, der – zum angeblichen Schutz der Polizei – den berüchtigten Paragraphen 24 in das neue Gesetz zur globalen Sicherheit eingeschoben hat und damit dem ausdrücklichen Wunsch von zwei rechtslastigen Polizeigewerkschaften nachkam.
Ursprünglich sollte dieser ominöse Absatz vor allem verhindern, dass – wie in der Vergangenheit tatsächlich schon häufiger geschehen – Fotos oder Filmaufnahmen, auf denen die Gesichter von Polizisten zu erkennen sind, von Kleinkriminellen, Dealern oder Radikalislamisten mit Angaben zur Person ins Netz gestellt werden und einzelne Ordnungskräfte dort Opfer von gezielten Hasskampagnen werden können.
Doch so wie der Gesetzesabsatz jetzt daherkommt, stellt er auch schlicht das Filmen von Polizisten, etwa bei Demonstrationen, unter Strafe, wenn die Aufnahmen «die körperliche oder seelische Unversehrtheit von Beamten verletzen könnten». Wer solche Bilder mit bösartigen Absichten im Netz oder auch anderswo veröffentlicht, dem sollen nun ein Jahr Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 45’000 Euro drohen.
Ein Aufschrei
Nach einem kurzen Moment des allgemeinen Staunens und der schieren Ungläubigkeit ging ein Aufschrei gegen diesen massiven Angriff auf Presse- und Bürgerrechte durchs Land. Zumal Innenminister Darmanin eine Zeitlang sogar mit dem Gedanken, besser gesagt mit der Schnappsidee, gespielt hatte, wonach sich Journalisten künftig für Demonstrationen sogar akkreditieren lassen müssten.
Daraufhin demonstrierten am vergangenen Samstag bereits zum zweiten Mal landesweit und trotz Covid-19 gut 200’000 Menschen gegen diesen Artikel 24. Unter ihnen war alles vertreten, was in Frankreich als Verteidiger von Grund- und Menschenrechten Rang und Namen hat, sowie abertausende Vertreter sämtlicher Medien, die darin einen frontalen Angriff auf die freie Berichterstattung sehen. Fernsehanstalten zum Beispiel wiesen darauf hin, dass eine live Berichterstattung über Demonstrationen in der Praxis mit diesem Gesetzesparagraphen nicht mehr möglich wäre. Zudem könnten die Ordnungskräfte künftig die Berichterstattung im Vorfeld verhindern, indem sie Kameras oder Handys, die auf sie gerichtet sind, beschlagnahmen, oder jene, die Polizeigewalt dokumentieren, einfach festnehmen. Willkür und Machtmissbrauch wären Tür und Tor geöffnet.
Der Direktor der Redaktion von «Le Monde» zum Beispiel, Jérôme Fenoglio, der nur bei ganz wichtigen Anlässen selbst zur Feder greift, nahm kein Blatt vor den Mund und schrieb am Tag der Demonstration in einem Leitartikel: «Die von Emmanuel Macron berufene Regierung und der Präsident selbst haben offensichtlich grösste Probleme damit, die Informationsfreiheit zu respektieren.»
Amateurhaft
Alles in allem haben sich Frankreichs Regierung und Macrons parlamentarische Mehrheit in dieser Angelegenheit wie stümperhafte Amateure gebärdet, die nicht so recht zu wissen scheinen, was es bei einem Gesetzgebungsverfahren zu beachten gilt. Die Abgeordneten der Regierungspartei «La République en Marche» hatten dieses Gesetz über die globale Sicherheit mit dem heftig umstrittenen Artikel 24 – wenn zum Teil auch zähneknirschend – in der Nationalversammlung bereits abgesegnet. Da der grosse Druck aus der Öffentlichkeit aber nicht nachliess und auch Emmanuel Macron die kalte Wut gepackt haben soll ob der Stümperhaftigkeit seiner Parlamentarier und der Tatsache, dass der Präsident selbst, seine Regierung und seine parlamentarische Mehrheit jetzt in der Öffentlichkeit plötzlich als Gegner der Grundfreiheiten dastehen, ruderten die Parlamentarier von Macrons Partei LREM unmittelbar wieder zurück und verkündeten, den Artikel 24 nun von Grund auf neu formulieren zu wollen und dies, obwohl sie ihn nur wenige Tage zuvor mehrheitlich gutgeheissen hatten. Dass der Gesetzesvorschlag, und zwar mit dem umstrittenen Artikel, nun bereits auf dem parlamentarischen Weg in die 2. Kammer, in den Senat, ist. scheint sie nicht weiter zu stören.
Premierminister legt nach
Den grössten Bock in dieser peinlichen Affäre hat dann auch noch ausgerechnet Regierungschef Jean Castex selbst geschossen, indem er nach den heftigen Protesten einer breiten Öffentlichkeit vorgeschlagen hatte, eine Kommission einzusetzen, die diesen Artikel neu formulieren sollte, so als wäre nicht allein die Nationalversammlung die Legislative und könnten auch andere sogenannte Experten diese Arbeit verrichten. Nur wenige Stunden später musste der Premierminister seinen hilflosen, ja blamablen Vorschlag wieder zurückziehen. Kein Wunder, dass so mancher im Land angesichts des irrlichternden Vorgehens von Präsident Macrons Regierung und seiner Parlamentsmehrheit dieser Tage von einer Krise der Institutionen spricht.
Zur Stunde weiss niemand zu sagen, wie dieses traurige Spektakel, zudem mitten in der Coronakrise, letztlich enden wird. Dabei hätte eigentlich schon von Anfang an jeder Jurastudent im 1. Semester dem Innenminister und den das Gesetz schreibenden Parlamentariern sagen können, dass dieser Paragraph 24, selbst wenn er durch die beiden Kammern des Parlaments kommen sollte, spätestens bei einer Prüfung durch das französische Verfassungsgericht keinen Bestand haben könnte, da er mit den in der Verfassung festgeschriebenen Grundfreiheiten schlicht nicht vereinbar ist.
Polizeigewalt
Doch damit nicht genug. Mitten in diese Debatte über ein mögliches Verbot, Polizisten zu filmen, platzte ein Video, das mittlerweile von mehr als 12 Millionen Franzosen angeschaut wurde und, man darf es so sagen, die Nation aufgewühlt hat.
Es ist das Video einer Überwachungskamera und es zeigt Polizisten – wenn man so will – bei der Arbeit. Drei von ihnen prügeln im Flur vor der Eingangstür zu einem Tonstudio minutenlang mit Fäusten und Schlagstöcken auf einen Mann ein, den man kaum sieht, sondern nur hört, wie er Schmerzensschreie ausstösst und um Hilfe ruft. Bei dem Mann handelt es sich um den farbigen Musikproduzenten und Chef des Tonstudios, Michel Zecler, Anfang 40. Er war ohne Atemschutzmaske, die man in Paris auf der Strasse tragen muss, kurz vorher vor dem Haus angekommen, in dem sich sein Musikstudio befindet, als vier Polizisten hinter ihm auftauchten und ihn ins Innere des Hauses drängten. Wenig später fing die private Überwachungskamera vor dem Tonstudio die oben beschriebenen, erschütternden Bilder ein.
Die Polizisten, die ihr Opfer auch mehrmals als schmutzigen Neger beschimpft haben sollen, wurden nach Bekanntwerden des Videos erst vom Dienst suspendiert, drei von ihnen, nach 48 Stunden Untersuchungshaft, dann auch wegen Gewalttätigkeit und Falschaussagen angeklagt. In ihrem Einsatzbericht hatten sie geschrieben, sie seien von Michel Zecler bei der Kontrolle wegen des fehlenden Atemschutzes tätlich angegriffen worden und hätten sich nur verteidigt.
Eines ist sicher: Gäbe es die nur schwer zu ertragenden Videoaufnahmen nicht, hätte das Opfer heute eine Anklage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt am Hals. Die Aussage eines Schwarzen gegen die von vier weissen Polizisten wiegt, wie man auch aus anderen Affären weiss, nicht sonderlich schwer.
Und insofern haben die Debatte über den umstrittenen Artikel 24 und den möglichen Straftatbestand, Polizisten zu filmen, und die inzwischen heftige Diskussion über zunehmende Polizeigewalt in Frankreich dann doch sehr wohl etwas miteinander zu tun .
Nächstes Beispiel
Das Video von hemmungslos prügelnden Polizisten war nur drei Tage nach anderen Filmaufnahmen erschienen. Jene dokumentierten einen unangemessen brutalen Polizeieinsatz auf der Pariser Place de la République. Aufnahmen, die auf allen Fernsehsendern zu sehen waren und die zeigten, wie ein massives Polizeiaufgebot eine friedliche Demonstration von Asylsuchenden in kürzester Zeit auflöste und die Teilnehmer mit allen Mitteln, bis hin zu Tränengas, vom Platz vertrieb.
Die rund 500 Asylsuchenden hatten sich, begleitet von Hilfsorganisationen, am Abend mit Wurfzelten auf der Place de la République niedergelassenen, um auf ihre wahrlich unerträgliche Lage hinzuweisen. Die Antwort: Sie wurden von den Polizisten regelrecht aus ihren Zelten geworfen .
Wenige Tage zuvor war im Norden von Paris – wieder einmal, muss man sagen, weil es seit Jahren zu einer tristen und zynischen Gewohnheit geworden ist – ein Notlager mit rund 2000 Insassen aufgelöst worden. Rund 1500 unter ihnen waren in Busse verfrachtet und in Notunterkünfte in die Vororte gebracht worden. Rund 500 blieben übrig und wussten seitdem überhaupt nicht mehr, wo sie sich niederlassen sollten. Um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, waren Hilfsorganisationen mit den Betroffenen zur Place de la République gezogen, wo man sie mit allem Zynismus der Macht empfangen hatte.
Jagd auf Asylsuchende
Erst zu Beginn dieser Woche erschienen dann weitere Videos, die die Art und Weise dokumentierten, wie das Notlager der Asylsuchenden mit seinen 2000 Insassen von der Polizei aufgelöst worden war, vor allem aber, wie die 500 Übriggebliebenen in den Stunden danach von Polizisten quer durch den Pariser Norden verfolgt und drangsaliert wurden. Eine der Hilfsorganisationen hatte 60 Handyvideos französischen Radio- und Fernsehstationen überlassen, die unter anderem zeigten, wie Polizeikräfte selbst in Busse der Pariser Verkehrsbetriebe eindrangen und alle, die so aussahen, als könnten sie Asylsuchende sein, auf die Strasse setzten.
Und weiter so
Und was war dann ausgerechnet auch noch bei der Pariser Grossdemonstration letzten Samstag gegen den Artikel 24 im neuen Sicherheitsgesetz geschehen?
Der bekannte syrische Photograph Ameer al-Halbi, der einst den Krieg in Aleppo dokumentiert hatte und seit drei Jahren in Frankreich lebt, für die Nachrichtenagentur AFP und das angesehene Fotomagazin POLKA arbeitet, wurde, obwohl er als Pressefotograf zu erkennen war, bei gewaltsamen Ausschreitungen am Ende der Demonstration von Ordnungskräften mit Schlagstöcken traktiert und, vor allem im Gesicht, unter anderem durch einen Nasenbeinbruch schwer verletzt.
Dieser Vorfall ist das i-Tüpfelchen auf die seit den Gelbwestenprotesten schwelende Krise in Sachen unangemessener Polizeigewalt, mit der Präsident Macron und seine Regierung, allen voran Innenminister Darmanin, nun seit einer guten Woche erneut und sehr akut konfrontiert sind.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es in Frankreich sehr geläufig, die Polizisten auch als «Gardiens de la Paix», als Friedenshüter zu bezeichnen. Dieser im Grunde sehr schöne Begriff hat endgültig ausgedient. Übriggeblieben ist nur noch das martialische Synonym, das da lautet: «Force de l’ordre», Ordnungsmacht.