Sie liegt knapp 2500 Meter hoch wie ein Adlerhorst auf dem Grünhorngrat, dem Ostgrat des Tödi. Der Aufstieg führt über ein steiles Schneefeld, in diesem Frühjahr hat es da oben mehr Schnee als gewöhnlich. Einige Leute hatten den Eispickel dabei, als sie am Sonntagmorgen zur Grünhornhütte hochstiegen.
Es waren SAC-Mitglieder der Glarner Sektion Tödi, aber auch einige Kader vom Zentralvorstand aus Bern. Und last not least Friedli aus Braunwald, der sein Instrument durch die steilen Felsen hinauf trug. Der bärtige Alphornbläser spielte auf dem Grünhorngrat Beethovens „Freude schöner Götterfunke“, und das war in jeder Hinsicht die richtige Musik für den Moment, denn es gab Grund genug zum Jubel.
Entgegen allen Befürchtungen zeigte sich für ein kurzes Zeitfenster die Sonne und tauchte die kleine Hütte und den dahinter liegenden Biferten-Gletscher in gleissendes Licht. Eine würdige Einweihungs-Zeremonie. „Erste alpine Unterkunft des Schweizer Alpenclubs anno 1863“, steht auf der alten bronzenen Gedenktafel. In der frisch renovierten Hütte ein Tisch und eine Bank, viel mehr hat in der winzigen Behausung nicht Platz. Zwei mal drei Meter Grundriss, vier dicke Mauern: ein materielles Stück Alpinismus-Geschichte.
Am 19. April 1863, wenige Monate vor dem Bau der Grünhorn-Hütte, hatten drei Dutzend Herren den Schweizerischen Alpenclub gegründet, und zwar „in der Bahnhofsrestauration zu Olten“, wie es im Bericht heisst. Es waren „schweizerische Berg- und Gletscherfahrer aus den Kantonen Bern, Basel, Solothurn, Aargau, Luzern, Nidwalden, Zürich, Glarus und St. Gallen.“ Vertreter des liberal gesinnten Bürgertums, Regierungsräte, Doktoren und Professoren, sogar Bundesräte wurden bald einmal SAC-Mitglieder. Es galt, die unbekannten Hochgebirgsregionen zu erkunden, zu vermessen, zu erschliessen. Wissenschaftliches Interesse ging einher mit ersten Ansätzen einer Tourismus-Strategie. Die Briten waren wieder einmal schneller: Sie hatten schon vorher ihren Alpine Club gegründet, und es war symptomatisch, dass im SAC-Gründungsjahr der britische Reisebüro-Gründer Thomas Cook die erste Pauschalreise in die Schweizer Alpen organisierte.
Die Glarner Bergsteiger waren die treibende Kraft
Die Jungfrau-Gipfel war schon ein halbes Jahrhundert vorher bestiegen worden, viele alpinistische Pioniertaten hatte sich im Wallis und im Berner Oberland abgespielt. Warum beschloss man 1863, eine Hütte ausgerechnet im Kanton Glarus zu bauen? Warum nicht im Wallis oder im Berner Oberland?
Die Erklärung ist einfach: die Glarner Sektion Tödi stellte die meisten Mitglieder im neu gegründeten Club. Die Glarner Berggänger waren die Piece de résistance unter den Gründern, sie waren, wie Sektions-Chef Beat Frefel heute sagt, „als Gebirgs-Sektion die treibende Kraft unter den Flachländern aus Zürich, Bern oder Basel.“
So wird auch verständlich, dass die ersten Gipfelziele, die der neu gegründete SAC anpeilte, im Glarnerland lagen. Der Tödi und die Clariden-Schärhornkette wurden zur Erforschung freigegeben, der Sturm auf die Gipfel wurde mit militärischer Disziplin organisiert und erfolgte in quasi militärischen Formationen. Von Hauptquartieren, Detachements und Angriffen auf den Gipfel war die Rede. Die Besteigung, Vermessung, Kartografierung war das Gebot der Stunde. Es begann die Epoche der Erschliessung. Die Alpen wurden gangbar und nutzbar gemacht durch Wege, Bergbahnen und Hotels. Im Eröffnungsjahr der Jungfrau-Bahn 1912 zählte die Schweizer Hotelerie bereits 22 Millionen Übernachtungen.
Ein Prozess, der bis heute andauert. Und was damals im Licht des ungebrochenen technischen Fortschrittsglauben strahlte, ist heute zum Problem geworden. Der Schweizer Alpenclub zählt 140‘000 Mitglieder und bewirtschaftet mehr als 150 Hütten mit 9000 Schlafplätzen. Der SAC will im Einklang mit seinen Statuten den Bergsport und die Liebe zu den Bergen weiterhin fördern. Aber gleichzeitig wird er gewahr, dass es gilt, den ökologischen Schaden abwenden, den der Alpinimus verursacht, wo er zum Massentourismus wird. „Schützen und Nutzen: wir versuchen zwischen beiden Zielen einen Weg zu finden“, sagt Françoise Jaquet, die frisch gewählte Zentralpräsidentin des SAC. Zwei Dinge, die schwer unter einen Hut zu bringen sind.
Die Berge als Heimat-Mythos
1863 ging es aber nicht nur um Eroberung und Beherrschung der Natur. Vielmehr ging die Technik-Begeisterung in bemerkenswerter Dialektik einher mit einer schwärmerischen Natur-Romantik. Der Alpinist suchte und fand stets die pittoreske Landschaft, sein Blick auf die Alpen war verklärt von quasi religiöser Ergriffenheit. Die Jahrbücher des SAC vergangener Jahrzehnte sind eine unerschöpfliche Quelle von Fotografien, Gedichten und Tourenberichten, in denen die Berge als Orte der Kraft und Urwüchsigkeit gefeiert werden. Strom-Masten, Parkplätze und Staudämme hatten und haben in diesem verklärten Alpenbild keinen Platz.
Der SAC ist über alle Krisen und Irrwege hinweg bis heute ein Ort geblieben, wo der Heimat-Mythos seinen Platz hat. Die Vorstellung dass die Schweizer in ihren Ursprüngen ein Volk von Gemsjägern, Bergbauern und furchtlosen Gipfelstürmern sind, ist ein Mythos. Aber wie so viele Mythen hat auch diese Erzählung ein reales Fundament und eine Legitimität.
Die Funktion, Schweizerische Identität herzustellen, übt der SAC immer noch aus. Linke, Grüne und Rechtsbürgerliche finden sich zusammen in diesem Club der Bergler und Berglerinnen.
„Die Touren mit dem SAC gehören zu den glücklichsten Momenten meiner Kindheit,“ sagt der linke Soziologe Jean Ziegler in der Jubiläums-Sondernnummer des SAC-Heftes. Und Bundespräsident Ueli Maurer bemerkt lapidar: „Andere Länder haben Rohstoffe, wir haben unsere Berge.“
Wer hätte 1863 im Bahnhofs-Buffet von Olten geahnt, dass aus einem kleinen Verein bürgerlicher Alpen-Fans einmal ein Club mit 140‘000 Mitgliedern werden würde? Die Arbeiter, die im Sommer desselben Jahres die Grünhornhütte bauten, erhielten als Tages-Lohn 1 Pfund Fleisch, 1 Kilo Brot, 1 Flasche Wein, 1 Schoppen Cognac und 6 Franken. Und alle zusammen 2 Flaschen Sprit, 1 Kilo Zucker und Schokolade, Flanellhemden, Lippenpomade, Gamaschen und Sonnenbrillen.