Es galt, den Abgeordnetensitz des Wahlkreises im südwestfranzösischen Villeneuve-sur-Lot neu zu besetzen, den Wahlkreis des ehemaligen sozialistischen Budgetministers Cahuzac, der wegen seines Schwarzgeldkontos in der Schweiz unter Schimpf und Schande sich aus der Politik zurückziehen musste. Seit einem Jahrzehnt war dieser Wahlkreis die Hochburg von Jérôme Cahuzac, und auch der derzeitige Bürgermeister der Stadt, die für ihre getrockneten Pflaumen bekannt ist, gehört der sozialistischen Partei an.
Und dann dies: Vor einer Woche, beim ersten Wahlgang, landete der Kandidat der Sozialisten mit 24 Prozent nur auf dem dritten Platz und kam damit nicht mal in die entscheidende Stichwahl an diesem Sonntag. Dort traten der Kandidat der konservativen UMP Partei mit 28 Prozent aus dem ersten Durchgang und derjenige der Nationalen Front mit 26 Prozent gegeneinander an. Und am Ende fehlten dem gerade mal 23-jährigen Etienne Bousquet-Cassagne nur einige hundert Stimmen, um für die Nationale Front ins Parlament in Paris einziehen zu können. Und dies in einem Wahlkreis des traditionell radikalsozialistischen Südwestens, der seit Ende des 19. Jahrhunderts von streng laizistischen Republikanern und Pfaffenfressern dominiert wurde, in einer Region, die einst auch die Wahlhochburg eines Jean Jaurès gewesen war.
46,2 Prozent der Stimmen erzielte der Newcomer der Nationalen Front in der gestrigen Stichwahl und legte damit gegenüber dem ersten Wahlgang mehr als 20 Prozent zu! Stolz erklärte er hinterher, er habe zwar numerisch verloren, ideologisch aber ganz eindeutig einen Sieg davongetragen; bei den Kommunalwahlen im nächsten Jahr sollte es dann klappen.
Exakt dasselbe war vor drei Monaten erst in einem Wahkreis nördlich von Paris geschehen, wo der Kandidat der konservativen UMP gegen eine Front-National-Kandidatin sogar nur 51 Prozent erzielt hatte. Dies macht eines ganz klar deutlich: Das Prinzip der sogenannten «republikanischen Front» gegen die Kandidaten der extremen Rechten funktioniert im Frankreich des Jahres 2013 schlicht und einfach nicht mehr.
Republikanische Front
Jahzehntelang – sprich seit Mitte der 80-er Jahre – war in diesem Land mit seinen zwei Durchgängen bei Parlaments- , Departements- und Kommunalwahlen eines ganz selbstverständlich: Kommt ein Kandidat der rechtsextremen Nationalen Front in den zweiten Wahlgang, rufen die ausgeschiedenen Kandidaten der Konservativen oder der Sozialisten ihre Wähler des ersten Wahlgangs dazu auf, für die zwar gegnerische, aber eben «republikanische» Partei zu stimmen, um den Rechtsextremen den Weg zu verstellen.
Das berühmteste Beispiel stammt aus dem Jahr 2002: Jean Marie Le Pen hatte mit etwas mehr als 16 Prozent im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen den Sozialisten Jospin aus dem Rennen geworfen und kam gegen Jacques Chirac in die Stichwahl. Ergebnis der Stichwahl: Le Pen legte gerade mal 2 Prozent zu und kam auf 18, Chirac auf 82 Prozent.
Beunruhigende Meinungsumfrage
Zu diesem Klima passt eine Meinungumfrage vom Wochenende, nach der sich landesweit 26 Prozent der Franzosen vorstellen könnten, mit Sicherheit oder möglicherweise für die Nationale Front zu stimmen. Dasselbe Meinungsforschungsinstitut hatte die gleichen Fragen im Frühjahr 2012 schon einmal gestellt. Damals lagen die Werte für Marine Le Pen bei 17 Prozent – ziemlich genau das Ergebnis, das sie Ende April 2012 im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen auch erzielt hatte. Ganz besonders zu denken gibt die Tatsache, dass die Zustimmung zur Nationalen Front bei den unter 30-Jährigen und bei den Arbeitern ganz besonders gross ist.
Keine Frage: Die Nationale Front hat seit Ausbruch der Wirtschaftskrise und seitdem Marine Le Pen die Parteiführung übernommen hat, den Wind in ihren Segeln. Innerhalb von nur drei Jahren ist die Zahl ihrer Mitglieder von rund 10’000 auf 65’000 gestiegen. Und die klassischen Parteien bekommen zunehmend Angst vor den im nächsten Jahr anstehenden Kommunal- , besonders aber vor den Europawahlen, bei denen das Verhältniswahlrecht gilt und die Nationale Front traditionell starke Ergebnisse erzielt. Gleich zwei Meinungsumfragen der letzten Monate zeigten einen spektakulären Rückgang der Zustimmung der Franzosen zu Europa; sie liegt gerade noch bei 40 Prozent – fast 20 Punkte weniger als noch vor einigen Jahren. Mit ihrem strikt antieuropäischen Diskurs hat Marine Le Pen also beste Chancen, kräftig zu punkten.
Der umtriebige sozialistische Industrieminister Montebourg hatte an diesem Sonntag eine deftige Erklärung für all dies parat: Leute wie EU- Kommissionspräsident Barroso und ihre starrsinnige Austeritätspolitik seien der Grund für diese Entwicklung, ja seien geradezu der Treibstoff der Nationalen Front oder auch für einen Beppe Grillo.
Und Präsident Hollande?
Fast ein wenig hilflos erklärte Präsident Hollande am Rande eines Besuchs in Jordanien, man müsse jetzt alle Konsequenzen aus diesem Wahlergebnis im Südwesten Frankreichs ziehen. Fragt sich, welche. Sicher ist, dass die Sozialisten seit einem Jahr bei insgesamt acht Nachwahlen für einen Sitz in der Nationalversammlung acht Mal verloren haben. Plötzlich ist sogar die absolute Mehrheit der Sozialisten denkbar knapp geworden. Die Partei verfügt nur noch über 291 Sitze in der Nationalversammlung, die nötige Mehrheit liegt bei 289. Sollten sie im Lauf der nächsten Zeit auf die Stimmen ihrer Partner, der Radikalsozialisten, der Grünen oder der Kommunisten angewiesen sein, wird es für Präsident Hollande endgültig schwierig.